Lebensretter in Fesseln

Seit 2010 steigt die Zahl der Drogentoten in Deutschland wieder an. Vergangenes Jahr waren es 1.032 Fälle. Hauptursache sind Überdosen von Heroin oder Morphin. Dabei steht mit Naloxon ein Lebensretter zur Verfügung.

„Zwei Drittel der Drogentodesfälle sind auf eine Opiatüberdosis zurückzuführen“, sagt Dirk Schäffer, Drogenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe. „Das muss eigentlich nicht sein, denn mit dem Notfall-Medikament Naloxon könnte man viele Leute vor dem Drogentod retten“.

Naloxon hilft bei einer Überdosierung, etwa von Heroin, sofort gegen Atemlähmung und Bewusstlosigkeit. „Wir gut es wirkt, verdeutlicht das schottische Naloxon-Programm, wo das Medikament an Drogenkonsumenten und Beratungsstellen ausgegeben wird. Innerhalb von zwei Jahren konnten durch seinen Einsatz 500 Menschenleben gerettet werden“, so Schäffer.

Der Erfolg dieses ersten staatlichen Naloxon-Programms weltweit, das im November 2012 gestartet wurde, zeigt sich bei besonders gefährdeten Gruppen, wozu aus der Haft entlassene Drogenabhängige gehören. Eine 2014 im Auftrag der schottischen Regierung durchgeführte Studie ergab, dass vor dem Programm zwischen 2006 und 2010 vier Wochen nach der Haftentlassung durchschnittlich 40 Drogengebraucher gestorben sind – 2012 waren es nur noch 22.

Die WHO hat Naloxon in die Liste unentbehrlicher Arzneimittel aufgenommen

Schottland ist dabei kein Einzelfall, wie eine Auswertung von 21 in Deutschland, Kanada, Großbritannien und den USA durchgeführten Studien durch die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) verdeutlicht: Die Ausgabe von Naloxon an Laien führt zusammen mit Notfall-Schulungen zu einem Rückgang opiatbedingter Todesfälle. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Naloxon sogar in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen und fordert nun in einer 2014 veröffentlichten Leitlinie den Naloxon-Einsatz durch Laien. Gemeint sind damit nicht nur Drogenabhängige selbst: Mit ihrer schriftlichen Einwilligung bekommen auch Angehörige und Freunde das Medikament, um es im Notfall anwenden zu können.

Keine Fesseln also für den Lebensretter? In Deutschland leider schon, denn hier unterliegt das Medikament der Verschreibungspflicht, und für die Ärzte herrscht Rechtsunsicherheit, weil seine Anwendung nicht klar geregelt ist. Dabei ist ein Missbrauch von Naloxon ausgeschlossen, weil es nur in Notfällen wirkt. „Zwar können sich Ärzte bei der Verschreibung des Medikaments auf die Anwendung bei ‚rechtfertigendem Notstand‘ berufen, erklärt Schäffer. „Aber neun von zehn Ärzten verschreiben es trotzdem nicht. Dabei kommt es selten vor, dass ein Medikament so viele Vorteile hat wie Naloxon: Es ist preiswert, sehr effektiv, völlig ungefährlich und leicht anwendbar.“

Über die Praxis der Naloxon-Anwendung unter schwierigen Bedingungen haben wir mit der Ärztin Kerstin Dettmer gesprochen, die im Drogenkonsumraum des Berliner Vereins Fixpunkt tätig ist.

Kerstin, habt ihr bei Fixpunkt oft mit Fällen von Überdosierung zu tun?

Solche Fälle haben wir hier regelmäßig, zum Teil auch lebensbedrohliche. Nachdem es vor zwei Jahren einen Rückgang gegeben hatte, sind die dokumentierten Drogennotfälle in Konsumräumen im letzten Jahr wieder gestiegen – und zwar überproportional im Vergleich zu den Nutzerzahlen. In allen Fällen war Heroinkonsum der Grund.

Wie könnt ihr da helfen?

Das erste bei solchen Drogennotfällen ist eine Atemdepression bis hin zum Atemstillstand. Mit unseren Pflegekräften haben wir medizinisch ausgebildetes Personal, das dann professionell helfen kann. Bei Drogenkonsumräumen ist das allerdings kein Standard. Außerdem verfügen wir über Beatmungsbeutel mit Sauerstoff, sodass wir die Betroffenen beatmen können. Reicht das nicht aus, haben wir als zusätzliche Option Naloxon. Bei seiner Anwendung wird auch immer noch der Notarzt gerufen.

„Die nasale Anwendung kriegt erst recht jeder hin“

Notfälle gibt’s aber eben nicht nur in Drogenkonsumräumen. In einem Modellprojekt hat Fixpunkt deshalb Naloxon an Laien ausgegeben. Funktioniert das?

Die meisten von uns Otto-Normal-Bürgern haben zwar einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Die Frage ist aber, ob man in so einer Situation dann nicht doch überfordert ist. Naloxon zu verabreichen, war allerdings nie ein Problem: Früher wurde das Medikament in der Regel in den Muskel gespritzt, jetzt ist es auch als Nasenspray verfügbar – die nasale Anwendung kriegt erst recht jeder hin. Und die potenziellen Ersthelfer sind eben meist Drogengebraucher.

Welche Erfahrungen habt ihr in eurem Projekt insgesamt gemacht?

Durch das mobile Angebot eines Drogennotfall-Trainings in der Szene und in Kontaktläden haben wir zunächst versucht, die Zielgruppe zu erreichen. Dabei stellte sich heraus: Dass man über die Teilnahme an einem dieser Trainings Naloxon bekommt, motivierte zum Mitmachen. Das Projekt wurde auf diese Weise bald ein Selbstläufer. Ich wurde überall in der Szene erkannt und angesprochen, ich war sozusagen die Naloxon-Ärztin. Und da habe ich viele positive Rückmeldungen bekommen.

„Das Projekt wurde bald ein Selbstläufer“

Zum Beispiel?

Gerade in Deutschland gibt es starke Bedenken, dass die Leute wegen Naloxon riskanter konsumieren. Das konnten wir aber überhaupt nicht feststellen. Zu einem unserer Kurse kam beispielsweise ein Drogenkonsument, der eine Art privaten Druckraum hatte und meinte: „Immer wieder passiert was – ich will Naloxon haben.“ Nach ein paar Wochen kam er wieder und war begeistert. Er erzählte, er habe das Naloxon auf den Druckraum-Tisch gestellt und gesagt: „Wenn irgendwem komisch wird, kriegt er sofort das Medikament.“ Seither sei nichts mehr passiert. Naloxon kann nämlich zu Entzugserscheinungen führen und macht den angestrebten „Turn“ kaputt. Die Folge ist, dass Drogen eher vorsichtig konsumiert werden.

Gab’s in dem Projekt auch etwas, was nicht so gut geklappt hat?

Das gilt nur für den Notarzt-Ruf, auf den wir in den Notfalltrainings immer Wert gelegt hatten. Meist hat Naloxon eine tolle Wirkung, es kann aber auch mal nicht wirken. Spätestens dann braucht man den Notarzt. Bei Drogennotfällen an öffentlichen Orten, beispielsweise in Wall-City-Toiletten, wurde er immer gerufen. Aber wenn sich der Notfall zu Hause ereignete, war es genau andersherum: Die Angst vor der Polizei oder den Nachbarn ist hier eben besonders groß.

Aus Angst vor der Polizei wird manchmal kein Notarzt gerufen

Worin zeigte sich dann der Erfolg der Notfallkurse?

In den Schulungen hieß es immer: Wenn man den Notarzt aus irgendeinem Grund nicht rufen kann, soll der Patient wenigstens für eine Stunde beaufsichtigt werden. Und das hat gut funktioniert.

In einem Fall hatten ein Mann und eine Frau zusammen Drogen konsumiert. Der Mann hatte dann eine Überdosis und bekam Naloxon. Als er wieder zu sich kam, war soweit wieder alles in Ordnung, und er wollte gehen. Die Frau meinte aber: „Nein, du bleibst auf jeden Fall diese Nacht hier.“ Sie legte dann ihre Matratze vor die Wohnungstür, damit er nicht doch einfach abhaut. Ein Beispiel von vielen, das zeigt, dass Naloxon sehr verantwortlich eingesetzt wurde.

Was ist aus dem Modellprojekt geworden?

Unser Modellprojekt gehörte zu den ersten in Europa. Hier waren wir echt Pioniere. Die Begleitforschung hat uns positiv bewertet, wir wurden in die USA eingeladen und hatten Besuch aus Australien. International gehörten wir zu den Vorreitern. Doch ausgerechnet in Deutschland konnte man anschließend nichts daraus machen.

„Das Projekt wird nicht mehr ausreichend finanziert“

Seit Ende der Modellphase im Jahr 2002 wird das Projekt nicht mehr ausreichend finanziert. Damals hatte ich dort noch eine halbe Stelle. Und es gab es jede Woche Notfallkurse, wo die Leute auch über ihre Erfahrungen reden konnten. Wir erhielten über hundert Berichte von Drogengebrauchern, die Naloxon benutzt hatten. Als nach Ende der Modellphase nur noch ein einziger Kurs im Monat angeboten werden konnte, kamen keine Rückmeldungen mehr.

Und wie ist die Situation jetzt?

Auf kleiner Flamme führen wir das Projekt weiter: Drogengebraucher werden in Erste-Hilfe-Maßnahmen geschult, und auf Privatrezept wird ihnen Naloxon verschrieben. Wir probieren auch immer wieder etwas Neues aus: Seit diesem Jahr bieten wir Kurse in Form von 20-minütigen Kurzinterventionen in der Szene an. Der Vorteil ist, dass die Leute nicht auf einen Kurs warten müssen, sondern eben mal vorbeikommen können. Dieses Angebot wird bislang super angenommen!

Weil Naloxon verschreibungspflichtig ist, müssen wir aber immer noch einen Arzt mit ins Boot holen. Deshalb wird Naloxon seltener ausgegeben als es sinnvoll wäre. 

Ein Problem ist also die Verschreibungspflicht.

Ja, damit fängt das Drama an. Wann immer in Deutschland ein Arzt jemandem ein Medikament verschreibt, ist klar: Nur dieser und kein anderer Patient nimmt dieses Medikament ein. Verschreibt man nun einem Opiatabhängigen Naloxon, ist ebenso klar, dass er das im Notfall gar nicht selbst einnimmt. Nur Dritte können das Medikament verabreichen.

„Die rechtliche Situation ist also der größte Hemmschuh“

Aber Naloxon in Laienhände zu geben, ist mit den Krankenkassen eigentlich nicht machbar: Das für einen DAK-Patienten verschriebene Medikament könnte am Ende ja ein AOK-Patient bekommen. Auch in der Modellphase konnte ich deshalb nur Privatrezepte ausstellen, und zwar für die Opiatabhängigen selbst und nicht etwa für ihre Angehörigen. Hält sich der Arzt nicht daran, macht er sich angreifbar. Die rechtliche Situation ist also der größte Hemmschuh.

Was müsste sich ändern?

Es müsste möglich sein, den Leute ein Notfall-Kit mit Naloxon zu geben und nicht bloß ein Rezept vom Arzt. Denn ob der Opiatabhängige damit zur Apotheke geht, ist fraglich. Und selbst wenn er das tut, wird er dort keine 20 Euro für das Notfall-Kit hinlegen. Das Problem ist, dass bisher nur Apotheker, aber nicht die Ärzte Medikamente ausgeben dürfen. Aber für ein möglichst niedrigschwelliges Naloxon-Angebot wäre es notwendig, dass die Ärzte es direkt vergeben können.

Woran könnte Deutschland sich ein Beispiel nehmen?

An einigen Städten in den USA beispielsweise. Dort lautet die Devise: Alle potenziellen Ersthelfer, also auch die Polizei, erhalten Naloxon – und nicht nur Opiatabhängige. So etwas wäre natürlich auch in Deutschland super!

Das Interview führte Michael Mahler