Auf den ersten Blick ist es eventuell seltsam: Ein Psychiater für Erwachsenenpsychiatrie widmet sich dem Thema „Schicksal Kindheit“. Das sollte doch eher in den Bereich eines Kinder- und Jugendpsychiaters fallen. Doch in meinen 30 Berufsjahren begegneten mir unzählige Patienten, deren Krankheitsursache in der Kindheit zu finden ist. Eine negative Kindheit prägt ein Leben lang.
In der biografischen Anamnese frage ich standardmäßig nach der Kindheit und bei einer hohen Zahl der Diagnosen finde ich die Ursache hier. Es handelt sich um Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung. Ich bin tiefenpsychologisch ausgebildet, daher war mein Interesse geweckt. Ich wollte mehr darüber wissen und bin dem Thema auf den Grund gegangen.
Bindungstheorie
Der wichtigste Vertreter der Bindungstheorie war der Psychoanalytiker Edward John Mostyn Bowlby. In den Nachkriegsjahren hat er Waisenkinder untersucht, die in ihrer Entwicklung durch wechselnde Bezugspersonen gehemmt wurden. Menschen haben, wie alle Säugetiere, ein angeborenes Bedürfnis nach Bindung. Dazu gehört die enge körperliche Bindung, wie der Geruch, die Nähe und Zuwendung der Mutter. Wird einem Kind dies über einen längeren Zeitraum verwehrt, kann es fatale Folgen haben.
Explorationsverhalten und die sichere Basis
Die Bindungstheorie hat zwei Dimensionen. Zum einen das Explorationsverhalten und zum anderen die sichere Basis.
Das Explorationsverhalten ist im ersten bis zweiten Lebensjahr erkennbar. Hier entwickeln sich die Kinder rasant. Sie erkunden die Welt. Sie fassen alles an, nehmen vieles in den Mund und gehen mit allen Sinnen auf Entdeckungstour.
Bei der sicheren Basis geht es um die Feinfühligkeit der Bezugsperson. Diese muss nicht immer die Mutter, sondern kann auch der Vater oder die Oma sein. Das Kind muss zum Erkunden seiner Umgebung angehalten werden. Es muss Liebe, Zuwendung und Wertschätzung erfahren. Dabei ist das Loben und Bestärken essenziell. So macht es bereits einen Unterschied, wenn die Mutter bei dem ersten Versuch des Kindes, seine Schuhe selbst zu binden, einschreitet, weil es ihr zu lange dauert oder sie das Kind bestärkt, es weiter zu versuchen. Das Kind rückversichert sich bei allem, was es tut. Stellen Sie sich die eine Situation vor, in der ein Kind auf einer Wiese steht und eine Blume pflückt. Und dann eine andere Situation, in der es auf der Wiese immer weiter einem Abhang entgegen geht. Durch Mimik, Artikulation und Gestik wird die Bezugsperson dem Kind deutlich machen, welche Situation in Ordnung und welche gefährlich ist. Die Bezugsperson steuert also das Verhalten des Kindes. Sie ist die sichere Basis. Ein Problem kann dann entstehen, wenn die sichere Basis und damit die Zuwendung in den jungen Lebensjahren fehlt.
Einfluss der Kindheit auf die Entwicklung eines Menschen
Eine glückliche, harmonische Kindheit ist wie eine Impfung zur Problembewältigung. Dabei sind die ersten zwei Lebensjahre entscheidend. Hier entwickelt sich das Urvertrauen zur sicheren Basis und das Selbstbewusstsein. Ein Kind lernt, dass es immer eine Sicherheit und somit einen Weg zurück gibt. Es ist nicht allein, weil immer jemand da ist, auf den es vertrauen kann. Es lernt Beziehungsfähigkeit, lässt sich dadurch auch im späteren Leben helfen und hilft selbst. Es lernt den Kontakt in der Gesellschaft und die Kontrolle über Affekte und Emotionen.
Wenn Kinder in dieser Phase der Entwicklung jedoch Opfer von Gewalt werden, Gewalt miterleben oder über einen langen Zeitraum emotional vernachlässigt werden, kann dies alles nicht entstehen. Im Gegenteil: Extreme Angst entwickelt sich oder auch Hass. Damit ist die Gefahr sehr hoch, dass das Kind im späteren Leben selbst Gewalt ausübt oder eine psychische Erkrankung entsteht.
Aber: Eine schlechte Kindheit ist keine Garantie für eine psychische Erkrankung oder gewalttätige Ausprägungen
Negative Kindheitserfahrungen sind ein sehr großer Risikofaktor, jedoch keine Garantie dafür, dass ein Kind selbst gewalttätig wird oder psychisch erkrankt. Dagegen wirkt die genetische Ausstattung. In dieser ist zum Beispiel das Temperament verankert, was nicht verändert werden kann. Ein lebhaftes Kind hat dadurch von Anfang an eine bessere Ausgangslage und höhere Chancen, auch eine schlechte Kindheit unbeschadet für die weitere Entwicklung und das weitere Leben zu überstehen. Es kann sich besser behaupten oder von der Umgebung mehr Beachtung finden als ein zurückgezogenes Kind.
Andererseits ist jedoch auch Gewaltpotenzial vererbbar. Der genetische Hang zu einer Störung kann aber ausgeglichen werden. Ein sehr wichtiger Punkt hierbei ist die Resilienz, die Widerstandskraft. Ein Kind kann durchaus unter schlechten Bedingungen, auch finanziell schlechten Bedingungen, aufwachsen und trotzdem später erfolgreich im Beruf sein, weil es eine hohe Widerstandskraft hat. Diese kann durch das richtige Milieu gefördert werden. Dazu gehört zum Beispiel eine Mitgliedschaft in einem Sportverein oder in einem Chor. Unser Gehirn wird durch Input konstruiert. Daher ist es nur logisch, dass ein Kind, dass immer nur in der Wohnung sitzt und nur den Input des Fernsehens bekommt, sich anders entwickelt als ein Kind, welches verschiedene Impulse aus sozialen Milieus bekommt.
Schon kleine Dinge können die Entwicklung eines Kindes nachhaltig negativ beeinflussen
Patienten kommen mit Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Ängsten und Depressionen zu mir und haben in sehr vielen Fällen keine Idee, woher diese kommen können. Es ist für sie immer ein erster, sehr wichtiger Schritt, wenn wir herausfinden, dass die Ursache in der Kindheit liegt. Dabei sind solch gravierende und plakativen Dinge, wie sexueller Missbrauch oder Misshandlung jedoch eher die Ausnahme. Am häufigsten kommt die emotionale Vernachlässigung vor. Diese kann zum Beispiel durch Geschwisterrivalität oder die Bevorzugung eines Kindes durch die Eltern passieren. Auch bei depressiven Müttern kommt diese Vernachlässigung vor, da die Mutter durch ihre Erkrankung nicht anders kann. Es ist also nicht immer die große Straftat, die die Entwicklung eines Kindes negativ beeinflusst.
Die ersten 24 Monate im Leben eines Menschen sind mit die Wichtigsten
Das Gedächtniszentrum liegt im Gehirn im Hippocampus. Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr können wir uns zum ersten Mal erinnern. Die meisten von uns können sich genau an die Einschulung, den ersten Lehrer erinnern. Das liegt zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr. Eine Erinnerung an Ereignisse vor dem dritten Lebensjahr ist nicht möglich, da der Hippocampus noch nicht ausgereift ist. Das bedeutet aber nicht, dass frühere Ereignisse keinen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben. Gegenteiliges ist der Fall. So werden Erfahrungen der ersten beiden Lebensjahre, ob positiv oder negativ, über das „emotionale Gedächtnis“ im sogenannten Mandelkern tief im Gehirn unbewusst gespeichert. Sie erzeugen lebenslang so etwas wie eine „Grundstimmung“ und Erwartungshaltung des Menschen an seine Umgebung, die ebenfalls positiv oder negativ getönt sein kann. Diese Erwartungshaltung wirkt sich besonders auf unsere Beziehungsgestaltung im ganzen Leben aus.
Kinder werden durch emotionalen Stress körperlich beeinträchtigt
Bei Stress wird das Hormon Cortisol ausgeschüttet. Bei Kindern, die über einen längeren Zeitraum negative Erfahrungen gemacht haben, kann man auch sehr viel später noch nachweislich erkennen, dass der Cortisolspiegel erhöht ist. Die meisten Rezeptoren für Cortisol befinden sich im Hippocampus. Das Hormon dockt im Hippocampus an und verzögert die Entwicklung dieser wichtigen Hirnstruktur, sodass Gedächtnisfunktionen und Lernfähigkeit beeinträchtigt sein können.
So konnte durch Studien gezeigt werden, dass der Hippocampus bei Menschen mit frühen Missbrauchserfahrungen, z. B. Borderline-Störung, oft eine Volumenminderung aufweist. Diese entsteht durch die Cortisolwirkung aufgrund von Dauerstress und ist im Erwachsenenalter noch als „Stressnarbe“ mittels moderner Bildgebung (MRT) nachweisbar.
Die Gehirnarchitektur vieler Menschen mit ernsten psychischen Problemen zeigt insofern Defizite, da wichtige Zentren des Mittelhirnes, aus dem die Emotionen und Impulse aufsteigen, mit dem kontrollierenden Frontalhirn unzureichend vernetzt sind. So kann das Zusammenspiel von Verstand und Gefühlen nicht gut gelingen und es kommt z. B. zum Verlust der Impulskontrolle, zu überschießenden Reaktionen und Störungen der Affektregulation.
Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen sind die Folge
Negative Erlebnisse in der Kindheit äußern sich meist in Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Die Symptome negativer Erlebnisse in der Kindheit werden zwischen Pubertät und jungem Erwachsenenalter sichtbar. Meist zwischen 15 und 25 Jahren. Mit Drogen kommen die Kinder schon im jugendlichen Alter, mit 13 und 14 Jahren, in Berührung. Einstiegsdroge Nummer eins ist Haschisch. Persönlichkeitsstörungen, wie Borderline, sind immer Beziehungsstörungen. Die Betroffenen sehnen sich intensiv nach Nähe- Wenn sie sich ergibt, dann agieren sie wieder destruktiv bzw. autodestruktiv. Sie leiden unter ständiger Anspannung und Selbstabwertung bis hin zum Ekel vor der eigenen Person. Eine harmonische Kindheit, insbesondere ein positiver und sicherer Start ins Leben in den ersten 24 Lebensmonaten, prägt daher ein ganzes Leben.