Migration bei Vitos

Bei Vitos Gießen-Marburg startete vor einigen Jahren das Pilotprojekt für Migrationsbeauftragte. Und es hatte Erfolg. Dieser Erfolg war die Grundlage für die Etablierung eines Konzernmigrationsbeauftragten. Heute gibt es in allen zwölf gemeinnützigen Tochtergesellschaften einen Migrationsbeauftragten, der für seine Arbeit mit zehn Prozent einer vollen Stelle freigestellt wird. Unser Job ist gerade in den heutigen Tagen von enormer Bedeutung.

Arbeit an der Basis und institutionell, um etwas zu verändern

Ich bin ein sehr reiselustiger Mensch, der viel in der Welt unterwegs war und ist. Als ich die ersten Patienten aus anderen Ländern behandelt habe, habe ich gemerkt, dass eine Behandlung von Menschen aus verschiedenen Kulturen, nie eins zu eins umzusetzen ist. In den letzten 30 Jahren habe ich Migration zu meinem fachlichen Thema gemacht. Ich bin in zahlreichen Gremien und Arbeitskreisen vertreten und war lange Zeit Vorsitzender der deutsch-türkischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit. Ich habe immer viel an der Basis gearbeitet. Als Konzernmigrationsbeauftragter kümmere ich mich nun mehr und mehr um institutionelle Änderungen, was mir sehr viel Spaß macht.

Meine größte Herausforderung als Konzernmigrationsbeauftragter

Meine größte Herausforderung als Konzernmigrationsbeauftragter liegt darin, unterschwellige, unterbewusste Vorurteile bewusst zu machen und dadurch abzubauen. Wir alle müssen lernen mit Vorurteilen, die jeder Mensch hat, kritisch umzugehen und sie zu reflektieren. Ich möchte gerne vermitteln, dass die therapeutische Arbeit mit Migranten Spaß macht. Dass sie Menschen sind, wie du und ich, die ein Recht darauf haben, Hilfe zu bekommen und angenommen zu werden. Das hat auch für mich einen Mehrwert, denn ich erfahre in dem Austausch mit den Patienten eine Menge Menschlichkeit und lerne mehr und mehr über jeden, ganz individuell. Es ist ein absolut spannendes Feld, was meine Arbeit bereichert. Wir müssen versuchen, auch schwierige Situationen als positive Herausforderung zu sehen. Es ist eine unglaublich spannende Arbeit, mit positiven und schönen Seiten, wenn man es zulässt.

Migration wird nicht erst jetzt zum wichtigen Thema

Migration ist ein Thema, das schon lange wichtig ist und wichtig bleiben wird. Migranten gibt es in Deutschland schon sehr lange. In den 1960er Jahren bis 1973 gab es die Arbeitsmigration. Hier kamen Gastarbeiter nach Deutschland. Ihre Nachkommen sind heute in der dritten oder vierten Generation und sprechen fließend deutsch. Sprachbedingte Migrationsprobleme gibt es hier so gut wie keine mehr.
Die Spätaussiedler in den 1980er Jahren wurden besser integriert als vorher die Gastarbeiter. Sie bekamen einen deutschen Pass und stetige Hilfen zur Integration.
Eine völlig andere Situation ist die heutige. Wir haben extremst zunehmende Flüchtlingszahlen, was sich auch bei Vitos bemerkbar macht. Die Menschen sind durch ihre traumatischen Erlebnisse eine Risikogruppe für psychische Erkrankungen. Aktuell sind rund zehn Prozent unserer Patienten mit Migrationshintergrund Asylsuchende. Das ist deutlich mehr als der Anteil in der Bevölkerung. Es besteht die Notwendigkeit einer angemessenen Behandlung. Dies zu organisieren, ist eine wichtige Aufgabe für uns Migrationsbeauftragte.

20.000 Asylsuchende allein in Hessen

2015 werden bis zu 60.000 Flüchtlinge in Hessen erwartet. Das ist deutlich mehr als zu Zeiten der Balkankrise 1990 bis 1992. Die steigende Zahl von Flüchtlingen ist auch Anlass zur Konzeptentwicklung in den Vitos Kliniken, die sich darauf einstellen müssen. In allen Kliniken nimmt die Zahl der Asylsuchenden sowohl stationär als auch ambulant zu. Bestehende Konzepte, wie zum Beispiel eine interkulturelle Sprechstunde bei Vitos Hadamar und Vitos Gießen-Marburg in der Institutsambulanz mit Mitarbeitern, die verschiedenste Sprachen sprechen, reichen aktuell schon nicht mehr aus.

Für eine Behandlung braucht es Dolmetscher

Die Sprache ist die wohl größte Barriere in der Behandlung dieser Patienten. Daher steht die Organisation von Dolmetschern derzeit an oberster Stelle für uns Migrationsbeauftragte. Wir planen, hausinterne Dolmetschersysteme aufzubauen und Vitos Mitarbeiter zu schulen. Nicht jeder Mitarbeiter, der eine andere Sprache fließend spricht, ist auch automatisch dafür geeignet zu dolmetschen. Das muss geschult werden. Im Moment sind wir hier dabei, ein Konzept zu entwickeln. Die momentane Praxis, dass die Angehörigen der Patienten dolmetschen, ist bei einer psychiatrischen Behandlung nicht geeignet. Denn eine objektive Übersetzung ist so nicht möglich. Wir benötigen familienunabhängige Dolmetscher. Die beste Möglichkeit neben eigenen Mitarbeitern sind regionale Dolmetscherdienste. In Gießen-Marburg haben wir zum Beispiel bereits Gemeindedolmetscher, die schnell zur Verfügung stehen und relativ kostengünstig sind.

Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Mitarbeiter

Die Vitos Akademie bietet bereits seit einigen Jahren Training zur interkulturellen Kompetenz an. Es gibt einen eintägigen Basiskurs, der für alle Berufsgruppen geeignet ist und einen zweitägigen Vertiefungskurs, der sich mehr für medizinisches und psychologisches Fachpersonal sowie für Sozialarbeiter eignet. Anfangs war es nicht einfach, eine ausreichende Zahl von Teilnehmern zu bekommen. Mittlerweile sind die Kurse gut belegt und beliebt.

Vitosweite Umfrage zum Thema Migration

Im Oktober 2014 haben wir eine Umfrage in allen Vitos Kliniken durchgeführt. Ziel dieser Datenerhebung war es, zu sehen, ob in den Kliniken Bedarf ist, sich noch mehr dem Thema Migration zu widmen. Es wurde daher unter anderem erfasst, wie viele Patienten mit Migrationshintergrund überhaupt in den einzelnen Kliniken behandelt werden. Derzeit befinden wir uns in der Auswertung der Erhebung. Auf dieser Grundlage werden wir praktische Schlüsse ziehen: Wo muss stationär oder ambulant mehr für Migranten getan werden? Wo ist Bedarf? Wo braucht es mehr Dolmetscher?

Die Beteiligung der Kliniken war mit 96 Prozent sehr erfreulich. Und ich kann jetzt schon sagen, dass der Anteil der Patienten mit Migrationshintergrund sehr unterschiedlich ist. Bundesweit liegen wir bei rund 20 Prozent. Bei Vitos Hochtaunus mit der Versorgungsverpflichtung für Teile Frankfurts liegen wir mit 28 Prozent klar darüber. Bei Vitos Weilmünster dagegen mit 7,5 Prozent deutlich darunter. Es lassen sich also keine einheitlichen Maßnahmen ableiten. Wir werden nun bald beginnen individuelle Maßnahmen zu entwickeln.

Interkulturelle Station oder interkulturelle Klinik?

Bereits vor über 20 Jahren habe ich eine Station für interkulturelle Psychiatrie in Marburg ins Leben gerufen. Hier haben wir Patienten mit türkischem Hintergrund behandelt. Mit den Jahren hat sich diese Station jedoch mehr und mehr internationalisiert. Aufgrund baulicher und konzeptueller Veränderungen gibt es diese Station heute nur noch in Ansätzen. Mit der Umfrage und nach Auswertung der Daten werden wir schauen, ob es eventuell Bedarf gibt, Konzepte für spezielle Krankheitsbilder oder Patientengruppen mit Migrationshintergrund zu entwickeln und umzusetzen. Jedoch sollte der Trend generell so sein, dass sich die Kliniken insgesamt mit allen Abteilungen interkulturell öffnen und nicht nur einzelne Stationen.

Die ersten Schritte sind gemacht

Es gibt in fast allen Vitos Kliniken Willkommensplakate auf den Stationen. Hier begrüßen wir Patienten in verschiedenen Sprachen. Im Internet findet man eine Aufstellung und Vorstellung aller Migrationsbeauftragten. Zudem können Publikationen zum Thema Psychiatrie und Migration, auch heruntergeladen werden. Wir sind dabei, Dolmetscherdienste einzuführen und die Migrationsbeauftragten sind im regelmäßigen Austausch untereinander. Die Strukturen wachsen und Inhalte reifen. Der größte bisher erreichte Fortschritt ist wohl der, dass das Thema bei Vitos einen Stellenwert und Raum bekommen hat, der seiner gesellschaftlichen Bedeutung entspricht.