Im November 1985 versetzte eine landesweite Razzia Homosexuelle in Angst und Schrecken. Mehr als 11.000 Männer wurden verhaftet, verhört und registriert. Bis heute sind wesentliche Fragen dieser Aktion unbeantwortet.
Der Einsatz begann für alle Beteiligten überraschend; weder gab es Vorzeichen noch Verdachtsmomente, die auf diese generalstabsmäßig organisierte Aktion hätten hinweisen können. Im Gegenteil: Anders als in den meisten Ländern des Ostblocks waren zu jener Zeit Homosexuelle in Polen keinerlei Kriminalisierung ausgesetzt. Sexuelle Handlungen unter Erwachsenen waren straffrei, das Mindestalter lag bei 15 Jahren.
Die Operation „Hyazinth“ begann am Morgen des 15. November 1985. Überall im Land wurden der Homosexualität verdächtigte Männer an ihrem Arbeitsplatz, in Schulen oder ihren Wohnungen von der Staatssicherheit verhaftet, auf Polizeireviere verbracht und verhört.
Anstiftung zu Verrat und Denunziation
Sie sollten Auskunft geben über ihr Intimleben und ihre Sexualpartner, und sie wurden unter Druck gesetzt, andere Schwule zu denunzieren: ihre Freunde, Kollegen, Geliebten. Ein Schneeballsystem war in Gang gekommen. Mehr und mehr Namen wurden gesammelt, mehr und mehr Männer verhaftet, verhört und registriert.
Zudem wurden in der Folgezeit regelmäßig Razzien an Schwulentreffpunkten, in Lokalen, öffentlichen Toiletten und Parks, durchgeführt. Nach rund zwei Jahren umfasste die „Rosa Kartei“ der Staatssicherheit die Namen von rund 11.000 Männern: Zu jedem Einzelnen war eine Akte angelegt worden, samt Fingerabdrücken, Fotos und „Beweisunterlagen“.
Viele der Männer hatten vorgefertigte Erklärungen unterschreiben müssen: „Ich erkläre, dass ich seit meiner Geburt homosexuell bin. Ich hatte in meinem Leben bereits mehrere Sexualpartner, alle waren erwachsen. Ich habe kein Interesse an Minderjährigen.“
Ein nachhaltiges Trauma für die Schwulenszene
Diese groß angelegte, gezielte und koordinierte Jagd auf Schwule dürfte für Europa beispiellos sein. Für die Homosexuellenszene Polens hatte sie nachhaltige Folgen. Die Menschen waren verängstigt und traumatisiert, viele der Aktivsten zogen sich aus Angst vor staatlichen Schikanen und Demütigungen aus der Öffentlichkeit zurück.
War das womöglich der Zweck der gesamten Aktion: den politischen Homosexuellen-Aktivismus durch Einschüchterung und Repressionen im Keim zu ersticken?
Andrzej Selerowicz kennt diese These, aber er hält sie für nicht sehr schlagkräftig. Der gebürtige Pole war in den 1980er-Jahren für die österreichische Homosexuelle Initiative (HOSI) und die International Lesbian and Gay Association (ILGA) aktiv und stand in engem Kontakt zu Aktivisten in seinem Heimatland.
Durch diese Verbindungen hatte er unmittelbar nach Beginn der Razzien von der Operation „Hyazinth“ erfahren und mittlerweile mit vielen der damals Verhafteten Gespräche geführt. Keiner von ihnen wurde bei den Verhören zu Kontakten in die Homosexellenbewegung befragt. Lesbische Frauen blieben zudem gänzlich unbehelligt.
Schwule als potenzielle Virusträger
Eine andere Vermutung ist, dass mit der Datensammlung kompromittierendes Material über Regimegegner, zum Beispiel aus den Reihen von Solidarność, oder über Homosexuelle in der politisch einflussreichen katholischen Kirche zusammengetragen werden sollte. Doch so viel Aufwand, so viele Daten, nur um am Ende vielleicht wenige Dutzend politisch unliebsame Schwule erpressen oder bloßstellen zu können?
Andrzej Selerowicz erinnert an eine vergleichbare Verhaftungswelle 1981, unmittelbar nachdem in Polen das Kriegsrecht ausgerufen worden war. Damals waren rund 3.000 Funktionäre und Sympathisanten der Solidarność in Haft genommen worden. Sollten Schwule eine noch größere Gefahr darstellen als seinerzeit die polnische Gewerkschaftsbewegung?
Sicherlich keine politische, so doch aber eine gesundheitliche Gefahr – zumindest in den Augen des damaligen Innenministers Generał Czesław Kiszczak, der den entsprechenden Befehl an die Volksmiliz MO erteilt haben soll, wie Selerowicz erklärt. „Ich kann mich noch sehr genau an die wenigen Meldungen erinnern, die 1983/84 in der polnischen Presse zur Aids-Epidemie erschienen sind“, sagt er. Dort sei im Zusammenhang mit HIV stets nur von der „Schwulenpest“ die Rede gewesen und immer wieder auf die Bedrohung hingewiesen worden, dass diese Seuche des Westens auch nach Polen schwappen könnte.
Wie diese Gefahr in den Griff zu bekommen wäre, dazu hatte ein Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums in einem Zeitungsbeitrag einen konkreten Vorschlag unterbreitet: durch die Quarantäne der Infizierten und die Einrichtung entsprechender Lager. Als betroffen, das heißt, als potenzielle Virusträger, galten ausschließlich Schwule.
Die Suche nach den verschwundenen Akten
Die offizielle Begründung der Aktion war freilich eine andere. Man habe damit der vermeintlich „milieutypischen Kriminalität“ – gemeint waren Diebstahl, Raub, Prostitution – Einhalt gebieten wollen. So war es zumindest wenige Wochen nach Beginn der Aktion in der Zeitschrift „W Służbie Narodu” (Im Dienste der Nation) zu lesen, einer Fachpublikation für Polizei- und Militärangehörige.
Über zwei Jahre hinweg wurden weiter Razzien und Verhöre durchgeführt, aber auch danach wurden bereits bestehende Akten noch weiter ergänzt. Belege dafür, dass die Unmengen an gesammelten Informationen tatsächlich auch genutzt wurden, gibt es allerdings nicht.
Nach der Wende in Polen 1989/90 haben einige der Betroffenen wie auch Journalisten immer wieder versucht, Einblick in die Akten zu erhalten. Theoretisch müssten sie im Institut des Nationalen Gedenkens IPN lagern. In dieser der Stasi-Unterlagen-Behörde vergleichbaren Einrichtung werden Dokumente des ehemaligen polnischen Staatssicherheitsdienstes bewahrt.
Doch dort sind die Akten nicht aufzufinden. Das Institut gab im Lauf der Jahre unterschiedliche Auskünfte. Mal will man sie nie erhalten haben, dann sollen sie bereits vernichtet worden sein. Wurden sie, womöglich unter einer falschen Signatur, bewusst versteckt? Wurden sie entwendet, um damit womöglich eines Tages unangenehme politische Gegner erpressen zu können? Zumindest in den Anfangsjahren des Instituts war es für politische Funktionsträger sehr einfach, direkten Zugang zu den Archiven zu bekommen.
Für Andrzej Selerowicz ist die Geschichte der Akten mindestens ebenso unglaublich wie die Operation „Hyazinth“ selbst. Für eine historisch genaue Aufarbeitung fehlten allerdings immer noch entscheidende Fakten, und es seien weiterhin wesentliche Fragen offen, sagt er.
Noch viele offene Fragen, doch wenig Interesse an den Antworten
Doch zu seiner eigenen Überraschung gebe es recht wenig Interesse der schwulen Szene, Antworten darauf zu bekommen. Jene, die damals von der Verhaftungswelle betroffen gewesen seien, hätten mit diesem Kapitel abgeschlossen und wollten nicht mehr mit der Vergangenheit konfrontiert werden, so seine Vermutung. „Und die Jüngeren haben ihre eigenen Probleme und Themen und interessieren sich nur wenig für die schwule Geschichte.“
Um die Erinnerung an diese entscheidenden, aber langsam in Vergessenheit geratenen Ereignisse wach zu halten, hat Selerowicz alle bisherigen Rechercheergebnisse in Form eines dokumentarischen Romans aufbereitet. Sein Politkrimi „Kryptonim ‚Hiacynt‘“, in dem die tatsächlichen Ereignisse mit fiktionalisierten Erlebnissen von Freunden und Bekannten verknüpft sind, ist vor wenigen Monaten auf Polnisch erschienen. Derzeit ist man bemüht, auch einen deutschen Verlag für das Buch zu finden.
Unterdessen setzt Andrzej Selerowicz seine Suche fort. Er ist sich sicher: Auch wenn tatsächlich alle Akten vernichtet sein sollten, muss es Anordnungen, Einsatzpläne, Beratungsprotokolle geben, aus denen die Hintergründe der Aktion „Hyazinth“ hervorgehen.
Von Axel Schock