Ich habe schon etwas länger überlegt, wie ich dieses Thema gut formulieren kann, aber eben gerade ist ein Zeit-Artikel veröffentlicht worden, der die Sache auf den Punkt bringt.
Die Autorin Annika Reich beschreibt in diesem Artikel sehr differenziert, warum der in der amerikanischen Gesellschaft geprägte Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung, der aktuell häufig im Zusammenhang mit Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisengebieten verwendet wird, nicht passend sein muss.
Der Begriff des Traumas und der Posttraumatischen Belastungsstörung wurde nach dem Vietnamkrieg für amerikanische Soldaten geprägt, die aus einer heilen Welt kamen, dann in eine traumatische Kriegssituation geschickt worden sind, und danach in eine heile und komplett sichere Welt zurückkehrten.
Dieses Konzept ist aber nicht unmodifiziert übertragbar auf viele der Flüchtlinge, Vertriebene und Menschen, die fortgesetzt Gefahren und Verfolgungen ausgesetzt sind.
Die Ausgangssituation ist eine komplett andere für einen Menschen, der noch kein bestätigtes Aufenthaltsrecht, keinen dauerhaften Wohnraum, keine Aussicht auf Arbeit und Lebensunterhalt hat. Und noch einmal ganz anders für Menschen, die damit rechnen müssen, dass ihre körperliche und psychische Unversehrtheit auch in Zukunft noch gefährdet sein wird.
Daher sind auch die Behandlungskonzepte, die für die amerikanischen Soldaten entwickelt worden sind und hier auch wirksam waren, nicht 1:1 übertragbar. Die Psychotherapiemethode der Imagination eines Sicheren Ortes
mit dem Ziel der Distanzierung von traumatisierenden Erlebnissen ist für einen Menschen ohne geklärtes Aufenthaltsrecht kaum hilfreich.
Auch haben andere Kulturen oft ein anderes Verständnis von Trauma. Annika Reich beschreibt, dass in der afrikanischen Kultur traumatisierte Frauen weniger als Opfer und mehr als Überlebende konzeptualisiert werden, was eine andere Qualität heilsamer Ressourcen in den Vordergrund rückt. Auch spielt es in anderen Kulturen eine größere Rolle, Teil einer funktionierenden und schützenden Gemeinschaft zu sein, als dies im Westen der Fall ist.
Der Artikel ist mehr als lesenswert, ihr findet ihn hier.
Auch Menschen, die von den Terroranschlägen in Paris traumatisiert worden sind, sind in einer anderen Lage, als die amerikanischen Soldaten nach dem Vietnam-Krieg. Sie sind in einer Hinsicht in einer schlechteren Lage. Denn ihr Sicherheitsgefühl ist ja zu Recht erschüttert. Es kann tatsächlich niemand garantieren, dass der nächste Anschlag nicht schon geplant ist und kommen wird.
Das heißt natürlich nicht, dass man für Flüchtlinge, Verfolgte oder jetzt in Paris, Frankreich und der gesamten westlichen Welt erschütterte Menschen keine wirksame Psychotherapie anbieten kann.
Aber man muss anerkennen, dass die bisherigen Modelle nicht unverändert passen und nicht einfach übertragen werden können. Dies könnte in manchen Fällen sogar schaden. Statt dessen ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Ressourcen dem jeweils Betroffenen Menschen wirklich helfen können.
Ich denke, dass wir Menschen aus der ersten Welt von Menschen aus der dritten Welt werden lernen können und lernen müssen, ein gewisses Gefühl der Unsicherheit zu akzeptieren und damit umzugehen. Und wir tun gut daran, neu zu überdenken, welche Behandlung zu welcher Zeit einem traumatisierten Menschen wirklich helfen kann.
Also: Lernen wir von den Traumatisierten Flüchtlingen, welcher Umgang ihnen hilft, sich wieder zu stabiliseren. Lernen wir von feministischen Aktivistinnen, die Qualität der Überlebenden hervorzuheben. Lernen wir von Afrikanerinnen und Afrikanern, den Wert einer Gemeinschaft, die zusammen hält, zu schätzen.
Wenn wir das von den Betroffenen gelernt haben, und wenn wir den Traumatisierten durch vernünftige Politik sichere Rahmenbedingungen geschaffen haben, dann können wir anfangen, mit einer neuen Psychotherapie zu helfen.
Einsortiert unter:Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie Tagged: Flüchtling, Trauma