Unter den Flüchtlingen, die den gefährlichen Weg bis nach Deutschland geschafft haben, sind auch viele Lesben, Schwule und Trans*. Wie aber ergeht es jenen, die im Libanon ausharren? Eindrücke von einer Reise nach Beirut.
Die Organisation Proud Lebanon bietet nicht nur Rechts- und Gesundheitsberatung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans* Menschen, sondern kümmert sich auch um die vielen LGBT-Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten, die in Beirut Zuflucht gefunden haben. Im Juni war „Proud Lebanon“-Mitbegründer Bertho Masko nach Berlin gekommen, um die Arbeit der Schwulenberatung kennenzulernen.
Stephan Jäkel, Leiter der Abteilung HIV und Prävention der Schwulenberatung Berlin, ist kürzlich von einem Gegenbesuch aus Beirut zurückgekehrt – mit bewegenden Eindrücken. Axel Schock hat sie für magazin.hiv protokolliert.
„Proud Lebanon ist uns, was die Arbeit mit LGBT-Flüchtlingen angeht, in vielem weit voraus. Ich wollte daher die Gelegenheit nutzen, die Situation vor Ort kennenzulernen. Acht Tage habe ich in Beirut, mit Abstechern nach Byblos und Sidon, verbracht. Acht Tage, in denen ich dank Bertho vielen Menschen begegnen und einen Einblick in das Leben von LGBT im Land gewinnen konnte, wie es mir sonst ganz sicher nicht möglich gewesen wäre.
Seit ein paar Wochen zurück in Berlin, stelle ich fest, dass mich diese Begegnungen nachhaltig berührt haben. Meine Eindrücke sind subjektiv und nur ein kleiner Ausschnitt, sie zeichnen weder ein vollständiges Bild des Landes noch von libanesischen und geflüchteten LGBT.
Immer wieder wurde ich mit Familien- und Flüchtlingsdramen konfrontiert
Für mich waren diese acht Tage ein Wechselbad der Gefühle. Obwohl der Libanon direkt an Syrien grenzt, gab es einerseits diese touristischen, überaus spannenden Eindrücke: die Besichtigung von Byblos, mit 7.000 Jahren eine der ältesten dauerhaft besiedelten Städte der Welt und Entstehungsort des Vorläufers unseres Alphabets. Oder der Altstadt von Sidon mit ihren engen, verwinkelten Gassen und verschiedensten Läden, nebenbei der Genuss der libanesischen Küche und des arabischen Kaffees. Und dann noch das wunderschön gelegene, quirlige Beirut, das gleichzeitig seit Monaten im Müll und damit in Gestank zu ersticken droht, weil politische Skandale und Korruption eine geordnete Abfallentsorgung verhindern.
Und gleichermaßen wurde ich immer wieder mit Familien- und Flüchtlingsdramen konfrontiert, die mich in ihrer Anzahl und Ausweglosigkeit bewegten.
Ich habe einen schwulen Syrer kennengelernt. Er stammt aus dem östlichen, von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ besetzten Gebiet im Libanon. Seine Familie hatte ihn in flagranti mit einem Mann erwischt, Onkel und Bruder haben ihn eingesperrt und wollten ihn umbringen.
Seine Mutter hat ihm bei der Flucht geholfen. Seit eineinhalb Jahren arbeitet er nun ohne Papiere in einem Straßencafé: jeden Tag zwölf Stunden, sonntags sogar sechzehn. Sein Monatslohn beträgt 300 Dollar. Sein vier Quadratmeter großes Zimmer muss er sich mit einer anderen Person teilen.
Wenn er das Geld für die Mittelmeerüberfahrt hätte, würde er es wagen
Er habe mittlerweile über zehn Kilo abgenommen und fühle sich um zehn Jahre gealtert, erzählte er mir. Er sei einfach nur ausgelaugt und müde. Wenn er das Geld für die Mittelmeerüberfahrt hätte, würde er es wagen. Aber bislang konnte er von seinem kargen Lohn noch nicht genügend sparen. Die Lebenshaltungskosten in Beirut sind in etwa so hoch wie in Berlin. Er hat ungeheure Angst vor dieser Überfahrt, aber verliert den Glauben an eine Alternative.
Zwar ist er über das UNO-Resettlement-Programm als syrischer Kriegsflüchtling für die Umsiedlung in ein Land in Europa oder Amerika registriert, aber er wartet seit nunmehr eineinhalb Jahren darauf, dass ein Staat ihn auch tatsächlich aufnimmt.
Wer in das Programm aufgenommen wird, wann und wohin eine Ausreise stattfindet – all das ist völlig zufällig. Deutschland beteiligt sich aktuell überhaupt nicht mehr an einem Resettlement-Programm. Dabei gibt es Tausende, die zum Teil seit Jahren auf eine entsprechende Nachricht und damit sichere Flucht warten. Die Unsicherheit und die Unzufriedenheit darüber treiben förmlich die Menschen, die es sich irgendwie leisten können, übers Mittelmeer.
Viele von den LGBT, die im Libanon leben, haben Freunde und Bekannte, die diesen Weg mit Schleppern genommen haben und angekommen sind. Aber es gibt auch viele, bei denen nach dem Aufbruch der Kontakt abgebrochen ist und von denen sie annehmen müssen, dass sie im Meer ertrunken sind.
Im Libanon leben geschätzte zwei Millionen Flüchtlinge bei circa 4,5 Millionen Libanesen. Es gibt so gut wie keine Unterstützung für Flüchtlinge. Offiziell sind die Grenzen dicht, es werden offiziell keine weiteren Flüchtenden ins Land gelassen. Von der UNHCR erhalten Flüchtlinge drei Monate lang 150 Dollar, um sich eine Bleibe finanzieren zu können. Danach sind sie wieder ganz auf sich allein gestellt.
Handys mit verräterischen Kontakten sind ein Todesurteil
Ich konnte in einem Haus übernachten, in dem auch viele LGBT-Flüchtlinge wohnen. Es ist für sie ein sicherer Ort. Mein Zimmer war ein ehemaliger Ladenraum im Erdgeschoss mit völlig verkleideten Schaufenstern und nur einem kleinen Oberlicht. Dadurch hatte es auch nachts über 30 Grad, und die hygienischen Bedingungen waren wirklich nicht die besten. Schon nach zwei Tagen habe ich überlegt, in ein teureres Hotelzimmer zu ziehen, während die Flüchtlinge diese Möglichkeiten über Jahre nicht haben.
In dem Haus habe ich einen schwulen Iraker getroffen, dessen Freund hingerichtet wurde und dem selbst die Flucht gerade noch geglückt ist. Die Ermordung von Schwulen ist ein Propagandamittel des „Islamischen Staates“. Handys mit verräterischen Kontakten bei Kontrollen oder Festnahmen sind ein Todesurteil.
Hinrichtungen finden öffentlich statt, werden aufgezeichnet und ins Netz gestellt. Ich habe aber auch konkrete Berichte von familiären „Ehrenmorden“, Misshandlungen und Gewalt gegen Schwule und Trans* gehört.
Eine trans* Frau ist von ihrer Familie verstoßen worden, aber ihre jüngere Schwester und ihre schwerbehinderte Mutter sind mit ihr zusammen aus Syrien geflohen. Wir haben sie in ihrem winzigen Zimmer in einem sehr ärmlichen Stadtteil besucht, in dem die drei seit über einem Jahr leben. Es gibt keine Küche, die Toilette hat keine Tür. Die Mutter ist bettlägerig. Die trans* Frau sorgt allein für den Lebensunterhalt. Wie fast allen LGBT-Flüchtlingen im Libanon bleibt auch ihr nur die Sexarbeit. Sie nennen es selbst „survivor sex“: Sex, um zu überleben.
HIV-Prävention ist dabei kaum möglich, und verbindliche Schätzungen zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten bei geflüchteten LGBT sucht man vergeblich. Dabei ist schon der Anteil der libanesischen Männer, die Sex mit Männern haben, an den HIV-Neuinfektionen in den vergangenen sieben Jahren von 15 auf 80 Prozent gestiegen.
Bei all den offensichtlich dramatischen Berichten über LGBT-Flüchtlinge im Libanon wird die Situation von libanesischen LGBT oft vergessen. Auch unter ihnen gibt es viele, die von zu Hause verstoßen wurden und Gewalt erlitten haben, auch hier kommt es zu Ermordungen.
Schwule Aktivisten werden zwangsverheiratet
Libanesische Aktivisten haben mir von Freunden erzählt, die offen schwul gelebt haben, aber dem Druck ihrer Familie nicht mehr standhalten konnten und zwangsverheiratet wurden. Sie verabschiedeten sich von ihren Freunden und Mitstreitern und fügten sich. Man kann als Gast aus Deutschland nur erahnen, welche Dramen sich da abspielen – und was in den Köpfen der Freunde vor sich geht.
Meine letzte Nacht in Beirut hatte ich in einem Schwulenclub verbracht. Beirut sei DIE schwule Partystadt in der gesamten Region, hatte ich immer wieder gehört. Und es stimmt auch: Es gibt tolle Locations, und die Menschen verstehen es zu feiern und Freiräume für sich zu nutzen.
Allerdings sind homosexuelle Handlungen illegal, sie sind als „Akt gegen die Natur“ kriminalisiert. Damit es bei ihren Veranstaltungen sittsam zugeht, beschäftigen Partybetreiber Security-Personal als Aufpasser. Wenn zwei Männer zu aufreizend miteinander tanzen oder sich küssen, werden sie mit einem Laserpointer angeleuchtet und dadurch aufgefordert, es zu unterlassen. Die Partygäste nehmen es gelassen und loten die Grenzen beständig aus. Auch auf den Toiletten gibt es Wachpersonal. Es achtet darauf, dass auch wirklich nur so viele Leute den Raum betreten wie Pissoirs oder Kabinen zur Verfügung stehen.
Safer-Sex-Plakate könnten als Aufforderung zu „unsittlichen Handlungen“ ausgelegt werden
Die Partyveranstalter bewegen sich auf einem sehr schmalen Grat. Sollte die Polizei bei einer Razzia Anzeichen von „unsittlichem Verhalten“ entdecken, würden nicht nur die Clubbetreiber, sondern auch alle anwesenden Gäste verhaftet werden. Safer-Sex-Plakate und andere Präventionsmaterialien wird man in solchen Partylocations nicht finden, denn das würde als Aufforderung zu unsittlichen Handlungen ausgelegt werden.
Ich konnte mich aufgrund dieser Reglementierungen und meiner Unkenntnis der Codes und Grenzen nicht so entspannen und mitreißen lassen. Mir ist noch einmal bewusst geworden, wie sehr ich meine Möglichkeiten und meine Freiräume für selbstverständlich nehme: dass ich als schwuler Mann offen leben kann, dass ich an schwulen Projekten mitarbeiten kann, ganz legal – und sogar mit staatlicher Unterstützung.
Meine Hochachtung vor den LGBT-Aktivist*innen in Beirut ist nach dieser Reise noch einmal gestiegen, vor ihrem Mut und vor dem, was sie bereits erreicht und was sie sich noch vorgenommen haben.
Neben dringend benötigten sicheren Fluchtrouten nach Europa durch funktionierende und schnelle Resettlement-Programme wünsche ich mir, dass Europa und Deutschland in Förderprogrammen vor Ort auch LGBT-Strukturen stärken. Es wird nicht genug sein, aber wäre ein Anfang.“