„Politisch war alles“

Am 7. Dezember 1985 konstituierte sich die 1983 gegründete Deutsche AIDS-Hilfe als Dachverband von damals 27 örtlichen Aidshilfen.

Im Januar 1985 bot der erste Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe auf einem Bundestreffen in Köln den anwesenden Aidshilfen an, künftig als Dachverband zu fungieren. Auf dem 1. Koordinationstreffen der Aidshilfen im April 1985 im Waldschlösschen bei Göttingen wurde das Vorhaben auf den Weg gebracht: Ein Interimsbeirat wurde bestimmt und beauftragt, die bisherige Satzung so zu ändern, dass sie einem Bundesverband gerecht wird. Die neue Satzung wurde dann mit überwältigender Mehrheit auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 7. Dezember 1985 in Berlin beschlossen.

Gerd Paul erinnert sich an die spannenden wie auch konfliktreichen Anfangsjahre der DAH als Dachverband:

Die größte Herausforderung unserer im Februar 1985 beginnenden Amtszeit als Vorstände der Deutschen AIDS-Hilfe – neben mir noch Jürgen Roland und Ian Schäfer – bestand darin, vieles gleichzeitig anzugehen.

Die Notwendigkeit, die Förderung durch Mittel des Bundes durchzusetzen, war verknüpft mit dem Erfordernis, aus dem lokalen Verein DAH einen Bundesverband zu machen. Die Forderungen der DAH waren durch die Beteiligung der verschiedenen Aidshilfen erstmals bundesweit politisch zu legitimieren und einheitlich zu vertreten. Dazu wurde eine Geschäftsstelle eingerichtet, in der die anstehenden Aufgaben bearbeitet werden konnten: Vernetzung und Koordination der regionalen Aidshilfen, Entwicklung erster Präventionsaussagen und -medien, offensive Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit in Bonn, Schutzfunktion gegenüber Diskriminierten und Betroffenen – und das alles mit minimalen finanziellen Eigenmitteln.

„Es galt, Durststrecken zu überstehen und Spannungen auszuhalten“

Es galt, Durststrecken zu überstehen und Spannungen auszuhalten und zu verringern: zwischen den Erwartungen Betroffener an uns und unserer objektiven Leistungskraft, zwischen unseren dringlicher werdenden Forderungen nach staatlicher Förderung und der so zögerlich handelnden Gesundheitsverwaltung in Bonn. Gleichzeitig musste einer hysterischen öffentlichen Berichterstattung gegengesteuert werden. In solch einer Situation erfolgreich zu bestehen, ist nur erklärbar durch die persönliche Verbundenheit des Vorstands und des zunächst rein ehrenamtlichen Teams.

Spätestens seit der ersten großen öffentlichen Veranstaltung der DAH und Rosa von Praunheims am 17. Juni 1985 im Tempodrom war die Existenz der Aidshilfe in das breite öffentliche Bewusstsein gedrungen – eine wesentliche Voraussetzung für unsere Durchsetzungskraft in den Bonner Gremien und Ausschüssen. Die Prominenz unserer Fürsprecher – unter ihnen Alfred Biolek, Lea Rosh, Konstantin Wecker, Herbert Grönemeyer, Wolf Biermann, Ina Deter, Inge Meysel und Brigitte Mira – hatte damals einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert.

Nach dieser Veranstaltung hatte die DAH zum ersten Mal einen nennenswerten Betrag auf ihrem Konto, mit dem das weltweit bekannteste Präventionsplakat an die Adresse der Schwulen produziert werden konnte. Der Text auf dem Plakat – „Sicher besser – Safer Sex“ – führte kurzfristig zu einem nahezu schismatischen Konflikt zwischen den am Entscheidungsprozess beteiligten Aidshilfen. Die Gegenposition forderte: „Sex? Na sicher – Safer Sex“. Polarisierungen zu überbrücken, war im Interesse unseres politischen Überlebens und unserer Arbeitsfähigkeit.

„Moralisch anstößig waren zwei nackte Männertorsi oberhalb der Gürtellinie“

Das Plakat hat auf anderer Ebene noch einmal Probleme verursacht: Es war zu schwul. Moralisch anstößig waren 1985 zwei nackte Männertorsi oberhalb der Gürtellinie! Auch hier politisch Bewegung hineinzubringen, war ständige und zum Teil sehr frustrierende Aufgabe unserer Vorstandszeit. Die Thematisierung von schwulem Sex bedeutete damals das Rütteln an granitharten Tabus. Die Angst, angreifbar zu werden, war bei vielen Spitzenpolitikern immens. Mit dem Verweis auf die strikt zielgruppenspezifische Verbreitung dieser Medien konnten wir die „Risikobereitschaft“ der staatlichen Bewilligungsinstanzen erhöhen.

Schließlich gelang es uns im Herbst 1985, bis zum Ende des Haushaltsjahrs zu verwendende 300.000 DM Werkvertragsmittel zu bekommen. Der Erfolg stellte sich jedoch erst nach „geheimen“ Treffen mit Vertretern des Bundesgesundheitsministeriums sowie nach vielen Telefonaten und Regelungen mit gutwilligen Menschen aus der Verwaltung ein. Notwendig war jedoch in erster Linie die Mobilisierung der Gesundheitsexperten der Bundestagsfraktionen. Damit war es uns möglich, bei der Berliner AIDS-Hilfe das erste DAH-Büro – ein 10 qm großes Hinterhofzimmer – einzurichten, erstmals auch ständig erreichbar zu sein und der Arbeit eine gewisse Kontinuität zu geben.

„Die Bewilligung des Budgets wurde von einer Wette begleitet“

Im Januar 1986 wechselten wir in unsere ersten eigenen Amtsräume in der Berliner Straße – gegen den Widerstand der niedergelassenen Ärzte in demselben Haus (sic!). Die Bewilligung des Budgets für dasselbe Haushaltsjahr wurde von einer Wette begleitet: „Wenn Sie es schaffen, zwei Millionen DM in einem Jahr sinnvoll auszugeben, spendiere ich Ihnen einen Kasten Champagner“, so die damalige Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Wir schafften es: In den Schubladen unserer Schreibtische waren derart viele Vorhaben und Projekte aufgelaufen, dass die zwei Millionen DM innerhalb kürzester Zeit verplant und vor Jahresende ausgegeben waren. Die Wette indes ist bis heute nicht eingelöst worden.

Bei der BZgA in Köln verfolgte man damals das Ziel einer eher staatlich gelenkten und eingebundenen Aidshilfe, ein Ansatz, den wir strikt ablehnten. Auch dieser Konflikt durchzog bis zum Ende unserer Amtszeit alle finanzrelevanten Aktivitäten.

„Politisch“ war alles in diesem komplexen Problem- und Aufgabenfeld. Die administrative Verzögerung von Bewilligungen für Aufklärungsprojekte war genauso politisch gravierend wie die moralisch begründeten Bedenken im Umgang mit deutlichen Präventionsaussagen zu schwulem Sex oder die Frage der Präventionsrelevanz des HIV-Tests. Während wir in der Methadonfrage durchaus die Unterstützung der medizinischen Profession gegenüber der offiziellen Drogenpolitik erhielten oder in der Frage der finanziellen Unterstützung der Aidshilfe die Sympathie der Öffentlichkeit genossen, gab es bei der der „Test“-Frage eine breite Front gegen die damalige „Linie“ der Aidshilfe.

„Der HIV-Test war für die Medizin gleichbedeutend mit Prävention“

Die Testempfehlung und -durchführung war für die Medizin gleichbedeutend mit Prävention, sei es aus therapeutischer Ratlosigkeit, sei es aus Gründen der Datengewinnung. Das traf sich mit der Vorstellungswelt der breiten Öffentlichkeit („Wer sich infiziert hat, der muss das doch wissen!“) und der Argumentation fast aller (Gesundheits-)Politiker und -Politikerinnen.

Hier standzuhalten und realitätsnah der Behauptung „Test gleich Prävention“ entgegenzutreten, hat beträchtliche Kraft gekostet, zumal die Positionen innerhalb der Aidshilfen und der schwulen Klientel durchaus nicht eindeutig waren. Hinzu kam ein massiver persönlicher und politischer Druck – bis hin zur Drohung des Mittelentzugs und der Zahlungseinstellung. Erst durch die fundierte kritische Ablehnung einer pauschalen Teststrategie, die der Präventions- und Sozialwissenschaftler Rolf Rosenbrock 1986 formulierte, wurde der Druck auf uns erheblich geringer.

Weitere sozialwissenschaftliche Bündnispartner zu gewinnen, war ein gezieltes Anliegen für uns als DAH-Vorstände. Es gelang, einen kritisch-solidarischen Dialog mit Rolf Rosenbrock, Michael Bochow, Martin Dannecker und anderen zu beginnen und Kontakt mit ihnen zu halten, um von ihren Forschungsergebnissen und ihrer Kompetenz für unsere Konzepte und Strategien zu profitieren und einer Medikalisierung des Themas Aids vorzubeugen.

Die meisten unserer Ziele hatten wir bis 1987 erreicht: Arbeitsfähigkeit, Verbandsstruktur, Bundesförderung, selbstgestaltete Aufklärungsstrategie, öffentliche Meinungsführerschaft zum Thema Aids, Gegenmacht und Schutzfunktion. Im Ergebnis würde ich heute resümieren: Die DAH war zu diesem Zeitpunkt ein sehr junges, buntes und zartes Gewächs, fest entschlossen, das sich selbst gesetzte Vorhaben zu realisieren, aber auch sehr verletzbar. Schließlich agierten auf dieser von vielen Scheinwerfern beleuchteten Bühne nicht nur kraftstrotzende Anfang- oder Mittdreißiger in der Erwartung eines langen und erfolgreichen Lebenswegs, sondern viele, deren Lebensperspektive nicht über die nächsten zwei, drei oder vier Jahre hinausreichen sollte.

Das erste Memorandum der DAH als Abschlussarbeit

Das erste Memorandum der Deutschen AIDS-Hilfe vom Juni 1987 – sozusagen die Abschlussarbeit unserer Vorstandszeit – rundete diese Phase politischer Formierung und institutioneller Konsolidierung der DAH ab. Es galt, ein Motto zu modifizieren, das besonders zwischen 1984 und 1987 von verschiedensten Akteuren in Staat, Gesellschaft und Betroffenengruppen vertreten worden war: „Aids geht uns alle an“. Diese pauschale, undifferenzierte Präventionsaufforderung an die Gesellschaft insgesamt musste einer realistischeren Betrachtungsweise weichen: Die Infektionsrisiken betrafen eben nicht alle gleichermaßen, sondern waren sehr unterschiedlich verteilt.

Mit dieser „Hauptbotschaft“ des Memorandums konnte ein wichtiger Beitrag zu einer gesellschaftlich souveräneren Betrachtungsweise und Bearbeitung dieses Problems geleistet werden. Es hat nach 1987 keine vergleichbare, öffentlich geschürte Aidshysterie mehr gegeben. Die Deutsche AIDS-Hilfe, das wichtigste Sprachrohr der Betroffenen, wurde als gesundheitspolitisch relevante Instanz zu diesem Thema ernst genommen und nicht mehr überhört.

 

Gerd Paul

Bild des Autors vom Dezember 2015

Gerd Paul wirkte von 1983 bis 1985 am Aufbau der Berliner AIDS-Hilfe mit und war von 1985 bis 1987 zusammen mit dem Arzt Ian Schäfer († 1989) und dem Juristen Jürgen Roland Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe.

Zum 1. Januar 1986 bezog die Deutsche AIDS-Hilfe in Berlin ihre ersten eigenen Büroräume. Das Kalenderblatt „Zeiten der Panik“ von Axel Schock zu diesem Anlass findet sich hier.