Ich bin manchmal ein bisschen ungeschickt, stöße Gläser um, bekleckere meine Bluse beim Essen. Mein Sohn gab mir dazu den wertvollen Hinweis: „Man soll die Bluse nicht vor dem Nachtisch loben!“ In meiner Praxis habe ich natürlich eine Ersatzbluse. Diese Fehlleistungen sind mir immer ein bisschen peinlich, obwohl ich inzwischen gelernt habe, großzügiger mit mir zu sein. Vor Jahren war es noch so: Ich zerbrach ein Glas – und schon erhob sich eine innere Stimme: „Kannst du nicht besser aufpassen. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Musst du immer alles kaputtmachen?“ Und so weiter, ein fast endloser Monolog, manchmal mit Beschimpfungen. Diese Stimme nenne ich den Inneren Kritiker – mein Buch zeigt, wie wir uns ihn zum Verbündeten machen können.
Wer spricht denn da?
Als ich anfing, mit mir selbst psychotherapeutisch zu arbeiten, stieß ich schnell auf die Person hinter dieser Stimme. Es war meine Mutter, meine unzufriedene, häufig nörgelnde Mutter, die sich ständig kritisch und negativ in mein Leben einmischte. Ich lernte, dieser Stimme aus eigener Kraft etwas entgegenzusetzen. Als erstes musste ich die Stimme als meine eigene akzeptieren. Ich hatte die Aufgabe übernommen (verinnerlicht), mich zu kritisieren. Das tat ich auch noch, als meine Mutter längst damit aufgehört hat. Darin lag die Chance: Wenn es meine Stimme war, hatte ich auch die Entscheidungsmöglichkeit, andere Worte zu sagen! Ich konnte damit aufhören, meinen Eltern die Schuld an allem zu geben, was in meinem Leben nicht so gut war und lernte, selbst die Verantwortung für meine Gefühle zu übernehmen – ein langer und schmerzhafter Prozess!
Und heute?
Wenn ich heute Scherben verursache, spüre ich kurz den Impuls, mit mir zu „schimpfen“. Dann atme ich kurz durch – und sage mir: „Es ist doch nur ein Glas. Komm, wir lesen die Scherben auf.“ Und wenn das Glas einer anderen Person gehört, ersetze ich es. So einfach ist das! – Einfach ja, aber nicht leicht. Man kann sich selbst eine gute Mutter sein. Oft sind die kritischen (ver-)urteilenden Stimmen aber sehr laut und es braucht eine gezielte und geduldige Arbeit mit ihnen.
Warum schreibe ich ein Buch darüber?
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil es so, wie es mir ergangen ist, vielen Menschen immer noch ergeht. Als Psychotherapeutin in einer ambulanten Praxis kommen natürlich Menschen mit Problemen zu mir. Ich begegne traurigen, depressiven und ängstlichen Menschen, Menschen mit Schwierigkeiten im sozialen Kontakt und solchen mit Gefühlen von Minderwertigkeit oder Insuffizienz. Diese Menschen sind in auffälligem Maß überkritisch – am meisten mit sich selbst. Da wird viel gewertet und besonders entwertet.
Wir sind einfach nie mit dem zufrieden, was ist, weil wir unserem inneren Kritiker, Richter oder Zensor lauschen, der uns sagt, was anders oder besser sein müsste, was falsch an uns ist oder als „nicht gut genug“ erscheint. Und immer wieder höre ich den Satz, dass man doch Kritik vertragen müsse. Die Steigerung dieses Anspruches lautet: „Man muss die Wahrheit vertragen können.“
Gerade auf diesen Punkt gehe ich mit Freuden ein und behaupte: „Es geht auch ganz ohne Kritik!“ Inzwischen wissen (fast) alle Pädagogen, dass Kritik nicht gerade motivierend für das Lernen ist. Sie hilft auch nicht bei der Entwicklung der Persönlichkeit oder der Lösung von Problemen. In meinem Buch „Den Inneren Kritiker zähmen“ schreibe ich über den Umgang mit den kritischen Stimmen von Innen und Außen. Denn: Ohne zu be- und verurteilen wird unser Leben – und damit auch unsere Beziehungen – ganz von alleine ruhiger und konfliktärmer.
Wie soll das gehen?
Den Inneren Kritiker zu zähmen bedeutet konkret:
• Wir erforschen, wer aus ihm spricht und geben ihm ein Gesicht.
• Wir beobachten ihn und fragen nach seinen Intentionen.
• Wir versöhnen uns mit ihm und bieten ihm an, uns unterstützen zu dürfen.
Das Buch zeigt dazu den Weg, mit Geschichten, theoretischen Erklärungen und ganz vielen Übungen. Es zeigt den Weg zu mehr innerer Ruhe und Gelassenheit, zu weniger Kritik und Ansprüchen.
Kritik relativieren
Manchmal reicht es als Übung (und Selbstberuhigung) schon, wenn wir uns die Zeit nehmen, die Kritik mit den Augen eines unbeteiligten Beobachters genau zu betrachten. In der Psychotherapie sprechen wir hier von einer Realitätsprüfung. Ich gebe hier eine Übung aus dem Buch in gekürzter Form wieder:
Es geht dabei um bestimmte Wörter, mit denen Menschen Eigenschaften oder Handlungsweisen generell an sich oder anderen ablehnen oder mit denen sie generelle Ablehnung empfangen. Diese Wörter sind unter anderem immer und nie, überhaupt nicht, keine/r, alle, jede/r usw. und (wirklich) immer drücken sie eine harte Kritik aus.
Die Übung besteht nun darin, dass Sie zwei Spalten auf einem Blatt anlegen. Schreiben Sie auf die linke Seite eine Reihe von Kritiksätzen, die Sie aus Ihrem Leben kennen. Dazu gehören die Sätze, die Sie von außen empfangen ebenso wie die Kritik des Inneren Kritikers. Die Sätze können aus Ihrer frühen Vergangenheit sein und aus Ihrer Gegenwart, das spielt keine Rolle. Zehn Stück sollten mindestens zusammenkommen.
Beispiele:
Immer singst du falsch.
Nie hörst du mir zu.
Du bist zu laut.
Du hast gar keine Zeit für mich.
Schreiben Sie nun in die rechte Spalte zu jeder dieser Kritiken eine Relativierung. Beginnen Sie jeden Satz mit einem Adverb (manchmal, selten, gelegentlich, vielleicht etc.), das die Aussage relativiert. Probieren Sie ein bisschen herum, bis Ihnen der neue Satz wahr und akzeptabel erscheint. Dann klingen die Sätze aus so:
Manchmal treffe ich nicht (sofort) den richtigen Ton.
Gelegentlich höre ich nicht zu, wenn ich mit mir wichtigen Dingen beschäftigt bin.
Ich rede oft laut – ich komme einfach aus einer lärmenden Familie.
Vorübergehend habe ich wirklich wenig Zeit für dich, weil ich gerade damit beschäftigt bin, ein Buch zu schreiben (mich auf eine Prüfung, ein Gespräch, ein Fest…) vorzubereiten.
Anmerkung: Sie stellen wahrscheinlich fest, dass die schreckliche Person, der all diese Vorwürfe gelten, ein ganz normaler Mensch ist. Ich habe Erklärungen zu den Relativierungen hinzugefügt. Diese zeigen dem Kritiker, dass Sie Gründe für Ihr Verhalten haben und dass Sie die Vorwürfe ernst nehmen. Ihre Relativierung ist gleichzeitig auch eine Abgrenzung: So ist es nun auch wieder nicht.
Und ein Ratgeber hilft wirklich?
Die Antwort darauf ist eindeutig: Nein, tut er nicht! Ein Ratgeber, der das von sich behauptet, ist unlauter, beziehungsweise sein Autor ist es. Warum also schreibe ich einen Ratgeber, warum wird er gekauft und gelesen? Ist das dann sinnvoll? Ja, ist es. Und das ist kein Widerspruch. In einem Ratgeber gibt jemand sein Wissen und seine Erfahrungen weiter, seine Ideen zur Bewältigung verschiedener Konflikte oder Probleme. Er beschreibt Strategien, Techniken, gibt auch Erklärungen darüber, wie ein Konflikt zustande kommen kann, weil schon das Verständnis oft eine Erleichterung bringen kann. So bietet der Ratgeber gleichsam eine Kiste voller mentaler Schätze, aus der Sie aussuchen können, was Ihnen für sich selbst angemessen, nutzbar und Erfolg versprechend erscheint. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: Ein Ratgeber hilft nicht, wenn Sie es nicht selbst tun. Und die oben beschriebene Übung zeigt, dass es gar nicht so schwer ist und dass der Erfolg sich schnell einstellt.