Bis heute ist es eine der größten Aufklärungsaktionen Deutschlands: Vor 30 Jahren wurden 27 Millionen Exemplare der Broschüre „Was Sie über AIDS wissen sollten“ an alle deutschen Haushalte verteilt.
„Seit Rock Hudson herrscht Hochbetrieb.“ So lapidar wird im Oktober 1985 im „AIDS-Info-Dienst“ der neu gegründeten Deutschen AIDS-Hilfe die Situation beschrieben. Seit dem Tod des an Aids verstorbenen Hollywoodstars klingeln nicht nur die Beratungstelefone ununterbrochen, auch die Medien befinden sich in einer Art Ausnahmezustand.
Tag für Tag gibt es neue Horrorszenarien und Angst schürende Meldungen. „Darf ein Pizza-Bäcker Aids haben?“ und „Aids beim Friseur?“ titelt beispielsweise die BILD-Zeitung. Die Bevölkerung ist beunruhigt und das Thema omnipräsent. Selbst auf der Hamburger Hausfrauenmesse „Du und Deine Welt“ macht man sich Gedanken über die bedrohliche Seuche.
Angesichts der großen Verunsicherung in der Bevölkerung und des Klimas wachsender Panik entschloss sich die Bundesregierung zu einem ungewöhnlichen Schritt: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich seit Jahresbeginn 1985 auch um das Thema HIV und Aids kümmerte, fasste die zu diesem Zeitpunkt für sicher gehaltenen Informationen über die neue Krankheit in einem Informationsblatt zusammen.
Sachliche Informationen zu einem emotional aufgeladenen Thema
Die achtseitige Broschüre mit dem Titel „Was Sie über AIDS wissen sollten“ wurde im Laufe des Novembers 1985 in einer Gesamtauflage von 27 Millionen Exemplaren allen bundesdeutschen Haushalten zugestellt. Der markante Schriftzug auf dem Titelblatt wurde durch diese massenhafte Verbreitung zu einer Art Logo und Erkennungszeichen und für lange Zeit immer wieder dann von Fernsehsendern verwendet, wenn es Nachrichten zum Thema Aids zu vermelden gab. Die Broschüre selbst versuchte in sieben kurzen Kapiteln die dringlichsten Fragen zu beantworten und gab Auskunft unter anderem über Infektionswege und Möglichkeiten, sich vor einer Ansteckung zu schützen.
Die Medizin stand der Krankheit zu diesem Zeitpunkt noch sehr hilflos gegenüber. Ein Impfstoff fehlte damals wie heute. Auf die Frage „Gibt es Behandlungsmöglichkeiten gegen AIDS?“ konnte in der Broschüre lediglich zurückhaltender Optimismus verbreitet werden: „Zahlreiche Medikamente sind zur Zeit in der klinischen Prüfung. Eine wirksame ursächliche Behandlungsmethode ist derzeit noch nicht bekannt.“
„Nutzen Sie diese Informationen. Und handeln sie verantwortungsbewusst“
Umso dringlicher setzte die damalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth auf die Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen: „Ich appelliere an Sie: Nutzen Sie diese Informationen. Und handeln Sie verantwortungsbewusst.“ Ihr Appell ist gleichermaßen das Gegenmodell zur bayrischen Aids-Politik und Grundkonzept der HIV-Prävention der folgenden Jahrzehnte: Aufklärung und Selbstbestimmung statt Abschreckung und Ausgrenzung.
„Wir müssen es schaffen, dass sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Das ist möglich, wenn sich jeder, der gefährdet sein oder andere gefährden könnte, so verhält, wie es dieses Merkblatt rät“, schreibt die Ministerium in ihrem Vorwort. Sachliche Informationen seien nicht nur der beste Weg, um einer weiteren Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten, sondern auch um unbegründete Ängste zu vermeiden.
Jenen, die bereits infiziert sind, gibt die Broschüre ebenfalls konkrete Ratschläge an die Hand. So werden die Betroffenen dazu aufgefordert ihre Sexualpartner, aber auch behandelnde Ärzte zu informieren, ihren Organspendeausweis zu vernichten und beim Sex Kondome zu verwenden. Und zu guter Letzt: „Stärken Sie Ihre Abwehrkräfte.“
Ob sich ohne diese Informationsbroschüre die Panik in der breiten Bevölkerung noch weiter hochgeschaukelt hätte, lässt sich wohl kaum ermitteln. Dass sie zu einer intensiven und breiten Auseinandersetzung mit HIV und Aids geführt hat, ist allerdings unbestreitbar. Doch es mangelte auch nicht an Kritik, und die kam keineswegs nur von sogenannten Aids-Leugnern.
Infektionsrisiko Bluttransfusionen und Blutpräparate
„Nur 5–15 %, höchstens 20 % der Angesteckten bekommen AIDS“ war in dieser amtlichen Mitteilung zu lesen. Süssmuth wurde deshalb von einigen HIV-Experten wie Prof. Eilke Brigitte Helm von der Universitätsklinik Frankfurt vorgeworfen, das „Risiko … bewusst heruntergespielt“ zu haben. In der Tat wurden diese Zahlen überraschend selbstsicher genannt, Langfriststudien lagen 1985 aber noch nicht vor.
Als wesentlich heikler sollte sich rund zehn Jahre später eine andere Behauptung erweisen. Eine Verbreitung des Virus durch Blut oder Blutprodukte sei in Deutschland seit Sommer 1985 „praktisch ausgeschlossen“, heißt es in der Aufklärungsschrift. Denn seither seien nicht nur alle Blutspenden getestet und „alle fragwürdigen“ Blutspenden vernichtet worden, sondern desgleichen „auch die gelagerten Konserven“.
In der Tat wurden ab Oktober 1985 alle deutschen Blutspender auf HIV getestet. Doch niemand fühlte sich seinerzeit dafür zuständig, alte Blutprodukte zurückzurufen und aus dem Handel zu nehmen. Wie im Rahmen des Untersuchungsausschusses „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ 1993 zutage trat, waren noch bis 1987 alte und damit ungeprüfte Blutkonserven und -präparate im Umlauf, die nachweislich auch zu HIV-Infektionen geführt haben.
Von Axel Schock
BZgA-Broschüre „Was Sie über AIDS wissen sollten“ als PDF, mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung