Ein Bericht von Frau Dr. Julia Isselstein über ihren Einsatz in Chittagong/Bangladesch
Ich habe im Juli und August 2015 sieben Wochen im Projekt in Chittagong, der zweitgrößten Stadt von Bangladesch, im Südosten am Golf von Bengalen gelegen, verbracht. Wir arbeiten hier immer mit zwei deutschen Ärzten im Auftrag von German Doctors im sogenannten „Medical Center for the poorest of the poor“, einer Art Ambulanz, die kostenlose medizinische Behandlung für die Ärmsten der Armen anbietet.
Die Patienten werden registriert und ihre Bedürftigkeit vom lokalen Personal geprüft. Wenn diese bestätigt ist, bekommen sie eine Krankenkarte (entspricht ihrer Akte), für die sie ein kleines Entgelt bezahlen müssen, damit sie diese wertschätzen und auch zu jedem Besuch wieder mitbringen. Die Erkennung von moderat und schwer unterernährten Kindern ist ein wesentlicher Aspekt unserer Arbeit, diese bekommen besondere Aufmerksamkeit und werden an entsprechende Ernährungsprogramme angebunden, bei denen Mahlzeiten für die Kinder vorgehalten werden und die Mütter bezüglich der Zubereitung einfacher aber nahrungsreicher Mahlzeiten angeleitet werden. Zudem achten wir auf die Durchführung aller Impfungen, substituieren Vitamin A und Eisen nach den Empfehlungen der WHO sowie achten auf die halbjährliche Entwurmung aller Patienten. Schwangere erhalten bei uns ein Vorsorgeprogramm und werden motiviert zur Entbindung in ein Krankenhaus zu gehen.
Von den durchschnittlich täglich etwa 100 Patienten in unserer Ambulanz leiden die meisten unter Husten, Schnupfen, „Nachtfieber“, Magenschmerz und Ganzkörperschmerz. Aber es sind eben doch immer wieder richtig kranke Patienten darunter, vor allem Kinder (Pneumonien, Bronchitis, schwere Diarrhö), die es aufmerksam herauszufischen gilt.
Außerdem kommt der Aufklärung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. So kam an einem Tag eine Mutter mit ihrem durch Durchfall schon schwer dehydrierten ca. 6 Monate alten Baby zu uns, das lethargisch in ihrem Arm lag und schon eine stark eingesunkene Fontanelle aufwies. Wir fürchteten, es ins Krankenhaus schicken zu müssen, machten aber zunächst einen von unserer Krankenschwester angeleiteten Trinkversuch mit oraler Rehydratationslösung (hierbei wird dem Baby mit einer Pipette langsam aber kontinuierlich Flüssigkeit eingeflößt). Zu unserer freudigen Überraschung trank das Baby fast schon gierig, auch das Stillen klappte gut. Wir besprachen also einen ambulanten Therapieversuch, gaben der Mutter ausreichend ORS und Zink-Sirup mit und besprachen eine Kontrolle am folgenden Morgen. Bei der Wiedervorstellung zeigte sich ein munteres Kind, die Fontanelle regelrecht. Die Mutter aber beklagte nur, dass ja der Durchfall noch gar nicht besser geworden sei. Es stellte sich heraus, dass ihr Kind offenbar deshalb zuvor so dehydriert war, da sie es nicht mehr gestillt hatte. Denn je mehr sie stillte, desto mehr Durchfall hatte das Baby und um dieses Symptom zu verringern hatte sie eben nichts mehr gegeben. Hierbei wurde mir noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie gering die medizinische Allgemeinbildung ist. Und wie überlebenswichtig die Erklärung von bei uns allgemein bekannten einfachen Dingen sein kann.
Natürlich gab es auch einiges an Wunden, Verletzungen und auch Frakturen durch Unfälle mit Rikschas und Minitaxen (der Verkehr ist hier wirklich ein absolutes Abenteuer) zu versorgen sowie kleinere und größere Abszesse zu entlasten. Ein Patient hatte sich zur Zeit der Überschwemmungen eine Verletzung am Fußrücken zugezogen und war damit eine Woche lang nicht zum Arzt gegangen. Bei der Vorstellung zeigte sich eine handtellergroße Nekrosezone mit umgebender schwerer Entzündung bis auf den Unterschenkel. Wir schickten ihn zur Behandlung ins Krankenhaus. Dort wurde das tote Gewebe abgetragen und die Wunde großzügig gereinigt. Hierdurch entstand jedoch unvermeidlich ein großer Hautdefekt (11x7cm), der nur sehr langsam abheilen wird und viele Verbandswechsel mit speziellen Wundauflagen erfordert. Da im Krankenhaus zwar die ärztliche Behandlung für die Patienten frei ist, nicht jedoch Medikamente, Labordiagnostik oder Verbandsmaterialien, empfahlen die dortigen Ärzte die Amputation des Fußes. Die Verbandsmaterialien für eine sekundäre Wundheilung würde der Patient sich nicht leisten können. Er verweigerte jedoch die Amputation (damit wäre er als Rikscha-Fahrer erwerbsunfähig geworden, muss aber als Alleinverdiener seine Familie durchbringen) und kam zu uns. Zum Glück hatten wir noch einen Vorrat an modernen silberbeschichteten Schaumverbänden, ich fürchte allerdings dass er schnell aufgebraucht sein wird. Ich hoffe sehr für diesen Patienten, dass wir genügend Verbandsmaterialien aufbringen können, damit er seinen Fuß behalten kann.
Die Bedeutung unserer Behandlung für die Menschen in Bangladesch geht nicht selten über die rein medizinische Betreuung hinaus, vergleichbar mit einer Hausarztpraxis. So stellte sich zum Beispiel in meiner ersten Woche eine junge Mutter mit ihrem acht Monate alten Baby vor. Das Baby hatte eine Pneumonie, bekam von uns eine orale Antibiose, Parazetamol und Zink und erhielt die übliche Vitamin A-Substitution. Wir bestellten es zur Kontrolle wieder ein, es ging ihm deutlich besser und wir konnten zusätzlich Eisen substituieren. Nach wenigen Tagen erschien die Mutter erneut, jetzt habe es Schnupfen. Das Kind war guter Dinge, wir beruhigten sie und gaben Salzwassertropfen für die Nase. Doch sie kam alle paar Tage wieder, immer mit wenig nachvollziehbaren leichten Beschwerden des Babys, dass sich aber weiterhin gut entwickelte, Gewicht durchgehend im grünen Bereich, alle Impfungen erfolgt. Erst bei der fünften Vorstellung kam nach einigen Fragen unsererseits heraus, dass ihr Mann sie vor einigen Wochen sang und klanglos ohne Unterstützung verlassen hatte. Ihre Familie lebte weit weg in einem Dorf und hier in Chittagong hatte sie sonst niemanden. Zudem ist es immer eine Schande für die Frauen und auch für ihre Familien, wenn sie vom Ehemann verlassen werden. Deswegen werden sie oft von der eigenen Familie oder Dorfgemeinschaft verstoßen. Sie war noch sehr jung und dies ihr erstes Baby. Ihren Lebensunterhalt musste sie nun durch betteln bestreiten, was sicher nicht einfach war, da sie jung und hübsch, sauber und ordentlich aussah, das Baby auch und sich damit erfahrungsgemäß nicht viel erbetteln lässt.
Der Grund, warum sie immer wieder zu uns gekommen war, war dass sie einfach völlig verzweifelt war! Sie war in höchstem Maße verunsichert, ob sie ihr Baby adäquat versorgt. Sie konnte weder ihre Mutter noch Schwiegermutter, Tanten oder ältere Schwestern fragen. Sie wusste aber auch nicht, wie sie für sich selbst sorgen sollte. Natürlich konnten wir ihre größten Probleme nicht für sie lösen. Aber wir konnten ihr versichern, dass mit dem Baby alles in Ordnung ist. Dass sie offensichtlich eine gute Mutter ist. Wir konnten ihr ein Essenspaket geben, um genug Grundnahrung für sich selbst zu haben und so ausreichend Milch für ihr Kind. Wir konnten ihr anbieten regelmäßig zu uns zu kommen um weitere Essenspakete zu bekommen und um das Gedeihen ihres Kindes überwachen zu können. Im Laufe des Gespräches war die herabfallende Last von ihr fast körperlich zu spüren. Dankbar und erfreut lächelte sie uns an. Nicht zuletzt konnten wir ihr ein bisschen Hoffnung geben.
Da einigen Patienten der Weg bis zu unserer Ambulanz nicht möglich ist, da auch das für sie zu teuer ist, halten wir einmal in der Woche eine Sprechstunde im Slum ab, um die Erreichbarkeitsschwelle noch weiter zu senken. Unsere Ambulanz dort ist neben den Räumlichkeiten des Community Based Centers. Dies ist ein angeleitetes Projekt unserer Ambulanz, bei dem Frauen aus der Slumgemeinde zu Ernährungsberaterinnen ausgebildet wurden, die jetzt die unterernährten Kinder dort betreuen, regelmäßige Gewichtskontrolle durchführen, uns kranke Kinder weiterleiten und die Mütter fortbilden. Dort erhalten die Kinder zusätzliche Mahlzeiten. Das ist offensichtlich ein wirklich gut funktionierendes, sehr erfreuliches Projekt.
Die Atmosphäre in unserer Slum-Ambulanz mochte ich besonders gern. Es sind besonders viele Kinder unter den Patienten, die unbefangen und fröhlich sind, uns in unserer Mittagspause ihre Hütten und den ganzen Stolz der Bewohner – ihre Kuh – zeigten und sich mit Begeisterung von uns fotografieren ließen. Sie spielten marmeln mit bunten Steinchen oder schaukeln am Tor unserer Slum-Ambulanz. Fast alle haben kahlrasierte Köpfe wegen des stetigen Läusebefalls und Jungs und Mädchen sind kaum zu unterscheiden. Wie sehr würde ich mir doch für die Frauen und Mädchen hier wünschen, dass ihnen wenigstens etwas von dieser Unbeschwertheit und „Gleichheit“ erhalten bliebe…
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