Vor 22 Jahren wurde Jule Sandgi bei einer Vergewaltigung mit HIV infiziert. Wie das Trauma der Gewalttat und die Erkrankung bis heute ihr Leben bestimmen, davon erzählt die 48-jährige Dortmunderin im Interview.
Jule Sandgi war 25 Jahre alt, als sie Opfer einer Vergewaltigung wurde. Seitdem lebt sie mit HIV und ist mittlerweile schwer an Aids erkrankt. Aufgrund von Koordinationsschwierigkeiten und anderen krankheitsbedingten Beeinträchtigungen könnte sie ihren Alltag ohne Unterstützung nicht mehr meistern. Durch die Opferentschädigung finanzierten Begleiter ist es der ehemaligen Krankenschwester jedoch möglich, selbstständig zu leben und zudem in Schulklassen und Krankenpflegeschulen über die HIV-Infektion aufzuklären.
Jule, wie hast du von deiner HIV-Infektion erfahren?
Ich hatte unmittelbar nach der Vergewaltigung die typischen Symptome einer frischen HIV-Infektion. Die Ärzte vermuteten allerdings, dass ich an Pfeifferschem Drüsenfieber erkrankt war. Ich habe selbst nach einem Test gefragt. Die Ärzte hätten von sich aus keinen gemacht.
Es sollte sich als gute Entscheidung erweisen. Der erste Test war negativ ausgefallen. Beim Wiederholungstest etwa elf Wochen später wurden dann allerdings Antikörper nachgewiesen. Dadurch war klar, dass die HIV-Infektion durch die Vergewaltigung erfolgt sein musste.
In welchem Zustand warst du so kurz nach der Vergewaltigung?
Ich befand mich in einem Zustand extremer Nervosität. Ich konnte nicht mehr richtig schlafen und mich nicht mehr mit mir selbst beschäftigen. Ich habe deshalb ständig telefoniert oder saß vor dem Fernseher. Ich wollte, aber konnte nicht zur Ruhe kommen.
Wie hast du dieses zweite Schockerlebnis, das Testergebnis, aufgenommen?
Es war der 23. Dezember. Um mich abzulenken und zu beschäftigten, war mein Bruder mit mir zum Weihnachtsmarkt gegangen. Als ich abends nach Hause kam, hatte ich auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht von meinem Hausarzt, bei dem ich den Wiederholungstest gemacht hatte. Er bat mich um Rückruf, aber natürlich habe ich zu dieser Uhrzeit niemanden mehr in der Praxis erreicht.
Ich stand daher unter absoluter Hochspannung. Am späten Abend meldete sich dann der Arzt noch einmal. Und so erfuhr ich mein positives Testergebnis unter denkbar ungünstigen Umständen: am Telefon und kurz vor Heiligabend. Bis heute ist Weihnachten durch diese Erinnerung für mich belastet.
Ich habe damals natürlich nicht gedacht, dass ich noch mindestens 22 Jahre weiterleben würde. Ich hatte mich, wie die meisten Positiven damals, darauf eingestellt, innerhalb weniger Jahre zu sterben.
„Ich stehe seitdem unter permanenter Anspannung“
Inwieweit wirkt die Gewalttat heute noch nach?
Die Tat selbst habe ich bis heute nicht wirklich verarbeiten können. Aber ich habe mich zwangsläufig mit den Auswirkungen auseinandersetzen müssen. Die gibt es zum Beispiel im zwischenmenschlichen, aber auch im medizinischen Bereich.
Kannst du das näher erklären?
Ich stehe seitdem unter permanenter Anspannung. Ich bin sehr schreckhaft, etwa bei unerwarteten Geräuschen, aber auch, wenn mich jemand anfasst. Ich stoße damit natürlich im Medizinwesen auf sehr große Probleme und werde deshalb auch ganz offen als schwierige Patientin tituliert.
Manche Ärzte zeigen aber auch Einfühlungsvermögen und ersparen mir, soweit möglich, dass ich bei Untersuchungen den Pullover ausziehen muss, beispielsweise wenn das Herz abgehört werden soll.
Hast du versucht, die Folgeschäden der Vergewaltigung in einer Therapie zu verarbeiten?
Meine HIV-Infektion habe ich für mich von allen Seiten beleuchtet. Ich kann daher jederzeit vor anderen Menschen frei über meine Erfahrungen berichten. Ich gebe auch Unterricht im Bereich der Traumafolgestörungen, und das bereitet mir keinerlei Probleme.
Doch die Vergewaltigung, den Akt der Infektion selbst – das ist ein Bereich, über den ich bis heute nicht wirklich sprechen kann und mag, weil es für mich immer noch ein so verletzlicher und undurchdrungener Bereich ist. Es ist mir nicht gelungen, mich damit ausreichend auseinanderzusetzen, weil es bis heute zu belastend für mich ist. Ich habe in meinem Leben schon sehr viel überstanden und bewältigt, diesen Punkt schaffe ich allerdings nicht. Das habe ich mittlerweile für mich auch so akzeptiert.
„Solche Gefühle wie nach meinem Testergebnis hatte ich zuvor noch nie“
Hattest du damals Menschen um dich, denen du dich anvertrauen konntest?
Ich hatte als Krankenschwester bereits Menschen beim Sterben begleitet und dabei erfahren, welch tiefgreifende Lebensprozesse sie durchwandern können. Doch solche Gefühle wie nach meinem Testergebnis hatte ich zuvor noch nie. Daher wusste ich, dass meine Freunde und Bekannten damit erst recht überfordert sein würden. Ich habe mich daher sehr schnell einer Selbsthilfegruppe angeschlossen.
Wie war die erste Begegnung mit anderen HIV-Positiven?
Ich muss zugeben: Es war für mich anfangs sehr schwierig. Ich musste mich mit völlig neuen Lebenswelten auseinandersetzen: mit Drogen, Knast, Homosexualität und Prostitution, und ich wurde mit Dingen konfrontiert wie Poppers, Darkrooms und Schwulensaunen.
Ich fühlte mich wie ein unbedarftes Mädchen vom Lande und war völlig durcheinander. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, und die Auseinandersetzung damit war sehr komplex, fordernd und auch sehr anstrengend. Zumal ich zur gleichen Zeit ja auch mit meiner eigenen Erkrankung klarkommen musste, und dann war da noch der Prozess wegen der Opferentschädigung. Es hat gedauert und es war anstrengend, aber es hat sich gelohnt, denn in der Selbsthilfe habe ich damals so etwas wie eine Familie gefunden.
„In der Selbsthilfe habe ich damals so etwas wie eine Familie gefunden“
Ich musste mich dann zurückziehen, weil ich mich zu wenig abgrenzen konnte und mich meine eigene Biografie enorm forderte. Das alles zehrte zu sehr an meinen Kräften.
Für dich waren die Lebenswelten der anderen Positiven völlig neu und fremd. Wie haben sie dich wahrgenommen?
Ich fühlte mich total integriert. Die Tatsache aber, dass ich durch eine Gewalttat angesteckt worden war, hat bei manchen wie ein Trigger funktioniert. Ich hatte den Eindruck, dass es bei einigen den Gedanken losgetreten hat, sie können an ihrer Infektion vielleicht selbst Schuld haben. Diese Aufteilung in schuldige und unschuldige Infizierte war manchmal problematisch.
Wie hast darauf reagiert?
Ich habe irgendwann damit angefangen, diesen Teil meiner Geschichte wegzulassen, um mich nicht mehr von anderen Positiven zu unterscheiden. Ich befürchtete, dass es sonst für mich schwieriger werden könnte, Zugang zu ihrer Welt zu bekommen. Damals habe ich auch fast jeden in meinem Umfeld gefragt: „Hast du dich beim Sex wirklich dein ganzes Leben in allen Situationen geschützt?“ Ich selbst muss diese Frage verneinen. Bevor die Sache passierte, war ich in einer Beziehung, und wir haben überhaupt nicht an HIV gedacht.
Ich bin jemand, der eher zu viel als zu wenig Mitgefühl hat und immer versucht, Erklärungen für Verhalten und deren Ursachen zu finden. Daher kann es für mich auch keine „Schuld“ bei einer HIV-Infektion geben. Bis zu dieser Erkenntnis war es allerdings ein langer, nicht immer einfacher Weg.
„Ich stehe durchaus voll im Leben“
Wie geht es dir heute? Hast du einen Weg gefunden, der dir hilft, mit beiden Beinen im Leben zu stehen?
Ich stehe durchaus voll im Leben. Der Alltag funktioniert, auch dank meiner Pflegekräfte. Mit meinem äußeren Leben komme ich also ganz gut klar. Ich kriege viel hin und halte viel aus. Meine seelische Welt allerdings wackelt immer noch. Dazu genügt manchmal nur ein kleiner Hauch.
Das ist auch recht typisch für schwer traumatisierte Menschen. Sie können nach außen hin eine makellose Fassade zeigen, aber nach innen trotzdem sensible und fragile Strukturen aufweisen, die immer wieder einbrechen, sodass die Menschen dadurch ihre Stabilität verlieren.
Welche Strategien hast du entwickelt, um diese Fassade aufrechterhalten zu können?
Wenn ich dafür nur ein Patentrezept hätte! (lacht) Ich muss viel dafür tun. Ich habe beispielsweise viele Jahre jeglichen Kontakt zu Männern gemieden. Eine Ausnahme bildeten da lediglich die schwulen Freunde in der Selbsthilfe, weil sie durch ihr Schwulsein keine Bedrohung darstellten.
Es hat sehr lange gedauert, bis ich heterosexuelle Männer wieder als Freunde zugelassen habe, und noch länger, bis ich sie in meine Wohnung einladen konnte. An eine Partnerschaft ist aber bis heute nicht zu denken. Natürlich wünsche ich es mir, aber das wird vielleicht nie mehr gelingen. Das hat aber nichts mit meiner HIV-Infektion zu tun, sondern der Grund liegt in der Traumatisierung.
„Alle HIV-Infizierten sind auf ihre Weise traumatisiert“
Andere Menschen hätten vielleicht schon aufgegeben und wären unter der Last zusammengebrochen. Woraus ziehst du deine Kraft?
Ich bin sehr gläubig und glaube deshalb an ein Leben nach dem Tod. Mich umzubringen ist daher keine Option für mich. Aber ich habe durchaus Phasen erlebt, in denen ich nicht weiter wusste. 2006 hatte ich beispielsweise meine Wohnung verloren. Ich war wegen meiner HIV-Infektion auf schlimmste Weise diskriminiert worden. Ein Jahr lang hatte ich deshalb keinen festen Wohnsitz. Ich habe furchtbar gelitten und geschrien vor Seelenschmerz. Aber ich habe immer wieder Wege gefunden, um mit dem Leben zurechtzukommen.
Ich denke, alle HIV-Infizierten sind auf ihre Weise traumatisiert, denn jeder erlebt seine HIV-Diagnose in irgendeiner Form als Schock. Die Frage ist nur, ob bei jemanden dadurch die Welt zusammenbricht. Oder ob er aufgefangen wird oder stark genug ist, damit umgehen zu können.
Was hat dir in den zurückliegenden 22 Jahren geholfen, mit deiner Situation so weit als möglich zurechtzukommen?
Zu Anfang war die Selbsthilfegruppe ungeheuer wichtig. Ich hatte dann auch das Glück, dass eine Freundin zufälligerweise in einer Aidshilfe arbeitete und dadurch inhaltlich vorbereitet war.
Und dann sind da auch noch die Beamten des Opferentschädigungsamtes, die mir auf unterschiedliche Weise immer wieder geholfen und mich unterstützt haben. Als ich meine Wohnung verloren hatte, wäre mir wegen meiner Erkrankung nur noch eine Unterbringung im Altenheim geblieben. Doch die Mitarbeiter des Amtes bewilligten mir Pflegekräfte, sodass ich mich mit deren Hilfe selbst versorgen kann. Und ohne sie wäre es mir auch nicht möglich, meine Arbeit in der HIV-Aufklärung und -Fortbildung zu leisten.
Du sprichst vor Studenten an Universitäten und Hochschulen über medizinische und psychosoziale Aspekte von HIV und Aids und machst Aufklärung in Schulklassen. Was ziehst du für dich ganz persönlich aus dieser Arbeit?
Ich brauche einen Sinn in meinem Leben, und den habe ich darin gefunden. Es ist eine sehr befriedigende Arbeit. Und es macht viel Spaß, mit so vielen unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben und zu erleben, dass man mit ihnen gleichermaßen gut klarkommt: an einem Tag mit Schülern einer Förderschule und am nächsten mit Medizinstudenten in einem Unihörsaal.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weiterführende Links:
youtube-Kanal mit Videos von Jule Sandgi bei Aufklärungs- und Unterrichtsveranstaltungen
Webseite zu Jule Sandgis dreibändiger Autobiografie über ihre Auseinandersetzung mit HIV/Aids, Selbsthilfe und Spiritualität