Als ich in den 90er Jahren erstmals von dem Fibromyalgiesyndrom gehört habe, war ich entzückt. Endlich hatte ich einen Namen für eine Erkrankung, die wir früher nur beschreiben, aber nicht benennen konnten. Bald kam die Ernüchterung. „Machen“ konnte man als Arzt nichts. Unsere medikamentöse Therapie nach dem WHO-Stufenschema griff nicht. Außerdem waren die begleitenden psychischen Leiden der Patienten so auffällig, dass mir bald Zweifel kamen. „Fibromyalgie“ klingt so ungeheuer körperlich. Und wo blieb die Seele? Warum sagte man den Patienten nicht, dass die Erkrankung einen psychosomatischen Hintergrund hatte? Dass sie eine Depression haben?
Schmerzen – überall
Die Beschwerden, die die Patienten schildern sind meistens ein Symptomkomplex aus Muskelschmerzen, in der Regel im Bereich der Sehnenansätze und wechselnden Gelenkbeschwerden. Es gibt 18 definierte Lokalisationen der sogenannten Tenderpunkte am Rumpf und den Extremitäten, die auf Druck extrem schmerzhaft sind. Der Zustand der Muskulatur wird als „zu kurz“ beschrieben. Dazu kommen die diffusen Gelenkbeschwerden. Mal schmerzt das Knie, eine Stunde später der Ellbogen oder die Hand. Morgens sind die Hände oft geschwollen Beim Laufen tun die Füße weh. Der Nachtschlaf ist schlecht und tagsüber steckt den Patienten eine bleierne Müdigkeit in den Knochen.
Tägliche Einschränkungen
Sie werden in ihren täglichen Aktivitäten stark eingeschränkt, können nicht mehr arbeiten gehen und schaffen häusliche Tätigkeiten nach einigen Jahren ebenfalls nicht mehr. Die Stimmung ist bei den Patienten, die ich kennenlernen durfte, immer depressiv, gelegentlich mit ängstlicher, hilfloser oder ärgerlicher Färbung. Bei allen mir persönlich bekannten Patienten findet man in der Biografie soziale Brüche, Traumata, Verletzungen, oft sexuelle oder sonstige Gewalterfahrung oder Kränkungen.
Fibromyalgie – Ja oder Nein
Man hat viel geforscht auf dem Gebiet der Fibromyalgie, aber ein körperliches Substrat oder einen Serummarker, der spezifisch für diese Erkrankung ist, hat man nicht gefunden. Vielleicht wurde gerade deshalb so kontrovers über dieses Krankheitsbild gesprochen. Es gibt das Lager der Befürworter dieser Diagnose und das Lager derer, die die Existenz der Erkrankung radikal ablehnen.
Dass die Seele wirklich einen Einfluss auf den Körper hat, ist vielen nicht geheuer
Viele Jahre benutzte ich die Diagnose nicht mehr. Zu viel somatische Unsicherheit und zu viel psychische Begleiterkrankungen waberten darum herum. Körper und Seele zusammenzubringen ist in Europa ein Eiertanz. Es wird zwar irgendwie zur Kenntnis genommen, dass die Seele irgendwo im Körper wohnen könnte, aber dass sie einen Einfluss hat, ist vielen Kollegen nicht ganz geheuer. Kleine Gruppen von Psychosomatikern beschäftigt das zwar schon seit Jahrzehnten (z. B. die Thure-von-Uexküll-Gesellschaft), aber uns Anästhesisten, die mehrheitlich die Schmerztherapie betreiben, ist das noch nicht so geheuer.
Endlich! So können wir behandeln. Denn chronischer Schmerz ist kein medikamentöses Problem.
2013 wurde dann eine Leitlinie veröffentlicht, die mich mit der Diagnose versöhnte. Da es sich um eine S3-Leitlinie handelt, ist diese wissenschaftlich so hoch aufgehängt und die Aussagen sind so sorgfältig recherchiert, dass ich als Schmerztherapeutin, die die Inhalte sehr begrüßt, einen kleinen Luftsprung gemacht habe. Endlich sind die Pillen als Therapieform vom Tisch! Endlich keine Verhandlungen mehr über Opiate, NSAR’s und Injektionen aller Art. Die Leitlinie ist ein Plädoyer für die Stärkung der Eigenaktivität des Patienten. Weg von allen passiven Maßnahmen und hin zum Ausdauersport, Psychotherapie, Tai Chi, Qi Gong und Yoga. Zur Verbesserung des Schlafens und gegen die Müdigkeit können zwar Medikamente eingesetzt werden, wie Amitriptylin zur Nacht oder Duloxetin zur Antriebssteigerung am Tag. Aber chronischer Schmerz ist nun mal kein medikamentöses Problem. Das ist eine gute Botschaft.
Umdenken im Bezug auf chronische Schmerzen
Ich bin guter Hoffnung, dass wir z. B. für den unspezifischen chronischen Rückenschmerz eine ähnliche Leitlinie sehen werden. Anfang des Jahres wurde schon die Leitlinie zu Opiaten bei Nicht-Tumorbedingten Schmerzen (LONTS) veröffentlicht. Da ist ein Umdenken in Bezug auf den Umgang mit dem chronischen Schmerz im Gange, das sehr mit den Erfahrungen, die wir Schmerztherapeuten machen, in Einklang steht.
Jeder Mensch muss Verantwortung für sich und seinen Körper übernehmen
Wahrscheinlich werden wir uns an die (fast) in Vergessenheit geratenen Grundsätze von Pfarrer Kneipp erinnern, der die Bewegungs-, Ernährungs-, Hydrotherapie, sowie die innere Ordnung und die Anwendung von Heilpflanzen propagierte. Das ist ein Weg zur Eigenverantwortung, die jeder Mensch für sich und seinen Körper übernehmen muss. Das Outsourcing von Gesundheit ist zwar bequem, aber kein guter Weg. Er verbaut uns die Freude an uns selber, den Respekt vor den eigenen und fremden Körpern und Seelen.