„Wir wissen nicht genau, wen wir nicht erreichen“

Rund ein Drittel der HIV-Neudiagnosen in Deutschland entfallen derzeit auf Migrant_innen. Das Robert Koch-Institut hat nun untersucht, wie gut diese Bevölkerungsgruppe durch HIV-Testangebote erreicht wird.

Migrant_innen sind eine epidemiologisch relevante Gruppe der HIV-Prävention. Das zeigen Studien und aktuelle Meldedaten, denen zufolge 32 % der HIV-Neudiagnosen bei Migrant_innen festgestellt wurden. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland zurzeit bei 19,7 % liegt. Über 40 % dieser HIV-Positiven haben sich vermutlich in Deutschland infiziert. Bei Migrant_innen scheint außerdem der Anteil der Spätdiagnosen und Aidsfälle hoch zu sein. Von den zwischen 2011 und 2013 an Aids Erkrankten, die sich auf heterosexuellem Weg infizierten, stammten 55 Prozent nicht aus Deutschland.

Vermeidung von HIV-Übertragungen und frühzeitige Diagnose einer HIV-Infektion sind also auch für Migrant_innen ein wichtiges Thema. Wie es um ihren Zugang zu HIV-Test- und HIV-Beratungsangeboten bestellt ist, wollten die Forscherinnen Navina Sarma und Adama Thorlie des Robert Koch-Instituts (RKI) in der siebenmonatigen MiTest-Studie ermitteln. Dafür befragten sie ausgewählte Anbieter zu deren Test- und Beratungspraxis, und in Fokusgruppendiskussionen wurde gemeinsam über Zugangsbarrieren und Ansätze zu deren Beseitigung diskutiert.

Frau Sarma, ihre gemeinsam mit Adama Thorlie durchgeführte MiTest-Studie erhebt deutschlandweit anwendbare Daten zur Nutzung von HIV/STI-Beratungs- und -Testangeboten bei Migrant_innen. Vergleichbare Untersuchungen waren bisher entweder regional oder auf bestimmte Gruppen begrenzt.

Es gibt bereits sehr gute Studien in Deutschland, die sich mit Migration und HIV-Prävention befassen. Ich möchte hier zwei Studien mit partizipativem Ansatz nennen: MiSSA untersucht Präventionsbedarfe in Bezug auf HIV, STIs und Virushepatitien bei in Deutschland lebenden Afrikaner_innen, und PaKoMi entwickelte gemeinsam mit Migrant_innen Strategien und Maßnahmen der HIV-Prävention. Mit der MiTest-Studie wollten wir einen Gesamtüberblick ohne Fokus auf bestimmte Bevölkerungsgruppen und Regionen schaffen. Um allen Menschen in Deutschland den gleichen Zugang zu Angeboten der HIV- und STI-Prävention zu ermöglichen, sind gute Daten eine wichtige Grundlage.

32 Prozent der HIV-Neudiagnosen Deutschland entfallen nach letzten Erhebungen auf Migrant_innen. Viele HIV-Infektionen werden zudem erst sehr spät festgestellt. Wie kommt es zu dieser erhöhten Vulnerabilität?

Von den HIV-Diagnosezahlen allein kann noch nicht auf eine erhöhte Vulnerabilität geschlossen werden. Wenn man bedenkt, dass viele HIV-Infektionen unentdeckt bleiben, können die hohen Diagnosezahlen auch dadurch bedingt sein, dass manche Menschen sich einfach häufiger testen lassen – oder zum Test gezwungen werden, wie es zurzeit bei Flüchtlingen in Bayern und Sachsen praktiziert wird.

 „Keine grundsätzlich erhöhte Vulnerabilität für HIV und andere STIs“

Zudem möchten wir betonen, dass Migrant_innen nicht grundsätzlich eine erhöhte Vulnerabilität für HIV und andere STIs haben. Dazu kommt es nur dann, wenn ein erhöhtes Risikoverhalten vorliegt und/oder der Zugang zur Gesundheitsversorgung eingeschränkt ist. Die Ursachen dafür können direkt mit der Migration zusammenhängen, wie durch zahlreiche internationale Studien bereits belegt wurde.

Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Wesentlich sind folgende Faktoren: Erstens die epidemiologische Situation im Herkunftsland. Subsahara-Afrika, wo laut WHO 71 % aller Menschen mit HIV leben, ist ein Beispiel dafür; 10 % der HIV-Neudiagnosen in Deutschland wurden bei Menschen aus dieser Region festgestellt. Zweitens spielt der Migrationsprozess eine Rolle, und drittens die migrationsbedingte Situation im Zielland, also in unserem Falle Deutschland. Zum Beispiel haben sich von den Menschen aus Subsahara-Afrika mehr als ein Drittel in Deutschland infiziert.

Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie sich der Migrationsprozess auswirkt?

Vor allem für Flüchtlinge kann der Migrationsprozess mit Traumata, psychischen und körperlichen Strapazen, Gewalt und rassistischen Erfahrungen verbunden sein. Menschen werden aus ihrem familiären und sozialen Kontext gelöst und sind ganz auf sich gestellt. Die Folgen können beispielsweise Bindungslosigkeit und möglicherweise wechselnde Sexualpartner oder gefährdende Abhängigkeitsstrukturen sein.

Und was führt hierzulande zu einer besonderen HIV- und STI-Gefährdung?

Die Ursachen haben sehr stark mit den Rahmenbedingungen in Deutschland und dem sozialen Umfeld der Migrant_innen zu tun. Der aufenthaltsrechtliche Status, die komplexe Rechtslage hinsichtlich der Krankenversicherung für Unionsbürger_innen und die arbeitsrechtlichen Bestimmungen sind hier wichtige Punkte. Aber auch Sprachbarrieren und mangelnde Integration können den Zugang zu Präventionsangeboten beschränken.

Hinzu kommt, dass sich Migrant_innen in einem völlig neuen Umfeld bewegen, dessen Versorgungsstrukturen sie vielleicht nicht kennen. Welche gesundheitlichen Angebote gibt es? Welche Voraussetzungen muss ich erfüllen, um sie in Anspruch nehmen zu können? All das beeinflusst die Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die HIV- und STI-Prävention.

Alle Einrichtungen, die an der Studie teilgenommen haben, bieten HIV-Tests an. Woran liegt es, dass das Angebot nicht in dem erhofften Maße genutzt wird?

Zunächst: Nicht alle an der Studie beteiligten Projekte bieten HIV-Tests an. Wir haben wir auch Einrichtungen eingeladen, die nur beratend tätig sind, ebenso Schwerpunktpraxen, die in der Regel bereits diagnostizierte Patienten sehen. Es gab aber auch Einrichtungen, die ihr HIV-Testangebot wieder eingestellt haben, weil sie es ethisch nicht vertretbar finden, bei einem positiven Befund keine Behandlung gewährleisten zu können. In Deutschland ist die HIV-Behandlung für Migrant_innen ja nur eingeschränkt gewährleistet.

Abbau von Barrien für Menschen ohne Krankenversicherung

Der Nationale AIDS-Βeirat empfiehlt daher, dass Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus sowie EU-Bürger_innen ohne Krankenversicherung einen generellen Zugang zur HIV-Beratung und -Behandlung erhalten sollen.

Welche Erkenntnisse konnten Sie zur Nutzung des Testangebots gewinnen?

Die Angebote werden in der Regel sehr gut genutzt, insbesondere von Menschen mit erhöhter Vulnerabilität für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen – wenn sie zielgruppenspezifisch sind, also beispielsweise für Männer, die Sex mit Männern haben, für Sexarbeiter_innen oder für intravenös konsumierende Drogengebraucher_innen.

Und welche Personengruppen werden bislang zu wenig erreicht?

In einer der Fokusdiskussionen fiel dazu ein treffendes Zitat: „Wir wissen nicht genau, wen wir nicht erreichen.“ Allen Beteiligten ist klar, dass bestimmte Gruppen ganz offenkundig durchs Raster fallen. In den Fokusgruppen wurde beschrieben, dass Männer aus der russischen Föderation, der Ukraine, Osteuropa, der Türkei und aus dem arabischen Raum, sowie afrikanische, asiatische und rumänische Frauen teilweise schlecht erreicht werden. Das kann aber nicht verallgemeinert werden, denn bei den Männern aus der Ukraine waren Drogenkonsumenten oder Sexarbeiter gemeint, bei den asiatischen Frauen sehr junge, als Au pair eingereiste Mädchen, die wenig Wissen zu HIV haben. Und die besagten Männer aus der Türkei und dem arabischen Raum gehörten der zweiten oder dritten Einwanderungsgeneration an, die sich zwischen zwei Kulturen bewegen und auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität sind.

Das zeigt, wie vielschichtig das Thema ist. Interessant war, dass Migrant_innen dann schwer zu erreichen sind, wenn sie sich an der Schnittstelle zweier Gruppen mit HIV-Risiko befinden. Drogenkonsumierende Sexarbeiter_innen sind eine solche Gruppe, ebenso Männer, die Sex mit Männern, aber keine schwule Identität haben, sowie Trans*menschen. Sie fühlen sich durch Angebote, die nur auf einen Aspekt wie etwa Drogenkonsum fokussieren, nicht angesprochen.

Niedrigschwellig, anonym und kultursensibel

Welche Verbesserungsmöglichen lassen sich daraus ableiten?

Wie in den Fokusgruppen-Diskussionen zu „Good Practice“-Beispielen zu sehen war, werden diejenigen Projekte besonders gut angenommen, die Angebote über HIV und STIs hinaus machen und niedrigschwellig, anonym sowie kultursensibel sind. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn einer oder mehrere dieser Punkte nicht erfüllt sind, besteht die Gefahr, dass diese Test- und Beratungsangebote nicht in Anspruch genommen werden.

In den Fokusgruppen-Diskussionen kristallisierte sich außerdem heraus: Migrant_innen müssen bei der Konzeption, der Bedarfsermittlung und der Durchführung von Projekten beteiligt sein. Wichtig ist ebenso, dass auch in den Teams der Einrichtungen selbst Migrant_innen mitarbeiten. Es gilt also, Identifikationsflächen zu schaffen und so den Zugang zu erleichtern.

Müssen die Angebote außerdem auf spezifische Lebenssituationen und den kulturellen Hintergrund angepasst werden?

Ich denke nicht, dass man alle kulturellen Hintergründe genau verstehen muss, das wäre auch gar nicht zu leisten. Die kulturelle Identität ist außerdem nur eine von vielen Identitäten, die den Zugang zu Test- und -Beratungsangeboten beeinflussen können. Wichtig ist vielmehr, Angebote zu schaffen, die dem tatsächlichen Bedarf entsprechen. Dazu müssen die jeweiligen Einrichtungen nicht nur die rechtlichen Rahmenbedingungen für Migrant_innen kennen, sondern auch deren unterschiedliche Lebenswelten und Lebenssituationen. Ein gutes Angebot holt Menschen dort ab, wo sie gerade stehen. Dafür ist ein hohes Maß an Sensibilität und Offenheit gefragt. Vorbehalte und rassistische Stereotypisierungen sind dagegen nicht akzeptabel.

Mangelnde Sensibilisierung in der Ärzteschaft

Was folgt daraus für die Einrichtungen?

Wichtig ist, die Barrieren nicht in erster Linie aufseiten der Migrant_innen zu suchen, sondern das eigene Angebot zu reflektieren und den tatsächlichen Bedarf im Einzugsbereich immer wieder neu zu überprüfen. Verbesserungsbedarf gibt es aber auch bei der Ärzteschaft. In den Diskussionen wurde abermals bestätigt, dass Haus- und Klinikärzte zu den wichtigsten Akteur_innen in Sachen HIV- und STI-Testung zählen, dafür aber noch viel zu wenig sensibilisiert sind.

Das heißt, sie ermutigen zu selten zu einem Test?

Ja, und sie erkennen unter Umständen nicht die Vulnerabilität der jeweiligen Patient_innen. Bei Männern, von denen bekannt ist, dass sie Sex mit Männern haben, wird meist in Betracht gezogen, dass eine HIV-Infektion vorliegen könnte. Anders sieht das bei Menschen aus, die nicht zu einer Gruppe mit HIV-Risiko gezählt werden.

Es gibt aber auch andere Probleme: So wurde uns von einer Zahnärztin berichtet, die alle intranvenös Drogen gebrauchenden Sexarbeiter_innen erst einmal zum HIV-Test schickt, bevor sie sie behandelt. In einem anderen berichteten Fall wusste ein Kindergarten nicht, wie er mit einem schwarzen Kind umgehen sollte, nachdem die HIV-Infektion der Mutter bekannt geworden war.

Kein Geld für Sprach- und Kulturmittler_innen

Sind die Teststellen für ihre Aufgaben entsprechend ausgerüstet?

In der Studie stellte sich heraus, dass es in den Einrichtungen sehr viel Wissen zum Thema und auch sehr viele Ideen gibt, wie man die Nutzung der Angebote erhöhen könnte. Was allerdings fehlt, ist eine kontinuierliche Finanzierung und eine gute Verteilung der Finanzmittel. In vielen Einrichtungen fehlt es etwa an Geld für Sprach- und Kulturmittler_innen, die ein fester Bestandteil eines jeden Angebots sein sollte. Aus dem gleichen Grund können gute Projekte nicht weiterbetrieben oder evaluiert werden.

Wie sollen nun die Studienerkenntnisse für andere Einrichtungen zugänglich gemacht werden?

Die Gespräche in den Fokusgruppen haben noch einmal gezeigt, wie wichtig der Erfahrungsaustausch und die Vernetzung der Akteure sind. Die Beteiligten konnten erleben, dass nicht nur sie allein, sondern auch andere auf Barrieren und Probleme stoßen, auch wenn ihre Projekte, die Zielgruppen oder die Verhältnisse von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich sind.

Zum Abschluss der Studie haben wir in einem Workshop beraten, wie die Situation verbessert werden kann. Zurzeit identifizieren wir Kommunikationskanäle zu den jeweils richtigen Ansprechpartnern, um unsere Erkenntnisse weiterzugeben: auf politischer Ebene, in die Communities hinein und in die Beratungs- und Testeinrichtungen.

Die Zwischenergebnisse der MiTest-Studie sind auf der Internetseite des Robert-Koch-Instituts abrufbar.