Angelika ist seit einem Unfall vor dreißig Jahren querschnittsgelähmt und weiß seitdem von ihrer HIV-Infektion. Im Interview erzählt die 57-Jährige von ihrem Leben mit der doppelten Behinderung und davon, wie sie sich nicht unterkriegen lässt.
Angelika, du hast in deinem Leben schon einige Tiefpunkte erleben müssen.
Das kann man wohl sagen.
Im vergangenen Jahr erst wurde bei dir Krebs diagnostiziert.
Die Therapie habe ich zum Glück hinter mir, aber durch die Bestrahlungen sind nun Teile des Gewebes in Mitleidenschaft gezogen, was zu Dekubitus (Druckgeschwür, Anm. d. Red.) geführt hat. Ich liege deshalb nun schon die zweite Woche im Krankenhaus. Langsam reicht’s mir auch. Man kommt sonst ja gar nicht zu Kräften
Wie überstehst du solche Tiefpunkte?
Ich habe dafür kein Patentrezept. Diese Haltung hat mir vielleicht meine Mutter in die Wiege gelegt: Wer auf die Schnauze fällt, muss auch wieder aufstehen. Natürlich habe ich meine Downs, und die zelebriere ich dann aber auch. Ich lege mich aufs Sofa, und alle müssen mich in Ruhe lassen. Ich leide im wahrsten Sinne vor mich hin, schimpfe auf Freunde, die sich angeblich nicht um mich kümmern, und auf Gott und die Welt. Aber nach spätestens zwei, drei Tagen ist damit wieder Schluss. Ich raffe mich auf und mache mir einen Plan, wie’s weitergehen soll.
„Natürlich habe ich meine Downs“
So hast du es auch bei der Krebsdiagnose gehalten?
Die Ärzte waren davon ausgegangen, dass der Krebs bereits so weit fortgeschritten ist, dass er auch durch Bestrahlung nicht weggehen würde. Ich habe diese Information aufgenommen, ohne mich weiter damit auseinanderzusetzen, was sie nun eigentlich bedeutet. Ich sage den Ärzten immer, dass ich nicht zu viele Detailinformationen möchte. Ich habe auch ein Recht auf Nichtwissen. Ich will mich nicht von Dingen verrückt machen lassen, die eventuell kommen könnten. Wenn’s so kommen soll, dann kommt’s. Diese Art des Umgangs hat mich immer oben gehalten. So war es auch bei meiner HIV-Diagnose. Andere HIV-Positive warten immer ganz sorgenvoll auf ihre neuen Blutwerte und wissen ganz genau Bescheid über die schlimmstmöglichen Krankheitsverläufe. Ich will mich damit aber nicht beschäftigen, das würde mich auffressen.
Deine HIV-Diagnose hast du 1985, also vor ziemlich genau dreißig Jahren bekommen.
Ja, ich habe jetzt doppeltes Jubiläum: 30 Jahre HIV und 30 Jahre Rollstuhl.
Was war passiert?
Ich hatte einen Autounfall. Ich hätte besser nicht einsteigen sollen, denn der Fahrer war alkoholisiert.
Die HIV-Infektion wurde dann während deines damaligen Krankenhausaufenthaltes festgestellt.
Damals durften die ja bei Risikogruppen noch Blutuntersuchungen machen, ohne die Patienten vorher um Erlaubnis zu fragen. Und als Drogengebraucherin gehörte ich dazu. Ich gehe davon aus, dass ich mich über getauschte Spritzen infiziert habe, mit HIV und auf dem gleichen Weg auch mit Hepatitis C. Als der Arzt zu mir sagte, dass ich HIV-positiv bin, wusste ich mit diesem Befund noch gar nicht so viel anzufangen. Das ging damals fast allen so. Meine Mutter, die gerade zu Besuch war, fing an zu weinen und wurde vom Arzt gleich angeschnauzt: „Es geht jetzt um Ihre Tochter und nicht um Sie!“ Man gab mir noch maximal fünf Jahre – diese Prognose war damals ganz realistisch. Die Ärzte hatten mir außerdem noch eine Chance von ein, zwei Prozent gelassen, dass es mit dem Laufen eines Tages doch wieder klappen würde. Darauf aber brauchte ich nicht mehr zu hoffen. Ich habe diesen doppelten Schock, HIV-positiv und querschnittsgelähmt zu sein, runtergeschluckt und dann einfach ausgeblendet.
„Eine Art innere Blockade, die mich geschützt hat“
Das Virus ist ja nicht sichtbar und hat dein Leben zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht beeinträchtigt. Das lässt sich leicht verdrängen. Wie bist du aber damit umgegangen, dass du querschnittsgelähmt bist?
Ich hatte darauf erst einmal gar nicht reagiert. Vielleicht lag es daran, dass ich wegen meiner Entzugserscheinungen Morphin bekommen hatte und deshalb diese Situation gefühlsmäßig nicht so richtig wahrgenommen habe. Mich hat dieser Zustand nach einer Weile allerdings selbst irritiert, und ich habe meinen Vater gebeten, mir so viele Modezeitschriften mitzubringen, wie er kriegen kann. Ich hab dann diese Magazine durchgeblättert und mir all die Fotos mit den Mädchen und ihren hübschen Beinen angesehen, die sich da in Pose werfen und in die Luft springen. Aber es rührte sich nichts, ich konnte nicht weinen. Das hat mich mindestens ebenso erschreckt wie die Tatsache, dass ich nie mehr würde laufen können. Das war wohl eine Art innere Blockade, die mich aber geschützt hat.
Gab es dann einen verspäteten Zusammenbruch?
Nein, eigentlich nicht. Ich hatte das Glück, dass meine ganze Familie fest zu mir gehalten hat und keiner von ihnen wegen der HIV-Infektion Berührungsängste hatte. Meine Schwester ohnehin nicht, denn sie war wie ich ebenfalls drogenabhängig und selbst auch infiziert.
Wie hat sich dieser neue Lebensabschnitt als nunmehr Behinderte gestaltet?
Ich konnte nach dem Unfall länger als unbedingt notwendig im Krankenhaus bleiben und so war ausreichend Zeit, für mich eine passende Wohnung zu finden. Andernfalls wäre ich wohl in einem Pflege- oder Altersheim gelandet und dort schwerlich wieder rausgekommen. Im Krankenhaus war natürlich alles barrierefrei, die Türen gingen automatisch auf. Vom tatsächlichen Leben draußen im Rollstuhl hatte ich noch überhaupt keine Vorstellung.
„Vom Leben im Rollstuhl hatte ich überhaupt keine Vorstellung“
Wie bist du nach der Entlassung aus dem Krankenhaus mit der neuen Lebenssituation zurechtgekommen?
Anfangs war das schon etwas komisch; alleine schon, dass man nicht mehr auf Augenhöhe mit den Menschen spricht. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass mich alle Leute mit mitleidigen Blicken anstarren. Vielleicht habe ich das auch instinktiv ignoriert. Ich habe damals auch recht schnell gute Freunde gefunden. Das hat sehr geholfen.
Du hast dich dann in Hamburg in der Behindertenselbsthilfe engagiert. Wie kam es dazu?
Rollstuhlfahrer sind in der Regel recht fit. Sie organisieren ihr Leben weitgehend selbst und benötigen deshalb für sich auch keine Selbsthilfegruppe. Ich habe dann aber doch ein paar motivierte Rollstuhlfahrer gefunden und den Verein „On the Move“ gegründet. Wir haben zusammen ein paar recht erfolgreiche Aktionen durchgeführt. So sind wir mit Journalisten durch die Stadt gegangen, um darauf aufmerksam zu machen, wo es an Barrierefreiheit fehlt. Für eine Plakataktion habe ich mich, nur mit einem BH bekleidet und rittlings auf einem Mann sitzend, fotografieren lassen. Unser Slogan lautete „Wir wollen so leben wie du, du und du“. Wir wollten damit gegen das Bild des pflegeleichten, bemitleidenswerten und einfach zu verwaltenden Behinderten angehen.
Wann hattest du Kontakt zur Aidshilfe bekommen?
Das war Ende der Achtzigerjahre in Hamburg. Ich wollte mich zu HIV und Aids beraten lassen. Ich hatte das Thema ja jahrelang ausgeblendet.
Du warst also nicht in Behandlung?
Die Infektion hatte mich in meiner Lebensqualität nicht beeinträchtigt und ich hatte keinerlei Beschwerden. Deshalb sah ich auch keine Notwendigkeit. Mein Arzt wusste natürlich, dass ich positiv bin, aber ich habe keine Medikamente genommen. Es gab auch noch nichts Verlässliches. Und bei dem, was es gab, zum Beispiel AZT, erschienen mir die Nebenwirkungen schlimmer als die Krankheit selbst. Das hatte ich bei meiner Schwester gesehen, und diesen Mist wollte ich nicht mitmachen.
Mein Arzt hatte mich dann aber doch mal auf eine Studie hingewiesen, die im Klinikum Eppendorf durchgeführt wurde. Ich bin dann dort auch hin und bekam zwei riesige Einweggläser mit Pillen, die waren scheußlich grün und blau eingefärbt. Von denen sollte ich morgens einen Suppenteller voll schlucken, mittags hing ich dann überm Klobecken und musste mich übergeben. Drei Tage lang habe ich das mitgemacht. Das hatte aber nichts mehr mit Lebensqualität zu tun, da wollte ich lieber etwas zeitiger sterben. Erst als dann die Dreierkombination aufkam, habe ich eine Therapie begonnen. Die Pillen waren dann auch viel kleiner – und auch nicht so schrecklich bunt (lacht)!
„Ich sah es an der Zeit, diese beiden Themen zusammenzubringen“
Du bist dann sogar zur Aids-Aktivistin geworden. Wie kam es dazu?
Das war, nachdem ich von Hamburg aufs Dorf in die Nähe von Ratzeburg gezogen bin. Eigentlich hatte ich lediglich im Bürgerbüro nach der Behindertenbeauftragten gefragt und wurde da ganz patzig abgefertigt: Dazu seien sie gar nicht verpflichtet! Damit wollte ich die nicht durchkommen lassen. Daraufhin habe ich mir überlegt: Was will ich eigentlich? Wieder in der Behindertenselbsthilfe aktiv werden und denen Dampf machen? Ich bin aber nicht nur behindert, sondern auch HIV-positiv, und deshalb sah ich es an der Zeit, diese beiden Themen zusammenzubringen. Ich habe damals aber nicht geahnt, welche Welle der Empörung und Sprachlosigkeit ich damit auslösen würde.
Was ist denn passiert?
Ich wurde immer wieder gefragt, was denn das eine mit dem anderen zu tun habe. Doch auch Menschen mit Behinderung sind nicht gegen eine HIV-Infektion gefeit, und Menschen mit HIV nicht gegen eine körperlichen Behinderung. Die Leute waren oft irritiert, wenn ich die beiden Themen in einem Atemzug nannte, aber dadurch kam ich mit ihnen auch immer sehr gut ins Gespräch. Mich nervt es kolossal, wenn Leute jammern, dass sie diskriminiert werden, und sich dann in Selbsthilfegruppen zurückziehen, in denen sich beispielsweise nur Menschen mit Multipler Sklerose oder nur Rollstuhlfahrer zusammenfinden. Die merken gar nicht, dass die sich ganz von selbst isolieren. Sicherlich braucht man auch mal den Rahmen und die Zeit, um nur unter sich zu sein und zu reden, aber ich mag es nicht, wenn man sich in Gruppen derart einigelt.
„Ich habe dafür gesorgt, dass HIV auch unter Behinderten thematisiert wurde“
Wie bist du dann konkret aktiv geworden?
Das ging dann ganz schnell. In Ratzeburg wurde damals am 5. Mai noch nicht der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung begangen, und das wollte ich ändern. Ich habe damals Kontakt zu anderen Selbsthilfegruppen aufgenommen, meine Idee vorgestellt und auch einen Flyer vorbereitet. So waren im ersten Jahr schon sechs, sieben Gruppen mit Ständen am Protesttag beteiligt, und ich habe dafür gesorgt, dass HIV auch unter Behinderten thematisiert wurde. 2008 hab ich dann die „HIV und BehindertenSelbsthilfe Schleswig Holstein“ mitgegründet.
Wie wird deiner Erfahrung nach in der HIV-Community mit Menschen mit Behinderung umgegangen?
HIV-Positive verhalten sich da grundsätzlich nicht viel anders als andere. Meiner Ansicht nach kommt es immer auch darauf an, wie man selbst auf die Leute zugeht. Ich denke, dass ich recht offen wirke, und ich trage meine Behinderung und mein Leid nicht vor mir her. Vielleicht habe ich deshalb auch nie sonderlich negative Erfahrungen gemacht – wenn man vom rücksichtslosen Parken auf dem Behindertenparklatz mal absieht.
2013 hast du dich als Botschafterin des Welt-Aids-Tages engagiert.
Da war ein schönes Erlebnis. Nur das Foto war schrecklich! So würde ich mich nie mehr fotografieren lassen. Ich sah aus wie Mutter Beimer, und so bin ich ganz gewiss nicht. Wir beide gaben da auf dem Bild eine ganz schon dröge Truppe ab (lacht)!
Du warst gemeinsam mit deinem Ehemann auf dem Plakat zu sehen.
Wir leben inzwischen getrennt, aber er ist weiterhin an meiner Seite, gerade jetzt, während meiner schweren Zeit mit der Krebserkrankung, nimmt er alle Mühen auf sich und erträgt auch meine wechselhaften Launen.
Das Bundesarbeitsgericht entschied 2013, dass die HIV-Infektion einer Behinderung gleichzusetzen ist. Manche Positive haben Schwierigkeiten mit dieser Entscheidung, weil sie sich eben nicht als Behinderte fühlen beziehungsweise nicht als behindert betrachtet werden wollen.
Menschen, die durch ihre HIV-Infektion keine größeren Einschränkungen haben, können durch den Behindertenstatus zumindest zwei wichtige Nutzen ziehen. Zum einen bietet er in manchen Bereichen eine rechtliche Absicherung. Zum anderen sind Zuzahlungen bei Rezepten auf ein Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt reduziert. Auch wenn es einem im Großen und Ganzen mit der HIV-Infektion gut geht, hat man doch ab und an Mehrausgaben, und manche müssen eben mit jedem Euro rechnen. Nicht jeder HIV-Positive hat einen gut bezahlten Job, viele leben eben auch von der Grundsicherung oder Hartz IV. Und wer meint, dass er sich durch HIV nicht behindert fühlt, ist ja nicht gezwungen, sich als behindert zu bezeichnen oder sich einen Behindertenausweis zu holen.
Interview: Axel Schock
Titelfoto: mit freundlicher Genehmigung des Fotografen René Lüdke, www.rl-fotoshooting.de
Weitere Informationen:
Interview mit Angelika in „Rolling Planet – Magazin für behinderte Menschen, Senioren und andere Sensationen“