Bob leitet die niederländische Niederlassung von Gilead. Henk war eines der Gesichter der Sovaldi-Werbekampagne der Pharmafirma – bis er erfuhr, dass er für die neue Hepatitis-C-Therapie noch nicht in Frage kommt.
(Dieser Beitrag erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber und Autor Leo Schenk und Fotografin Desiree Engelage für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)
Ende letzten Jahres gab es einen großen Wirbel um das neue Medikament Sovaldi des Pharmaunternehmens Gilead, das einen Durchbruch in der Behandlung von Hepatitis C darstellt. Mit Sovaldi in Kombination mit anderen Medikamenten kann praktisch jeder von dieser Lebererkrankung geheilt werden. Die Sache hat bloß einen Haken: Nicht jeder kann derzeit die Therapie auch tatsächlich bekommen.
Henk Hageman (47), koinfiziert mit HIV und Hepatitis C, war letztes Jahr eines der Modelle der Sovaldi-Kampagne von Gilead. Doch dann schrieb er einen Brief an Bob Roosjen (45), den Leiter der niederländischen Gilead-Niederlassung, in dem er seine Mitarbeit in der Kampagne kündigte.
„Ich kann nicht mehr hinter Ihrem Slogan stehen“
Henk: Ich musste nicht lange überlegen, als man mich fragte, ob ich an der neuen Gilead-Kampagne mitwirken möchte. Ich habe HIV und Hepatitis C, und das alles ist mit viel Stigma und Scham verbunden. Ich hielt es für eine tolle Möglichkeit, beiden Krankheiten ein Gesicht zu geben und der Stigmatisierung entgegenzuwirken, um anderen Menschen mit HIV und Hepatitis C den Rücken zu stärken. Ich kann mir vorstellen, dass man Schuldgefühle hat, aber für mich ist es wichtig, Leidensgenossen mehr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu geben. Beide sind gewöhnliche Krankheiten, doch mit HIV und Hepatitis C bin ich in der Schwulenszene sicherlich eine Ausnahme. Es scheint, als müsse man sich dafür verantworten.
Das Foto-Shooting für die Kampagne fand letzten Sommer statt, und ich dachte, dass ich Anfang dieses Jahres meine Hepatitis C los sein würde. Erst später wurde mir klar, dass ich wegen des hohen Preises nicht für eine Behandlung mit diesem Mittel in Frage kam. Das war für mich der Anlass, die Mitarbeit in der Kampagne zu beenden. Ich habe einen Brief an Sie geschrieben, in dem ich meine Teilnahme bereut habe. Ich kann nicht mehr hinter Ihrem Slogan „Therapien weiterentwickeln, Leben verbessern“ stehen und begreife nicht, warum dieses Mittel so teuer sein muss.
Bob: Ich habe Ihren Brief sofort beantwortet, um Ihnen zu versichern, dass wir unser Bestes geben, um Ihnen und allen anderen, denen diese Therapie nützen kann, diese auch verfügbar zu machen. Unser Slogan ist unser Auftrag, mit dem wir uns tagtäglich beschäftigen. Wir wollen das Medikament jedem zugänglich machen, auch denjenigen, die wie Sie zwei Infektionen haben. Die Verhandlungen mit dem Gesundheitsminister, die das ermöglichen sollen, sind in vollem Gange. Für uns ist das ein Startpunkt, und nicht das Ziel.
„Es gibt Richtlinien, wer wann behandelt werden muss“
Es gibt Richtlinien, wer wann behandelt werden muss. Die stammen nicht von Gilead, sondern wurden von Ärzteverbänden aufgestellt und bilden die Grundlage für die Verhandlungen mit dem Minister und für Gespräche mit Vereinigungen wie etwa den Patientenverbänden.
Henk: Das leuchtet mir ein. Aber sollte nicht zuerst der Preis festgelegt werden? Für mich ändert sich vorläufig gar nichts. Für mich muss erst gesichert sein, dass ich das Mittel bekomme. Gilead entwickelt so einiges an tollen Medikamente, die bei 90 % der Fälle eine Heilung versprechen. Natürlich hat das seinen Preis, aber warum muss das Mittel derart teuer sein, dass es nur für eine bestimmte Gruppe verfügbar ist? Das ist für mich nicht stimmig.
Bob: Bei der Festlegung des Preises für jedes neue Arzneimittel orientiert man sich an den Kosten, die für seine Entwicklung entstanden sind, aber auch an den Kosten künftiger Heilmittel. Außerdem wird der gesellschaftliche Nutzen eines Medikaments einberechnet. Dabei wird geschaut, welche Kosten eingespart werden können. Sovaldi ist ein innovatives Medikament, weil es viele Patienten heilen kann. Das war bei bisherigen Mitteln nicht der Fall. Früher wurden Patienten zwei- bis dreimal behandelt, und das ohne Erfolg. Die Kosten für eventuelle Lebertransplantationen oder für die Behandlung von Nebenwirkungen entfallen hier. Deshalb ist Sovaldi kosteneffizient und der Preis gerechtfertigt.
„Deshalb ist Sovaldi kosteneffizient und der Preis gerechtfertigt“
Wenn ein neues Medikament in Europa registriert und als sicher befunden wurde, wird es bei der Niederländischen Krankenversicherungsbehörde eingereicht. Dort wird beurteilt, ob das Mittel in das nationale Vergütungssystem für Heilmittel aufgenommen werden kann. Die Behörde übermittelt ihre Empfehlung dem Minister, der dann entscheidet, ob das Medikament in das Vergütungssystem kommt oder nicht. Wichtig für die Vergütung ist, dass bekannt ist, um wie viele Patienten es sich handelt.
Henk: Darüber bestand zunächst Unklarheit, soweit ich weiß. Die eine Partei meinte, es gebe 100.000 Menschen mit Hepatitis C, eine andere wiederum glaubte, es seien 60.000.
Bob: Das stimmt. Wegen der so unterschiedlichen Zahlen war sich der Minister nicht sicher, wie viele Menschen behandelt werden müssen. Diese Lektion haben wir gelernt: Nur mit Einigkeit und den richtigen Fakten kommen wir mit den Behörden ins Gespräch. Das Ministerium hat erst mit uns, dann mit den Ärzteverbänden und schließlich mit den Patientenverbänden gesprochen. Es war nicht klar, wie viele Betroffene es gab und wer Vorrang haben sollte. Letztendlich wurde beschlossen, die Sache auf herkömmliche Weise anzugehen.
Henk: Ist inzwischen klar, um wie viele Patienten es sich handelt?
Bob: In den meisten aktuellen Veröffentlichungen wird die Zahl der Menschen mit Hepatitis C auf etwa 20.000 geschätzt, davon sind rund 12.000 Fälle bekannt. Gemäß den Richtlinien der Ärzteverbände wird Patienten mit schweren Leberschäden zuerst geholfen. Doch es gibt auch andere Gruppen, die schnell behandelt werden müssen, so etwa Menschen mit HIV und Hepatitis C. Von der Stichting HIV Monitoring [Anm.d.Red.: Stiftung für HIV-Überwachung] wissen wir, dass 907 Personen beide Infektionen haben. Davon kommen nach den aktuellen Vergütungsregelungen bereits 311 für eine Behandlung in Frage. Nun gilt es, auch den restlichen 600 Menschen eine Behandlung zu ermöglichen.“
„Ich möchte aus diesem Elend heraus“
Henk: Die Zahlen machen das Ganze ziemlich abstrakt. Dahinter stecken natürlich Menschen. Ich bin einer dieser 600 Menschen, und für mich kann die neue Therapie gar nicht schnell genug kommen. Ich bin derzeit nur zu 40 % arbeitsfähig und möchte wieder ganz dazugehören. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben alle vier Jahre stillsteht. Ich möchte aus diesem Elend heraus.
Bob: Da haben Sie Recht. Das wurde den beteiligten Parteien nicht ausreichend verdeutlicht. Nochmal zurück zu den Menschen: Wie steht es um ihre Lebensenergie?
Henk: Das ist völlig unvorhersehbar. Es gibt Zeiten, in denen es mir prima geht, dann gibt es aber auch Zeiten, in denen ich müde und lustlos bin. Das Ganze hat enormen Einfluss auf die Psyche. Jedes Mal muss man wieder aus einem Tal herauskriechen, und das wird mit jedem Mal mühseliger.
Bob: Sie haben seit 2011 Hepatitis C und wurden mit der alten Therapiekombination Peginterferon plus Ribavirin behandelt. Wie ist das gelaufen?
„Ich nahm Antidepressiva und wurde von einem Psychiater unterstützt“
Henk: Ich kann mich gut erinnern, wie mich mein Internist zu Beginn der Therapie fragte, ob er mir wegen der möglichen Nebenwirkungen Antidepressiva verschreiben solle. Ich bin von Haus aus positiv eingestellt und wies seinen Vorschlag ab. Ich wohnte damals bei einem Freund, und das war auch gut, denn sechs Wochen nach Beginn der Behandlung schlug sie mir arg aufs Gemüt. Mein Freund sagte: Du musst jetzt zum Internisten, so geht es einfach nicht weiter. Dann nahm ich Antidepressiva und wurde von einem Psychiater unterstützt.
Bob: Haben Sie die Therapie abgeschlossen?
Henk: Ja, aber sie hat nichts gebracht. Nach ein paar Wochen sollte ich wieder in Ordnung sein, aber ich war ein Grenzfall. Da lag es an mir, ob ich das Ganze weitermache. Ich habe durchgehalten und irgendwann war das Virus auch verschwunden. Aber als ich die Therapie beendet hatte, war das Virus bei der ersten Nachuntersuchung wieder da – es hatte sich versteckt. Die Therapie hat mich letztendlich noch viel kranker gemacht. Hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich sie nicht begonnen.
Bob: Sie wollten das Virus los sein, weil es sie körperlich und seelisch belastete, aber auch wegen des Stigmas. Davon haben Sie in Ihrem Brief berichtet.
Henk: Zuerst hatte ich lediglich HIV, woran ich mich gewöhnen musste. Dann bekam ich ein weiteres Virus. Schon die HIV-Diagnose fand ich nicht schön, aber Hepatitis C war wohl das Letzte, was ich noch dazuhaben wollte. Vor meiner Hepatitis C hatte ich wie viele andere Schwule Angst vor Sex mit jemandem, der Hepatitis C hat. Aber eine doppelte Stigmatisierung hätte ich nie erwartet. Mit HIV und HCV bin ich in der Schwulenszene sicherlich kein Wunschpartner. Es herrscht noch so viel Unwissenheit, es muss noch viel mehr aufgeklärt werden. Die Behörden haben ein negatives Zeichen gesetzt, als sie entschieden, die Hepatitis C-Tests des kommunalen Gesundheitsdiensts nicht mehr zu erstatten.
„Mit HIV und HCV bin ich sicherlich kein Wunschpartner“
Bob: Es herrschen noch viele Vorurteile gegenüber Schwulen mit Hepatitis C. Das Ministerium fragte sich: Wenn wir Schwule behandeln, wie hoch ist dann das Risiko, dass sie sich erneut infizieren? Der Niederländische HIV-Verband möchte diesem Vorurteil entgegenwirken, auch mit Zahlen: 57 % der 907 Menschen mit HIV und Hepatitis C sind schwul. Von diesen 57 % stecken sich schätzungsweise 15–20 % erneut mit HCV an. Es geht also nur um 100 Männer.
Derzeit wird einzelnen Menschen mit Hepatitis C geholfen. Zu neuen Hepatitis-C-Infektionen kommt es vorwiegend bei HIV-positiven Homosexuellen und bei Migranten. Wir versuchen dem Ministerium deutlich zu machen, dass Hepatitis C so gut wie ausgerottet werden kann, wenn wir jeden in diesen beiden Gruppen behandeln.
Henk: Dann muss der Preis dafür verringert werden. Sind Sie dazu bereit?
Bob: Wenn ein Plan für die Vorgehensweise vorliegt, sind wir sicherlich zu weiteren Verhandlungen bereit. Ein koordinierter landesweiter Plan, der vorsieht, dass die die richtigen Gruppen getestet, HCV-positiv Getestete behandelt und auf Hepatitis C spezialisierte Behandlungszentren eingerichtet werden. Derzeit wird Einzelnen geholfen, doch mit einem Strategieplan könnten wir alle Patienten heilen. In Ägypten gibt es viele Menschen mit Hepatitis C. Dort hat man der Behandlung dieser Krankheit Priorität eingeräumt und einen landesweiten Strategieplan entwickelt und umgesetzt. Gilead hat in dieser Zusammenarbeit viel bewirken können und einen sehr niedrigen Preis ermöglicht.
„Mit einem landesweiten Strategieplan könnten wir alle Patienten heilen“
Henk: Und hier?
Bob: Der Gesundheitsminister hat das Niederländische Institut für Gesundheit und Umwelt beauftragt, einen solchen Strategieplan zu erstellen. Der Gesundheitsrat befasst sich derzeit mit der Frage, ob besonders betroffene Gruppen wie beispielsweise Migranten der ersten Generation oder schwule Männer mit HIV auf Hepatitis C testet werden sollen.
Henk: Hat Sie die öffentlichen Empörung über den Preis erschreckt?
Bob: Es hat uns überrascht. Die Menschen hat empört, dass nicht jedem sofort geholfen werden kann. „Das liegt wohl am Preis!“, heißt es da. Wie gesagt: Der Preis ist sicherlich ein Grund, aber nicht der einzige. Wir befinden uns momentan in der Startphase der Verhandlungen, nicht am Ende. Die Menschen denken oft: So eine Pille herzustellen, wird doch nicht so viel kosten. Wir rechtfertigen den Preis mit der Forschung, die wir nicht nur für dieses eine Medikament, sondern auch für zukünftige Hepatitis-C-Medikamente unternommen haben. Auch der Minister hat erklärt, dass das Mittel einen Durchbruch darstellt und einen hohen Nutzen für die Gesundheit verspricht.
Henk: Aber sind solche Preise für neue, innovative Medikamente tragbar? Dann wird der Versorgungsstaat völlig unbezahlbar.
Bob: Die Lehre aus diesem Fall lautet, dass wir uns einen guten Überblick darüber verschaffen müssen, wie groß das Problem eines bestimmten Krankheitsbildes ist. Und dass wir in Richtlinien festlegen, wer vorrangig zu behandeln ist. Sie sagen, auch Sie möchten behandelt werden und eine Chance auf Heilung haben. Daran arbeiten wir alle so gut es nur geht.