Im ICD-Schlüssel der Weltgesundheitsorganisation werden Trans* als psychisch krank hingestellt. Derzeit wird an einer Neufassung gearbeitet, die den Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen auch ohne diese Diagnose sicherstellen soll. Von Leo Yannick Wild
„Es ist ein Mädchen!“ „Es ist ein Junge!“ So hört man es oft kurz nach einer Geburt. Aber was, wenn der Mensch, der damit gemeint ist, es irgendwann besser weiß, sei es als Kind, Jugendliche*r oder Erwachsene*r? Was, wenn das vermeintliche Geschlecht nicht dem tatsächlichen entspricht – und dementsprechend der Vorname, vielleicht auch die Kleidung, Erziehungsweisen und das Spielzeug falsch gewählt wurden. In den Medien ist in diesem Zusammenhang häufig von einer „Geschlechtsumwandlung“ die Rede, als sei hier Harry Potter mit dem Zauberstab am Werk.
Dabei stellt sich der Vorgang doch anders dar: Wenn man merkt, dass das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht nicht dem tatsächlichen entspricht, „wandelt“ man es nicht etwa „um“, sondern gleicht es so weit an, wie es individuell möglich und gewollt ist: sozial, rechtlich, medizinisch. Nach außen – der Familie, dem Freundeskreis, dem sozialen Umfeld – wird sichtbar gemacht, womit man sich innerlich schon lange auseinandergesetzt hat.
Wie das eigene Geschlecht beweisen?
Das ist ein steiniger Weg: Die Schritte zur Geschlechtsangleichung, die trans* Menschen gehen müssen, sind gespickt mit diskriminierenden Hürden – in Deutschland genauso wie in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern.
Denn wie kann das Geschlecht „bewiesen“ werden, wenn nicht der eigene Körper als Argument dienen kann? „Erklären Sie Ihr Geschlecht, ohne auf Ihren Körper Bezug zu nehmen“, werden Therapeut*innen aufgefordert, die an Trainings zur besseren medizinischen Versorgung von trans* Menschen teilnehmen, die zum Beispiel von Vereinen wie TransInterQueer oder dem Projekt Queer Leben durchgeführt werden.
Probieren Sie, liebe*r Leser*in, es selbst einmal aus: Versuchen Sie, Ihr Wissen um Ihr Geschlecht auszudrücken, ohne mit dem Körper zu argumentieren.
Sehen Sie. Gar nicht so einfach.
Statt trans* Menschen als Expert*innen des eigenen Geschlechts anzuerkennen, muss immer noch die Diagnose „psychisch krank“ gestellt werden. Genauer gesagt handele es sich hierbei um eine „Störung der Geschlechtsidentität“. So ist es in der ICD-10 festgeschrieben, der aktuellen „Internationalen statistischen Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Unter Punkt F.64.0 ist dort „Transsexualismus“ aufgeführt.
Ohne Diagnose einer psychischen Störung kein Anspruch auf Leistungen
Für trans* Menschen steht und fällt mit dieser Diagnose, ob medizinische Leistungen zur Geschlechtsangleichung von den Krankenkassen übernommen werden: zum Beispiel Hormontherapie, Brust- und genitalangleichende Operationen, Epilation und so weiter. Und das, obwohl die klinisch-diagnostischen Kriterien nicht im Einklang mit den internationalen Menschenrechten stehen, wie trans* Organisationen kritisieren. Hinzu kommt, dass die Diagnosekriterien sehr eng gefasst sind und damit nicht alle Menschen, die geschlechtsangleichende Maßnahmen benötigen, Zugang dazu haben.
Gegen das Stigma einer krankhaften Störung laufen trans* Organisationen und Unterstützer*innen international Sturm, darunter zum Beispiel der europäische Verband Transgender Europe oder auch TransInterQueer e. V. „Entpsychopathologisierung“ lautet ihr Ziel: Trans* Menschen sollen nicht mehr als psychisch krank hingestellt werden. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin ist die Änderung der ICD-10.
„Alltagstest“ ist Einfallstor für Diskriminierungen
In Deutschland werden die „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“ herangezogen, um die Diagnose F.64.0 stellen zu können. Diese bauen weitere Hürden auf: Trans* Menschen müssen, so sehen es die Begutachtungsrichtlinien vor, zunächst sechs Monate therapeutisch begleitet werden, bevor es eine Indikation zur Hormonbehandlung geben kann. Erst weitere zwölf Monate der Begleittherapie später werden geschlechtsangleichende Operationen bewilligt. Währenddessen ist bereits ein sogenannter „Alltagstest“ zu durchlaufen, sprich: Man soll im täglichen Leben ausprobieren, wie es ist, im tatsächlichen Geschlecht zu leben.
Doch ohne Hormone, mit womöglich hoher Stimme und als „weiblich“ interpretierten Körperpartien am Arbeitsplatz erscheinen und den Kolleg*innen verkünden „Ich mache den Alltagstest, bitte führen Sie mich nicht mehr als Frau Susanne Meier, sondern als Herrn Tim Meier“, um erst Monate später Hormontherapie und weitere medizinische Maßnahmen verschrieben zu bekommen, ist für viele trans* Menschen eine hohe emotionale Belastung und ein Garant dafür, diskriminiert und lächerlich gemacht zu werden – auch wenn europäische Antidiskriminierungsrichtlinien Tim Meier Recht geben.
Der Protest und die Aktivitäten für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung für Trans* werden in der weltweiten Kampagne „STP – Stop Trans Pathologization“ gebündelt. Seit 2009 ruft sie jedes Jahr im Oktober zu einem internationalen Aktionstag auf, dieses Jahr am 24.10.
Internationaler Protest mit der Kampagne „Stop Trans Pathologization“
2014 fanden mehr als 90 Aktionen in 45 Städten in verschiedenen Weltregionen statt. Mehr als 390 Gruppen, Organisationen und Netzwerke in Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika, Nordamerika und Ozeanien unterstützen das Anliegen.
Und der weltweite Einsatz scheint sich heute schon gelohnt zu haben – zwei Jahre bevor über den Nachfolger der ICD-10, die 11. Revision des Diagnose-Schlüssels der WHO, abgestimmt wird: In einer Beta-Version der für 2017 vorgesehenen ICD-11 soll Trans*-Sein unter einer neuen Sparte, „Conditions related to sexual health“ („Bedingungen im Zusammenhang mit sexueller Gesundheit“), als „Geschlechtsinkongruenz“ behandelt werden.
Jugendlichen und erwachsenen trans* Menschen bliebe damit der Stempel „psychische Störung“ erspart, trotzdem wäre weiterhin gewährleistet, dass Krankenkassen die Kosten der (überlebens-)wichtigen medizinischen Leistungen übernehmen. Vergleichbar ist so eine Einordnung zum Beispiel mit Schwangerschaften: auch die haben keinen „Krankheitswert“, erfordern jedoch medizinische Betreuung.
Doch der Kampf für ein respektvolles Prozedere ist für trans* Organisationen damit noch nicht zu Ende. Als unzulässig kritisieren sie, wie auch nach der künftigen ICD-11 mit trans* Kindern umgegangen wird, für die die Diagnose nämlich Voraussetzung bleiben soll. Damit sind diese weiterhin dem Risiko ausgesetzt, als „psychisch krank“ stigmatisiert und behandelt zu werden.
Dabei hat es die Parlamentarische Versammlung des Europarats im April dieses Jahres in ihrer als historisch gefeierten Resolution klar und deutlich gefordert: Die Mitgliedsstaaten haben „sicherzustellen, dass Transgender, einschließlich Kinder, nicht als psychisch krank bezeichnet werden“.
Weiterführende Informationen:
ABC zu trans* (u.a.) Begrifflichkeiten (PDF)
„Geschlechtsdysphorisch? Geschlechtsinkongruent? Warten auf die Entpsychopathologisierung von Trans* im ICD-11 und was das DSM-5 damit zu tun“, von Arn Sauer (2014, PDF)
Leo Yannick Wild ist Journalist und Politikwissenschaftler und arbeitet bei TransInterQueer e.V. und der Schwulenberatung Berlin.