Das Buch von Martin Bleif „Krebs – Die unsterbliche Krankheit“ ist im Klett-Cotta Verlag erschienen und wurde von der Stiftung Gesundheit zertifiziert. Der Autor verbindet als Radioonkologe die Informationen zur Krankheit mit seinen persönlichen und sehr berührenden Darstellungen. Denn seine Frau Imogen erkrankte wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter an Brustkrebs und verstarb knapp zwei Jahre später. In diesem Beitrag berichtet Bleif von der Entstehungsgeschichte des Buches.
Bis zu jenem Tag im April 2008 dachte ich, ich wüsste was es bedeutet, an Krebs zu erkranken. Seit fast 14 Jahren hatte ich als Radioonkologe in Klinik und Labor meine Zeit mit Krebs und mit Krebspatienten verbracht. Ich hatte tausende von Krebskranken kennengelernt, behandelt und war gerade zum stellvertretenden ärztlichen Direktor der Tübinger Universitätsklinik für Radioonkologie ernannt worden.
Und dann war es ein einziges Telefongespräch mit dem Direktor der Tübinger Pathologie von knapp einer Minute Dauer, das meinen Blick auf den Krebs radikal veränderte. Imogen, meine Frau, hatte Brustkrebs! Knapp acht Monate zuvor war unsere kleine Tochter geboren worden und vor nicht einmal sechs Monaten hatten wir noch unbeschwert Imogens 36. Geburtstag gefeiert.
Unmittelbar nach diesem Telefonat war mir klar, dass unsere kleine Welt, wie wir sie bisher gekannt hatten, gerade in Scherben gegangen war. Was aus den Splittern entstehen würde, das stand in den Sternen.
Krebs ist nicht nur eine tödliche Bedrohung und eine tiefe Erschütterung, die alle Aspekte des Lebens erfasst. Er ist auch eine tiefe persönliche Kränkung. Unser Körper scheint uns nicht nur im Stich zu lassen, Teile des Körpers wenden sich sogar gegen uns. Scheinbar ohne jedes Zutun von außen wächst tief in uns etwas heran, das uns die Solidarität aufgekündigt hat und das unser Leben bedroht.
Imogen wollte sich mit diesem unheimlichen Gesellen nicht arrangieren, aber sie wollte ihn kennenlernen. Imogen wollte wissen, warum ausgerechnet sie mit kaum mehr als 35 Jahren an Brustkrebs erkrankt war.
Um erst einmal durchzuatmen waren wir wenige Wochen später, zwischen zwei Chemotherapie-Zyklen, in ein Haus von Freunden an den Luganer See gefahren. Jetzt, mit ein wenig Distanz zum ersten Schock und zu den akuten Erfordernissen von Diagnostik und Therapie, kamen die Fragen. In dieser idyllischen Weltecke, abends auf der Terrasse, hoch über dem Luganer See, den Blick auf den See, die Berge und den sternklaren Nachthimmel gerichtet, begann zwischen mir und meiner Frau ein Gespräch über den Krebs, das uns während ihrer gesamten Erkrankung begleiten sollte. Heute habe ich den Eindruck, das war gut so!
Imogens Frage nach der Natur der Krebserkrankung öffnete die Tür: „Was zur Hölle ist Krebs eigentlich?“
Schon an dieser ersten Frage bissen sich Mediziner lange Zeit die Zähne aus. Ärzte kannten zwar schon lange potentielle Gefahrenquellen, Verdächtige, die offensichtlich Krebs auslösen, oder zumindest das Risiko erhöhen zu erkranken, wie energiereiche Strahlung, einige chemische Substanzen und auch manche Viren. Die größte solitäre und klar identifizierte Gefahrenquelle ist eindeutig das Rauchen. Tatsächlich sind vermutlich fast ein Drittel aller Krebskrankheiten weltweit auf den Tabakmissbrauch zurückzuführen. Wir kennen auch das Phänomen der Krebsfamilien, in denen ein hohes Risiko für bestimmte Krebskranheiten über Generationen vererbt wird. Die amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie ist ein aktuelles Beispiel, Napoleon Bonaparte ein anderes.
Aber allen Gefahren zum Trotz tritt Krebs nie zwangsläufig auf. Krebs ist weder eine Infektionskrankheit noch eine Vergiftung im klassischen Sinn. Krebs ist auch keine Erbkrankheit, auch wenn seltene Ausnahmen diese Regel bestätigen. Keiner der genannten Faktoren ist unbedingt notwendig, noch in jedem Fall hinreichend, um eine Krebserkrankung in Gang zu setzen.
Sie alle – Viren, Chemikalien, Strahlung und Vererbung – sind Teilstücke eines Puzzles, das bis in die 1980iger Jahre hinein noch niemand so recht zu einen stimmigen Bild zusammenfügen konnte.
Die Medizin unterscheidet heute je nach der Ursprungszelle, aus der die Erkrankung hervorgeht, über 200 unterschiedliche Krebsformen. Alle diese Erkrankungen werden sehr unterschiedlich behandelt und sie unterscheiden sich auch deutlich hinsichtlich der Chance auf Heilung. Die drei klassischen Säulen der Krebstherapie – die Chirurgie, die Strahlentherapie und die Chemotherapie – kommen in unterschiedlicher Weise, teils alleine, teils in Kombination miteinander zum Einsatz. Wo also ist der gemeinsame Nenner der Erkrankung?
Inzwischen kennen wir das „missing link“, das wie eine Art von individuellem Zufallsgenerator zwischen Ursache und Wirkung geschaltet ist. Wir kennen den Ort, in der sich vererbbare Eigenschaften mit der Wirkung von chemischen Substanzen, Viren und physikalischen Faktoren kreuzen und ihre fatalen Spuren hinterlassen.
Krebs ist eine Erkrankung der Gene. Chemische Veränderungen an der Erbsubstanz, unserer DNA, können fatale Folgen haben, wenn sie Gene betreffen, die für die Kontrolle des Wachstums und der Teilung von Zellen zuständig sind. Mutationen können Gene inaktiveren, die Zellen normalerweise Zügel anlegen oder sie können Genen überaktiv werden lassen, die Zellen zur Teilung anregen.
Allerdings liegt ein langer, vielfach verzweigter und nicht zwingend von Anfang an festgelegter Pfad zwischen einer Genmutation und dem Ausbruch einer Krebserkrankung. Krebs entsteht nicht über Nacht. Mehrerer Mutationen an kritischer Stelle müssen in einer Zelle zusammenkommen. Seine unselige Karriere vollzieht sich in Stufen, sodass zwischen den ersten Veränderungen tief im Innern einer Zelle und dem Zeitpunkt, in dem die Erkrankung als Krebs in Erscheinung tritt, oft Jahre liegen – Jahre, die sich nutzen lassen.
Imogens Neugier führte dann aber immer tiefer und immer weiter: Was geht dabei in unserem Körper vor? Wie viel Zufall und wie viel Notwendigkeit stecken hinter der Erkrankung? Setzt sich der Körper aktiv gegen den Krebs zur Wehr? Kann ich ihm dabei helfen?
Daneben tauchten ganz praktische Fragen auf: Wie sähe ein optimaler Schutz vor Krebs aus? Gibt es Dinge, die sinnvoll sind und jenseits dessen liegen, was gern mit dem dummen Begriff »Schulmedizin« bezeichnet wird? Was kann ich selbst tun? Und es stellten sich auch Fragen ein, die aus der Angst geboren wurden: Warum können Tumoren zurückkommen? Wie stellen sie das an? Wie und wo zeigt sich ein Rückfall? Gibt es dann noch Hoffnung?
Die Natur der Fragen wandelte sich mit der Zeit, denn unsere Reise sollte letztendlich in den Tod führen. Je mehr sich diese Reise dem Ende näherte, desto öfter wechselten unsere Rollen. Imogen wurde mein Lehrmeister und zeigte mir Facetten der Erkrankung, die ich vorher, beim Flug über das Land, aus der Vogelperspektive eines Onkologen, niemals erahnt hätte.
„Krankheit ist die Nachtseite des Lebens. [..] Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der gesunden und eine im Reich der Kranken“ schrieb die mehrfach vom Krebs betroffene Publizistin Susan Sontag. Die Mehrzahl von uns kennt das zweite, ungeliebte Land der Krankheit nur vom Hörensagen oder allenfalls von kurzen Stippvisiten.
Nach Imogens Tod habe ich versucht, die vielen, vielen Gespräche mit ihr in eine lesbare Form zu bringen. So entstand ein Buch über eine unfreiwillige Reise tief in den schier unendlichen Kontinent einer der unheimlichsten aller Krankheiten: Krebs. Dieses Buch erzählt nicht die Geschichte unserer Krankheit. Imogens Fragen sind der rote Faden, der durch das Buch führt. Es unternimmt den Versuch, sie zu beantworten, weil ich glaube, dass es Fragen sind, die sich in ähnlicher Weise tausende Menschen, die vom Krebs betroffen sind, immer und immer neu stellen.
Eine Erklärung bin ich bisher schuldig gebelieben: In welchem Sinn ist Krebs eine „unsterbliche Krankheit“? Nicht etwa, weil ich der Meinung bin, Krebs sei prinzipiell unbesiegbar. Viele Krebserkrankungen sind heute heilbar, Tendenz langsam weiter steigend.
Über den langen Weg der Medizin zur erfolgreichen Therapiestrategien, auch über die Irrungen und Wirrungen der Krebsforschung, über den Status quo der Krebstherapie heute, aber auch über die Gedankenspiele der Krebsforscher für eine Krebstherapie der Zukunft wird im zweiten Teil des Buches ausführlich berichtet.
Krebs ist in einem anderen, einem doppelten Sinn, eine „unsterbliche Krankheit“. Krebs entsteht, wenn sich Veränderungen in und an den Genen abspielen, die eine Zelle zum zügellosen Egoisten machen. Auf ihrem Weg zur Krebszelle kündigt sie nach und nach den uralten Solidarpakt mit dem Körper. Sie erwirbt dabei Eigenschaften, die sie im wahrsten Sinne des Wortes unsterblich macht.
Krebs entsteht durch kleine Fehler beim Kopieren unseres genetischen Textes, den drei Milliarden Buchstaben, die im Innern jedes unserer Zellkerne schlummern. Die Fehler bergen aber nicht nur tödliche Gefahren, sie sind gleichzeitig der Motor des Lebens. Ohne gelegentliche Abweichungen vom Text fände keine Evolution statt. Dieser „Konstruktionsfehler“ ist es, dem wir letztlich unsere Existenz verdanken. Er wird uns auf immer begleiten. Auch in diesem Sinn bleibt Krebs eine unsterbliche Krankheit.