Rede von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock auf dem Politikforum der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege anlässlich der Verleihung des Deutschen Sozialpreises am 24. November 2015 im Umweltforum Berlin*
Hochverehrte Preisträgerinnen und Preisträger, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
In den Nachrichten sehen wir täglich Bilder von Flüchtlingsströmen, Warteschlangen, übernächtigten Menschen, von Massenlagern, Bilder, wie ich sie mir in ihrer sozialen Dramatik in Deutschland nicht mehr hatte vorstellen können.
In den letzten Wochen war ich auch öfters hier in Berlin auf dem LaGeSo-Gelände und am Hamburger Hauptbahnhof. Was ich dort gesehen habe, war in zweierlei Weise tief anrührend: zum einen die Not, die offensichtliche Hilfsbedürftigkeit, zum anderen aber auch das Ausmaß und die Art und Weise, wie geholfen wurde, mit Freundlichkeit, Nachsicht und Respekt. Das helle Deutschland – mit vielen MigrantInnen im ehrenamtlichen Einsatz.
Ein Zeichen für die Vitalität der Zivilgesellschaft
Dass es so ist, ist ein Zeichen für die Kraft des gesellschaftlichen Zusammenhalts, für die Vitalität der Zivilgesellschaft.
Dass es sich auch weiter so entwickelt, trotz aller sicher zu erwartenden Probleme, dafür treten wir als Freie Wohlfahrtspflege ein, als zentral herausgeforderter, organisierter Teil der Zivilgesellschaft.
Die Bewältigung des gegenwärtigen und weiter zu erwartenden Andrangs von Flüchtlingen in Deutschland ist freilich nicht nur für die Wohlfahrtspflege, sondern für nahezu alle Sektoren unserer Gesellschaft ohne Zweifel eine gewaltige Herausforderung. Da wird politisch noch viel gestritten und entschieden werden.
Dazu muss man eine eigene Position und eine Haltung entwickeln. Für die Freie Wohlfahrtspflege gilt:
- Erstens: Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregierung und namentlich der Bundeskanzlerin, dass die staatliche Politik diese Herausforderung zivilisiert und zuversichtlich annimmt und Deutschland dabei ein Land mit freundlichem Gesicht ist und bleiben soll.
- Zweitens, dass es jetzt darauf ankommt, Menschen in Not zu helfen und die Integration Schutzbedürftiger zu sichern.
- Drittens, dass sich Deutschland nicht an einem Wettbewerb beteiligen wird, welches Land die Flüchtlinge am unfreundlichsten behandelt.
- Und viertens, dass Staat und Zivilgesellschaft klare Kante zeigen gegen alle, die versuchen, den Flüchtlingsandrang zur Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu nutzen und dabei – perverserweise und ganz aktuell – mit der berechtigten Sorge um den Schutz vor Terror Schindluder treiben.
Das alles ist schnell gesagt, aber schwer getan.
Gewiss ist auch: wenn – wie gegenwärtig – jeden Tag tausende neue Flüchtlinge bei uns ankommen, dann führt das irgendwann zur Überlastung unserer Ressourcen und zur Erosion der öffentlichen Ordnung. Das nun würde niemandem nützen, auch nicht den Flüchtlingen. Deshalb sind auch nur solche Menschen derzeit ohne jede Sorge, die nicht rechnen oder nicht nachdenken wollen.
Die Probleme lassen sich nicht durch höhere Zäune lösen
Aktuell bei uns geht es um die Verteilung und Versorgung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands. Dazu gibt es auch gar keine Alternative, denn diese Menschen sind jetzt da und brauchen jetzt Hilfe.
Dahinter stehen aber dann natürlich auch die Fragen,
- wie in Zukunft das Regime an den deutschen Grenzen aussehen soll,
- wie die Menschenströme innerhalb der EU gesteuert werden können,
- wie es zu einer gerechten Verteilung der Lasten in Europa kommen kann,
- wie an den Außengrenzen der Schengen-Zone verfahren werden soll,
- ob das Dublin-Prinzip endgültig gescheitert ist und was an seine Stelle treten soll,
- welche Unterstützung für die Transit- und Erstaufnahmeländer möglich ist, die – im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsanzahl und Wirtschaftskraft – Flüchtlinge in weit größerem Umfang als die europäischen Staaten aufgenommen haben und aufnehmen,
- welche Politiken in den Herkunftsländern und den sie umgebenden Weltregionen zur Schwächung der Fluchtgründe führen können,
- wie die Möglichkeiten ausgebaut werden können, auf legalem Wege – also ohne gefährliche und vielfach traumatisierende Flucht – hierher nach Europa zu kommen; da geht es also um Humanitäre Aufnahmeprogramme oder das Resettlement und auch um ein Einwanderungsgesetz.
Diese Probleme lassen sich sämtlich nicht durch höhere Zäune an den Grenzen und bessere Verpflegung in Flüchtlingslagern lösen, es gibt keine vernünftige polizeiliche Antwort. Die politische Bewältigung dieser Krise ist nur denkbar und machbar, wenn sie als Teil einer Weltinnenpolitik begriffen und betrieben wird, das heißt, wenn die vielfältigen und komplexen Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den Nationalstaaten, den Regionen und den verschiedenen Politikfeldern und Entwicklungsrichtungen beachtet werden.
Aber selbst dann, wenn auf allen diesen Ebenen zügig weltinnenpolitisch kluge und brauchbare Antworten gefunden und umgesetzt werden – der Andrang und die Zuwanderung werden nicht morgen aufhören, die Aufnahme und die Integration der flüchtenden Menschen werden auf mittlere Sicht eines der beherrschenden Probleme unseres öffentlichen Lebens bleiben, sie werden die Wirtschaft, den Staat, unsere Institutionen, die Zivilgesellschaft und unser Zusammenleben nachhaltig verändern. Das muss keineswegs von Nachteil sein. Ein im Gesamtkontext winziges, aber für die Freie Wohlfahrtspflege ziemlich wichtiges Beispiel: der seit Jahren laufende Prozess der interkulturellen Öffnung in der Wohlfahrtspflege gewinnt jetzt einen ganz anderen Stellenwert, und das ist gut so.
Es gibt Grund zur Zuversicht
Quantitativ und qualitativ ist die gegenwärtige Herausforderung – bei allen Unterschieden – im Ausmaß der zu erwartenden gesellschaftlichen Wirkungen allenfalls vergleichbar mit der Integration von vielen Millionen Vertriebener und Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg und mit der Bewältigung der Folgen der staatlichen Einheit vor 25 Jahren.
Aber gerade diese beiden Herausforderungen geben auch Grund zur Zuversicht. Denn: diese Herausforderungen wurden – gewiss nicht fehlerfrei, nicht glatt und schon gar nicht leidensfrei, aber im Ergebnis – positiv bewältigt. Solche Herausforderungen konnten und können nie allein vom Staat bewältigt werden, sondern nur dann, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt stark genug ist und wenn die Zivilgesellschaft als Ausdruck dieses Zusammenhaltes die Herausforderung auch annimmt. Das war nach dem Krieg so und das war auch nach 1989 so, und das hat funktioniert.
Die Freie Wohlfahrtspflege, als größter organisierter Kern der Zivilgesellschaft, hat mit ihren über 1,5 Millionen haupt- und ca. 3 Millionen ehrenamtlichen Arbeitenden, die mehr als 100.000 Angebote und Programme betreiben, diese Herausforderung vom ersten Tag an mit großem Engagement und mit Empathie angenommen. Das gilt längst nicht mehr nur für die vielen hundert Programme und Organisationen, die ohnehin und immer schon auf den Gebieten der Migration, der Flüchtlingshilfe und der Nothilfe tätig sind, vielmehr kommt der Problemdruck mittlerweile auch voll in der Kinder- und Jugendhilfe an, aber auch in den anderen großen Feldern sozialer Arbeit, und das wird sich noch steigern. Die Freie Wohlfahrtspflege ist dabei aktiv in beiden Phasen der Ankunft hier in Deutschland: der Erstunterbringung – und Versorgung der Flüchtlinge und dann in der Unterstützung, damit die Flüchtlinge hier schnell eigenständig leben können; dabei geht es um Sprachkurse, Landeskunde, Wohnungsbeschaffung, Einstieg in Bildung und Ausbildung sowie natürlich Förderung der Integration in den Arbeitsmarkt.
Die Zivilgesellschaft hat die Herausforderung aber nicht nur in ihrer organisierten Form der Wohlfahrtspflege angenommen, sondern – und das ist vielleicht noch wichtiger – auch in Form vieltausendfachen ehrenamtlichen Engagements. Das waren und sind nicht nur Wolldecken, geschmierte Brötchen, Tee und Wasserflaschen an Bahnhöfen und Brennpunkten, sondern das sind auch die vielen Tausend Bürgerinnen und Bürger, die täglich in die Not- und Erstaufnahmestellen kommen, um dort die tonnenweise gespendete Kleidung, Windeln und alles Mögliche zu sortieren und zu verteilen, erste Schritte in der neuen deutschen Sprache zu ermöglichen, Flüchtlinge als Lotsen in die neue Umwelt zu begleiten, Flüchtlinge bei sich zu Hause zu bewirten oder aufzunehmen und überall dort zu helfen, wo es Not tut. Und das ist viel.
Unsere Organisationen bemühen sich mit finanzieller Unterstützung vom Staat, den Andrang von Freiwilligen neben dem Andrang von Flüchtlingen so weit wie möglich zu bewältigen, die Ehrenamtlichen ihren Interessen und Fertigkeiten entsprechend zu koordinieren, machbare Einsatzpläne zu erarbeiten und sie auch qualifiziert bei ihrer Arbeit zu unterstützen – interkulturelle Kommunikation, Grundzüge des Asylrechts, Umgang mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir beziehen dabei Flüchtlinge so weit wie möglich in die Arbeit ein – denn Flüchtlinge sind keine passive Verwaltungsmasse, sondern das sind lebendige Menschen, die was tun wollen, die eine Aufgabe und auch Herausforderungen brauchen – und auf diesem Wege auch oft erste Ansätze zur psychischen Bewältigung ihrer oft erschreckend brutalen Fluchterfahrungen finden können.
Möglichst früh aus dem Krisenmodus rauskommen
Gegenwärtig ist weithin noch die Stunde der Blaulicht-Organisationen, also vor allem Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Technisches Hilfswerk, Johanniter, Malteser. Sie sind für die Bewältigung von Notstand und erster Hilfe zuständig – Essen, Kleidung, Hygiene, Wärme. Wir sorgen aber nach Kräften dafür, möglichst früh und möglichst für jeden einzelnen Flüchtling aus dem Krisenmodus rauszukommen und erste Übergänge zur Normalität zu schaffen.
Wie auch auf allen anderen Feldern der sozialen Arbeit bilden die Aktivitäten und Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege auch in der Arbeit mit Flüchtlingen das feinste und am meisten verzweigte Nervensystem, das zu den Bruchstellen und den dunklen Ecken unseres Zusammenlebens reicht. Das gibt uns das Recht und macht es auch zu unserer Pflicht, als Anwalt für die KlientInnen unserer Arbeit zu sprechen, also jenen eine Stimme zu leihen, die keine eigene Stimme in unserem Land haben. Deshalb zum Schluss eine Agenda auf kurze Sicht, was also aus unserer bzw. meiner Sicht heute und morgen zu tun bzw. auch zu unterlassen wäre:
- Dass die Asylverfahren massiv verkürzt werden müssen, ist breiter Konsens. Aber sie müssen zivilisiert und rechtsstaatlich verkürzt werden. Entgegen weit verbreiteten Vorurteilen ist eine wirklich unabhängige Verfahrensberatung, wie unsere Organisationen sie anbieten, dabei in der Summe keine Verzögerung, sondern eine Vertrauen stiftende Versachlichung, und muss deshalb gewährleistet sein.
- Flüchtlinge brauchen vom ersten Tag an die Möglichkeit eines aktiven Lebens, sei es Unterricht, Berufsausbildung, Landeskunde, Sport, Entdeckungen, Mitarbeit bei der Organisation des täglichen Lebens. Monatelange Passivierung führt allzu oft zu wahlweise Apathie, Vertiefung von Traumata oder Aggression. Deshalb darf zum Beispiel am möglichst frühzeitigen Zugang zu Sprach- und Integrationskursen nicht gespart werden. Davon dürfen auch Asylbewerber aus angeblich sicheren Herkunftsländern nicht ausgeschlossen werden, denn auch von ihnen werden viele bleiben und können dann ihre Integration nur mit einem beträchtlichen Handicap starten. Und wer nicht bleiben kann, nimmt vom Lernen auch keinen Schaden.
- Flüchtlinge brauchen wie alle Menschen in einem zivilisierten Land Zugang zu einer hochwertigen und vollständigen Krankenversorgung. Die jetzt schon in Hamburg, Bremen und NRW eingeführte Gesundheitskarte braucht es bundesweit.
- Integration kann nur gelingen, wenn es mehr gibt als eine Ein-Jahres-Perspektive. Integration bedeutet auch, den Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, hier mit ihren nächsten Familienangehörigen zusammen zu leben. Die nun geplante Einschränkung der Familienzusammenführung für bestimmte Flüchtlingsgruppen ist daher absehbar kontraproduktiv. Sie hätte außerdem voraussichtlich zur Folge, dass sich dann viele weitere Menschen aus den Herkunfts- bzw. Transitländern auf den gefahrvollen Weg nach Europa begeben. Das kann so niemand wollen.
- Der gegenwärtig extrem hohe Beitrag der ehrenamtlich Arbeitenden kann – trotz aller Motivation und ihrer Kräftigung – auf Dauer nicht erwartet und organisiert werden. Es braucht also Menschen und Mittel, um die weiterhin schnell wachsenden Aufgaben der Wohlfahrtspflege auch mit mehr bezahlter Arbeit zu bewältigen. Das ist übrigens auch eine Voraussetzung für ehrenamtliche Arbeit.
- Die Unterbringung in großen Erstaufnahmeeinrichtungen kann immer nur eine Notlösung sein. Mit der Beschleunigung der Verfahren muss die Organisierung von dezentralen Wohnmöglichkeiten einhergehen. Viele unserer Organisationen sind hier schon aktiv. Mittelfristig brauchen wir wirklich große Programme zum Bau von Sozialwohnungen und sozialer Infrastruktur – und zwar nicht in Ghettos, sondern mittendrin, für einheimische und für hierher geflüchtete Menschen.
Am 23. November hat sich unsere Republik in Hamburg in würdiger Form vom Staatsmann Helmut Schmidt verabschiedet. Von ihm stammt der Satz: Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken. Wenn ‚pragmatisch‘ dabei verlässlich auch ‚humanitär‘ heißt, dann ist solches Handeln auch in der Flüchtlingspolitik gefragt.
*Herzlichen Dank an Prof. Rosenbrock für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung seiner Rede!
Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, war von 1988 bis 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik unter anderem an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin.
Seine Themen sind sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung und Politikberatung und ist unter anderem Mitglied des Nationalen Aids-Beirates (NAB, seit 1995) und Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e. V. (seit 2006). Er war von 1999 bis 2009 Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR–G), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, 2001 bis 2012), Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO, 2010 bis 2015), des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH, 2006 bis 2008) etc.
2012 wurde er zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband – gewählt, seit 2015 ist er außerdem ehrenamtlicher Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW).