Die Substitutionsbehandlung in Deutschland ist fast 30 Jahre alt. Vieles ist in dieser Zeit verändert worden. Doch wie steht es hier um das Arzt-Patient-Verhältnis? Von Claudia Schieren, Andreas Kramer und Marco Jesse
(Der Beitrag erschien erstmals im 2. Alternativen Drogen- und Suchtbericht. Wir danken dem Papst-Verlag wie auch den Autoren – alle drei Substitutionspatienten und Sprecher des JES Bundesverbandes – für ihr Einverständnis zur Veröffentlichung.)
Welche Rechte haben Patient_innen, genauer gesagt Substitutionspatient_innen? Der Gesetzgeber hat diese Frage mit dem Patientenrechtegesetz beantwortet, das unterschiedliche Gesetze und Urteile hierzu zusammenfasst. Dazu heißt es im Leitfaden „Patientenrechte in Deutschland“ des Bundesgesundheitsministeriums:
Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Prävention haben die Würde und Integrität des Patienten zu achten, sein Selbstbestimmungsrecht und sein Recht auf Privatheit zu respektieren. Patient und Arzt haben das gemeinsame Ziel, Krankheiten vorzubeugen, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern.Eine vertrauensvolle Verständigung zwischen Arzt und Patient ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg einer Behandlung.
Die Chancen, die eine Patienten-Arztbeziehung bietet, wenn sie als eine echte Behandlungs- und Entscheidungspartnerschaft verstanden wird, sollten deshalb konsequent genutzt werden. Dem persönlichen Gespräch zwischen Patient und Arzt kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sich dadurch Respekt, Vertrauen und Kooperation im Behandlungsverhältnis entwickeln können.
Der Patient hat Anspruch auf angemessene Aufklärung und Beratung sowie auf eine sorgfältige und qualifizierte Behandlung.“
In der Substitutionsbehandlung wird das jedoch oftmals anders gehandhabt. Auch hier treffen Ärzt_innen und Patient_innen aufeinander und schließen sogenannte Behandlungsverträge ab. Jedoch zeigen diese Verträge in der Regel überwiegend die Pflichten der Patient_innen auf. Substituierte haben allerdings – im Gegensatz zu Patient_innen in anderen Feldern wie etwa Orthopädie oder Innere Medizin – oft keine freie Arztwahl und unterschreiben Verträge, die ihnen einfach vorgelegt werden. Das ist vor allem in strukturschwachen Regionen der Fall, wo es nur wenige Ärzt_innen gibt, die in der Substitution tätig sind.
Die fehlende Wahlfreiheit spiegelt sich in Behandlungsverträgen wider
Diese fehlende Entscheidungsfreiheit spiegelt sich in manchen Verträgen wider, zum Beispiel in Hinweisen zur Gewalt gegen Praxismitarbeiter_innen, die den sofortigen Abbruch der Behandlung zur Folge haben. Gerade hier wird die Haltung vieler Ärzt_innen deutlich. Warum sollten Substitutionspatient_innen gewalttätig werden? Sind solche Übergriffe häufig oder gar die Regel, sodass ein solcher Hinweis gerechtfertigt wäre? Mitnichten! Regelungen zur Mitsprache bei der Wahl des Medikaments oder der Apotheke sucht man hingegen vergeblich.
Eine 2011 durchgeführte bundesweite Befragung von 702 Substitutionspatient_innen durch JES und die Deutsche AIDS-Hilfe ergab, dass 24 % der Befragten nicht das Medikament ihrer Wahl erhalten. In 23 % der Fälle waren nach Einschätzung der Befragten finanzielle Gründe dafür ausschlaggebend, dass man ihnen das Medikament der Wahl nicht verabreicht oder ihrer Bitte, das Medikament zu wechseln, nicht entsprochen hat.
Jeder vierte Substituierte bekommt nicht das Medikament seiner Wahl
Viele Ärzt_innen scheinen von dem Präparat, das sie verordnen, derart überzeugt zu sein, dass in 22 % der Fälle sie selbst der Grund waren, weshalb das Medikament der Wahl nicht verschrieben wurde oder ein Medikamentenwechsel unterblieb. Nach Auskunft einiger Befragten scheint es Praxen zu geben, die lediglich ein einziges Substitutionsmedikament verschreiben, obwohl in Deutschland verschiedene Präparate zur Verfügung stehen. Bedenkt man, dass das Vertrauen der Patient_innen in ihr Medikament wesentlich für einen positiven Behandlungsverlauf ist, sind diese Ergebnisse überaus kritisch zu bewerten.
Eine Schweigepflichtentbindung ist in jeder Behandlung notwendig, wenn andere Ärzt_innen oder Institutionen hinzugezogen werden müssen. In der Substitutionsbehandlung jedoch wird das oft pauschal verlangt – ohne Einschränkung der Personengruppen oder Institutionen. Hinzu kommt, dass Opiatkonsument_innen, die eine Substitutionsbehandlung beginnen möchten, eine Vielzahl von Pflichten auferlegt wird, die sie einzuhalten haben. Vor dem Hintergrund, dass es hier keine freie Arztwahl gibt und Opiatkonsument_innen gerade bei Behandlungsbeginn über wenig Kraft verfügen, ist der Wert ihrer Unterschriften unter unseriöse Behandlungsverträge anzuzweifeln.
Verstöße gegen den Datenschutz
Der Schutz persönlicher Daten sowie die Vertraulichkeit von Behandlungsergebnissen und individuellen Absprachen haben im Patientenrechtegesetz einen besonderen Stellenwert. Wer dagegen verstößt, muss mit weitreichenden Konsequenzen rechnen. In der Substitutionsbehandlung wird dem Datenschutz leider nicht so entsprochen, wie Substituierte sich das wünschen und wie es bei anderen Patient_innen selbstverständlich ist.
So erfolgt die Einnahme des Medikaments nicht im geschützten Rahmen, zum Beispiel im Arztzimmer oder einem dafür vorgesehenen Raum, sondern am sogenannten Substitutionstresen, der sich in Sicht- und Hörweite anderer Patient_innen befindet. Zudem werden dort die Ergebnisse von Urinkontrollen und bei positiven Befunden die Sanktionen mitgeteilt. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen den Datenschutz, sondern auch ein Zeichen für die Geringschätzung dieser Patientengruppe. Würden andere Patient_innen so etwas hinnehmen? Nein, weil hier elementare Regeln missachtet werden.
Auch Substituierte wünschen sich, dass man sie als mündige Patient_innen behandelt und ihnen respektvoll begegnet. Einige uns bekannte Substitutionspraxen sind darin beispielhaft.
Urinkontrollen unter Sicht oder gar per Video und die Inspektion des Mundraums nach Einnahme des Medikaments zeigen, dass auch viele Suchtmediziner_innen der Meinung sind, dass Substituierte grundsätzlich lügen und betrügen und ihnen kein Vertrauensvorschuss gewährt werden sollte. Wir von JES treten dieser Haltung seit Jahrzehnten entgegen. Sicher, wie in allen anderen Patientengruppen gibt es auch bei Drogenkonsument_innen unehrliche Menschen, die mit Lügen und Tricks versuchen, durch die Behandlung zu kommen. Für uns stellt sich dabei jedoch auch die Frage, warum sie das tun.
Kontrollen und Sanktionen zur Disziplinierung
Schaut man sich die strengen Vergaberegeln an, kann man erahnen, warum es zu Täuschungsversuchen kommt: Positive Urinkontrollen führen zur Verweigerung der Take-Home-Dosis oder ziehen gar den Abbruch der Behandlung nach sich. Und positive Atemkontrollen nach Alkoholkonsum führen dazu, dass die Dosis des Substituts drastisch reduziert wird.
In der oben genannten Befragung von JES und DAH gaben 71 % der Befragten an, dass Fehlverhalten – zum Beispiel Beigebrauch, Verspätungen, ungebührliches Verhalten oder unpassende Kleidung – mit Sanktionen bestraft wird; mehr als die Hälfte der Patient_innen (53 %) muss bei versäumten Vergabezeiten mit Sanktionen rechnen.
Vor allem bei Beigebrauch sind Sanktionen und Behandlungsabbrüche unseres Erachtens fachlich falsch und unethisch. So wirkt das Substitut ausschließlich gegen die Abhängigkeit von Opiaten, nicht aber von anderen Substanzen. Beikonsum von Alkohol, Benzodiazepinen oder Kokain wird es daher solange geben, bis endlich entsprechende Behandlungskonzepte entwickelt und in die Opiatsubstitution einbezogen werden. Nicht umsonst spricht man von „komorbidem Substanzkonsum“, der Teil der Suchterkrankung ist.
Sicher, es muss es Regeln geben, und nicht jede_r kann tun und lassen, was er_sie möchte. Aber auch Substituierte haben als Patient_innen ein Anrecht auf eine faire Behandlung und auf respektvollen Umgang. Der JES Bundesverband fordert daher im Behandlungsfeld Substitution ein Umdenken, wir nennen das mal „Behandlung 2.0“. Im Mittelpunkt steht der Auf- und Ausbau eines wirklichen Arzt-Patient-Verhältnisses. Dieses sollte geprägt sein von der gemeinsamen Abstimmung der Therapieziele, der einzusetzenden Medikamente und gegebenenfalls der erforderlichen Begleitmaßnahmen. Die Grundlage hierfür sind regelmäßige Gespräche und die Vermeidung von Maßnahmen, die Vertrauen zerstören oder sogar gegen Gesetze verstoßen (z. B. Videoüberwachung der Urinabgabe).
Substitution 2.0: Ärzte und Patienten als Partner
Die Einrichtung von Patientensprecher_innen, die an den Teamsitzungen teilnehmen, wenn es um Verbesserungsvorschläge oder Probleme geht, und die gehört werden, wenn es um die Rahmenbedingungen der Behandlung geht (Räumlichkeiten, Sauberkeit, Öffnungszeiten usw.), wäre ein neuer Weg der Patientenbeteiligung, dem unserer Ansicht nach unbedingt eine Chance gegeben werden sollte.
Wir, der JES-Bundesverband, möchten mit der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) und dem Dachverband substituierender Ärzte Deutschlands (DSÄ), also den Fachgesellschaften der Suchtmedizin, sowie dem Bundesgesundheitsministerium über diese Themen ins Gespräch kommen. Dies einzig und allein mit dem Ziel, die Potenziale der Substitution noch besser zu nutzen und die oftmals tägliche und jahrelange Zusammenarbeit von Patient_innen und Ärzt_innen zu optimieren.
Das Arzt-Patienten-Verhältnis in der Opioid-Substitutionsbehandlung