Beschämung kann zu verinnerlichter Scham und sogar zum Selbsthass werden und so Selbstbewusstsein, Respekt und Solidarität be- und verhindern. Das schadet auch der Prävention.
Wir danken daher unserem Gastautor fink für das Recht zur Zweitveröffentlichung dieses Beitrags. In seinem Blog der zaunfink – queere anthropologie beschäftigt Fink sich mit „heteronormativen Auswüchsen, schwulen Helden, Aufklärungsgegner_innen und Anpassungsprediger_innen, Küssen am Bahnsteig, Toleranzheuchelei und allem anderen, was so zur schwulen Weltverschwörung dazugehört“.
Der eigentliche Ursprung des Gay Pride ist nicht der Stolz, sondern die Scham. Als die Aktivist*innen diesen Begriff prägten, meinten sie keinen Stolz, den eine besondere Leistung rechtfertigt. Der Begriff diente vielmehr als ein psychologisches Gegengift: Der schwullesbische Stolz sollte die schwullesbische Scham heilen.
Im letzten Jahrhundert war diese psychologische Strategie noch so offensichtlich, dass man sie niemandem erklären musste; heute dagegen ist die Scham weitgehend aus unseren Diskussionen verschwunden. Das ist seltsam und schade, denn ohne dieses Wort können wir einen zentralen Aspekt unserer Situation nicht verstehen.
Dabei haben wir ja wirklich viele Begriffe, um zu beschreiben, was mit uns geschieht: Diskriminierung, um ungerechtes Handeln und Sprechen aus einer äußerlichen, objektivierten Perspektive heraus zu benennen. Homophobie, Trans-, Bi- und Queerphobie, um zu erklären, was in den Gedanken und Gefühlen unserer Gegner*innen vorgeht. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, um Homophobie, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus usw. nebeneinander zu stellen und aufzudecken, dass sie allesamt ähnlich funktionieren. Ausgrenzung, um den Entzug von sozialer Teilhabe zu beschreiben.
Nur sehr gelegentlich reden wir über den sogenannten schwulen Selbsthass, also über die verinnerlichte Ablehnung unserer eigenen Identität, und meistens meinen wir damit andere und nicht uns selbst. Warum eigentlich? Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die dauerhaften queerfeindlichen Aggressionen von außen in unseren Gefühlshaushalt dringen und sich dort fester einnisten, als uns lieb ist. Und das betrifft sicher nicht nur einige Extremfälle, die sich durch begeisterte Unterstützung besonders queerfeindlicher Organisationen bemerkbar machen. Nein, wir können sicher annehmen, dass die Tendenz zur Selbstablehnung in den allermeisten von uns herumspukt, mal in geringerer, mal in höherer Dosierung.
Ich vermisse eine größere Debatte um diesen Aspekt. Deshalb möchte ich anregen, den aus der Mode gekommenen Begriff Scham in die Diskussion zurückzuholen.
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Ich ahne Lesende, die sich jetzt fragen: „Was redet der da von Scham? Das spielt doch heute gar keine Rolle mehr“, und möchte zunächst erklären, wo ich Scham am Werke sehe.
Religion
Religiöse Funktionär*innen, schon immer Expert*innen der organisierten Beschämung, stellen Homosexualität unbeirrt von nach-antiken Erkenntnissen und humanistischer Ethik als „schwere Sünde“ dar, als ein Verbrechen gegen die Schöpfungsordnung. An Dramatik mangelt es dabei selten: Unsere Liebe und Sexualität werden immer wieder auf eine Stufe gestellt mit Diebstahl, Betrug, Mord und Schlimmerem – lauter Dinge, für die man sich zu Recht schämen sollte. Religiöse Amtsträger*innen überbieten einander im Ausmalen der menschlichkeits-, ja menschheitsbedrohenden Qualitäten dieser gefährlichen ethischen Verirrung. Homosexualität wird zu etwas erklärt, zu dem man sich höchstens voller Scham bekennen kann, nicht nur den Menschen, sondern auch den jeweiligen Gottheiten gegenüber, vor deren richtenden Augen diese Schande ohnehin nicht zu verbergen ist. Geheuchelte Toleranz in Form von Mitleid verdienen Schwule und Lesben nur dann, wenn sie sich vor Scham und Reue auf dem Boden winden. Nicht alle religiösen Funktionäre werden dabei so deutlich wie der griechisch-orthodoxe Bischof Ambrosios von Kalavryta, der sich vor wenigen Wochen zu Homosexuellen so äußerte:
„Wann und wo auch immer Sie diese Leute treffen: Spucken Sie auf sie!“
Auch gehen nicht alle so weit wie er, Schwulen und Lesben gleich das Menschsein abzusprechen. Aber immer gilt: Beschämung ist das zentrale Ziel. Unzählige religiöse Funktionär*innen sehen die „idealen“ Homosexuellen nicht als glückliche, aufrechte Menschen, sondern als unglückselige, schamgepeinigte Opfer ihres eigenen Schicksals. Drohungen, Ausgrenzungen und geheuchelte Umarmungen sollen uns zwingen, die Scham zu verinnerlichen. Und oft genug gelingt das.
Familie
Ein zweiter zentraler Ort der Beschämung ist die Familie. Hier lernen wir von klein auf, was okay und was tabu ist, was wir zeigen und was wir verbergen sollen, worauf wir stolz sein können und wofür wir uns zu schämen haben. Homosexualität gehört meist zu Letzterem. Gern wird dabei der persönliche Druck durch familiäres Mitschämen von Eltern und Geschwistern erhöht. Teils bis ins fortgeschrittene Alter hinein wird an uns appelliert, die Familienehre nicht durch eine unorthodoxe Biografie (kinderlos und unverheiratet) oder vermeintlich unschickliche Sexualität zu beschmutzen. Was sollen schließlich die Nachbarn sagen? Viele Eltern schämen sich für uns queere Kinder, sie lassen uns das deutlich spüren und sie erwarten, dass wir die Scham übernehmen – wiederum oft erfolgreich.
Schule und Freund*innenkreis
Die dritte große Schamfabrik ist die Schule. Machen wir uns nichts vor: Sexismus und die damit einhergehende Abwertung von Weiblichkeit ist nach wie vor flächendeckend in unserer Kultur verbreitet. Ein Mann, der sich irgendeinen Moment vermeintlicher Weiblichkeit „zuschulden kommen“ lässt, der sollte – genau: sich schämen. Nichts torpediert deshalb die tastende Identitätssuche männlicher Pubertierender erfolgreicher als der Zuruf „Schwuchtel!“. Nichts anderes ist so beschämend, und genau das macht diese zur beliebtesten, weil wuchtigsten Beleidigung auf deutschen Schulhöfen. Die Botschaft an junge Schwule ist überdeutlich: Schwulsein ist eine Schande. Schäme dich, wenn du so bist! Man benötigt keine Fantasie, um sich auszumalen, dass diese Botschaft gründlich einsickert, wenn sie alltäglich aufs Neue gesendet wird, und zwar von den allernächsten Menschen, an denen man sich orientiert.
Lächerlichkeit
Man kann Menschen auf verschiedene Weisen dazu bringen, sich zu schämen. Besonders gut funktioniert es durch Lächerlichmachen. Die eben genannte Beschimpfung als „Schwuchtel“ beruht sehr stark auf diesem Aspekt. Die verbale Beleidigung wird dabei gern begleitet von kleinen parodistischen Aufführungen mit verstellter hoher Stimme oder affektierten Gesten: Das alles soll zeigen, dass Schwulsein etwas Lächerliches ist, dass Schwule keine respektablen Männer, sondern Witzfiguren sind. Unzählige Schwulenwitze, in denen die Pointe nicht auf verblüffenden Wendungen beruht, sondern in denen Homosexualität an sich die Pointe ist, tragen die selbe Botschaft weiter.
Auch in den Medien tauchen schwule und andere queere Rollen immer wieder als betont lächerliche Figuren auf. Bereits 1973 erklärte die US-amerikanische Gay Activist Alliance in ihren Richtlinien für Hollywood-Produktionen an allererster Stelle:
„Homosexualität ist nicht witzig.“
Sie hatte mehr als ausreichenden Anlass zu dieser Klarstellung, und dieser Anlass besteht bis heute.
Schockierende Momente der Lächerlichmachung erlebte die queere Welt in den 1980er-Jahren, als Sprecher des Weißen Hauses wiederholt und in aller Öffentlichkeit geschmacklose Scherze über Aids-Opfer machten, in der offenkundigen Annahme, dass das ohnehin nur Perverse betreffe, deren Leben nichts gelte. Tausende Menschen waren damals bereits qualvoll gestorben; für die Reagan-Regierung waren ihre Schicksale nichts als ein Witz.
Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Lächerlichkeit zerstört Respekt und verhindert Solidarität. Wer zu einer lebenden Witzfigur erklärt wird, entwickelt kein Selbstbewusstsein und keinen Stolz und kann nicht mit Unterstützung von Anderen rechnen. Es bleiben nur Scham und Isolation.
Sexuelle Scham
Ein weiterer Aspekt, den wir hier ins Blickfeld nehmen müssen, ist die Verengung von schwulem/queerem Leben auf Sexualität. Wir können noch so oft beteuern, dass auch eine lesbische oder schwule Partnerschaft nicht nur aus Sex, sondern auch aus gemeinsamem Alltagsleben besteht – beim Anblick zweier händchenhaltender Männer geht dennoch das Kopfkino bei den Beobachter*innen los, das diese beiden Männer in aller Regel nicht beim gemeinsamen Entenfüttern zeigt.
„Schwule sind für diese Leute nichts weiter als wandelnde Kopulationen“, bringt es die irische Aktivistin Panti Bliss auf den Punkt. Diese sexualisierte Außenwahrnehmung verschiebt jede noch so harmlose Zuneigungsäußerung in den Bereich der sexuellen Intimität, und solcher „Schmuddelkram“ hat doch in der Öffentlichkeit nichts verloren. Das sexuelle Schamgefühl, das die öffentliche Darstellung von expliziter Sexualität üblicherweise verhindert, wird bei uns auf jegliches sichtbare Beziehungsleben übertragen, ja sogar auf die bloße Erwähnung unserer Identität. Jede unserer Äußerungen wird dementsprechend als Schamlosigkeit ausgelegt; es wird das Einhalten der Schamgrenzen gefordert – unter Verdrängung der Tatsache, dass dabei vollkommen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden: Bei Heterosexuellen soll nur die explizite sexuelle Intimität unsichtbar bleiben, bei uns dagegen alles, was auch nur entfernt mit Beziehungsleben zu tun hat. Die tief liegenden Schamkomplexe, die in unserer Gesellschaft mit Sexualität im engeren Sinn verbunden sind, werden unserer gesamten Identität übergestülpt.
In zahllosen Diskussionen habe ich erlebt, dass Schwule diesen Mechanismus verinnerlichen und ihr gesamtes eigenes Beziehungsleben der hohen Diskretionsstufe zuordnen, der andere nur ihr konkretes Sexualverhalten unterstellen. Es wird ein schwieriges Unterfangen bleiben, diese Verknüpfung zu lösen und so diese Schamquelle zum Versiegen zu bringen.
Ekel
Arschficker, Kotstecher, Spinatrührer, Popo-Pirat – die Liste der kreativen Vokabeln, mit denen Schwulsein auf Analsex reduziert wird, ist lang. Die enge Verbindung unserer Identität mit sexuellen Praktiken, Körperregionen und Ausscheidungen, die bei einem großen Teil der Bevölkerung Ekel auslösen, trägt zur Produktion von Scham bei. Hier geht es nicht um ethische Bewertungen, sondern um deren Verankerung in körperlichen, reflexhaft gewordenen Reaktionen: „Igitt! Schwule sind eklig!“. Wie kann man selbstbewusst bleiben, wenn man als eklig wahrgenommen wird?
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Der Soziologe Norbert Elias sagt, die Funktion der Scham sei die Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns diese Mechanismen klar machen. Auf unsere Situation übertragen bedeutet das: Queerfeindlichkeit findet nicht nur „da draußen“ statt, sondern auch in unserem Inneren. Mithilfe der Scham pflanzt sich die Gewalt der Heteronormativität in unser Gefühlsleben ein und sorgt dafür, dass wir uns selbst kontrollieren, zensieren, blockieren. Scham ist das Scharnier zwischen Diskriminierung und Selbsthass. Dieser Selbsthass wirkt, und zwar auch und vor allem dann, wenn wir es nicht wahrhaben wollen.
Wo immer uns Diskriminierung begegnet – die Scham ist die innere Stimme, die uns zuflüstert: Das geschieht dir recht. Du verdienst diese Abwertung, diese Beleidigung, diese Entrechtung, diese Gewalt. Weil du wirklich nicht gleichwertig bist. Weil du lächerlich bist, unmoralisch, unnütz. Du bist eine Schande. Für deine Familie, für deine Religion, für die Gesellschaft, für dich selbst.
Das erste Coming-Out, immer noch eine der krisenhaftesten Lebensphasen vieler queerer Menschen, ist nicht nur deswegen so schwierig, weil oft berechtigte Sorge vor äußerer Ablehnung besteht. Es ist nicht zuletzt die verinnerlichte Scham, die diesen Schritt so erschwert. Es geht dabei um die Entblößung von etwas, von dem wir gelernt haben, dass es etwas extrem Intimes sei, und das wir deswegen aus Schamgefühl verborgen gehalten haben. Das kostet Überwindung.
Und wo immer wir den Impuls verspüren, sichtbar zu werden, aufzubegehren, uns miteinander zu solidarisieren, da ist die Scham zur Stelle und flüstert: Nein, zeig deine Schande nicht, mach das unsichtbar, das geht doch wirklich niemanden was an, halt den Mund. Scham rechtfertigt die Unsichtbarkeit. Das, wofür wir uns schämen, verbergen wir; wir fürchten die Offenlegung, die Öffentlichkeit. „Der Schamerfüllte“, schreibt der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, „muss seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“
Es ist die Scham, die uns zu duldsamen Opfern und unfreiwilligen Mittäter*innen gleichzeitig macht. Es ist die Scham, die uns Ungerechtigkeiten mit gesenktem Blick ertragen lässt. Es ist die Scham, die uns lähmt, uns verstummen lässt und uns einsam macht.
Und deswegen ist sie der Ansatzpunkt für eine Strategie, die nicht nur außen ansetzt, sondern auch innen. Dazu müssen wir zunächst einmal zu der Erkenntnis zurückkehren, dass Scham immer noch eine Rolle in unserem Leben spielt. Wir müssen erkennen, wo Beschämungen stattfinden und warum. Wir müssen uns klar machen, wo Beschämung als gezielte politische Strategie eingesetzt wird, um Solidarisierung und Engagement zu verhindern.
Ein entscheidender Ansatzpunkt ist es natürlich, Beschämungen möglichst von vornherein zu verhindern. Ich rechne es unseren Aktivist*innen hoch an, dass sie die Antidiskriminierungsarbeit im Bereich Bildung und Erziehung endlich verstärkt ins politische Bewusstsein geholt haben. Es geht dabei ja nicht nur um Aufklärung der nicht-queeren, sondern gerade auch um die Selbstfindung der queeren Schüler*innen. Hier lässt sich verinnerlichte Selbstabwertung schon vermeiden, bevor sie überhaupt entsteht.
Wir sollten auch darauf achten, wo wir uns selbst an Beschämungsmechanismen beteiligen. Ich denke hier beispielsweise an die Schwulen und Lesben, die die bewusst „schamlosen“ Inszenierungen bei CSDs oder anderswo wieder in die Sperrzone enger Schamgrenzen zurückrufen wollen. Oder an queere Menschen, die sich allzu eifrig der moralischen Verurteilung bestimmter Lebensweisen oder sexueller Aktivitäten anschließen.
Auch wenn wir beispielsweise den russischen Staatschef auf Plakaten mit „tuntigem“ Lippenstift der Lächerlichkeit preisgeben oder wenn wir katholische Funktionäre als „Männer in Frauenkleidern“ verspotten, nutzen wir eine im Kern sexistische Form der Beschämung als Waffe. Ob es sinnvoll ist, einen Mechanismus nachzuahmen, der gegen uns selbst eingesetzt wird, halte ich zumindest für diskussionswürdig.
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Diskutieren sollten wir außerdem über eine Scham, die sich nicht aus den bisher genannten Quellen speist, sondern aus unseren selbst geschaffenen Normen. Durch unsere Subkulturen geistert spätestens seit den 1970er-Jahren das hohe Ideal des hundertprozentig offenen schwulen/lesbischen Lebens. Das ist gut, denn dieses Ideal stellt dem schamhaften Verkriechen eine positive Vision gegenüber.
Dieses Ideal entwickelt aber eine Kehrseite, wenn es die Möglichkeit des Scheiterns nicht einbezieht: Ein misslungenes oder ungewöhnlich spätes Coming-out, das Verschweigen der eigenen Identität in bestimmten Situationen, das Loslassen der Hand des Partners in einer bedrohlichen Situation … Wir bezichtigen einander des Scheiterns, des Versagens, des Verrats, sobald wir dem Ideal der totalen Offenheit nicht gerecht werden: „Pff, die Klemmschwester kriegt es nicht auf die Reihe.“
Dabei gerät mitunter aus dem Blick, dass ein offenes Leben mit realen Gefahren verbunden ist und wir teils einen hohen Preis dafür bezahlen. Die Risiken der Offenheit sind nicht nur eingebildet. Schwule Sichtbarkeit ist nichts, was man „einfach nur tun muss“. Sie ist schwierig und gefährlich. Wenn wir berechtigte Risikoabwägungen und das Scheitern am Ideal regelmäßig als Anlass zur gegenseitigen Beschämung nehmen, dann individualisieren und entpolitisieren wir das Problem. Wir lasten Diskriminierungen als individuelles Scheitern den Einzelnen an, statt sie als strukturelles Problem zu benennen.
Diese Beschämung verhindert ebenfalls den Austausch und die Solidarität. Wenn ein junger Schwuler glaubt, sich schämen zu müssen, weil er seinen Eltern immer noch nicht gesagt hat, dass er schwul ist – obwohl das doch heute angeblich so furchtbar einfach und unbedingt so früh wie möglich notwendig sei –, dann wird es ihm schwerer fallen, mit anderen Schwulen über seine Befürchtungen und Blockaden zu sprechen. Und wenn ein schwuler Erzieher als Verräter an der Bewegung hingestellt wird, weil er nicht das sichere Ende seiner Karriere einleitet, indem er der fundamentalistischen Chefin seinen Freund vorstellt, dann stimmen die Maßstäbe nicht mehr.
Sicher, wir alle tragen eine Verantwortung, mit unserer persönlichen Sichtbarkeit zu einer gesellschaftlichen Veränderung beizutragen. Wir müssen aber aufpassen, es dabei nicht zu einer Schuldumkehr kommen zu lassen, die den Diskriminerungswillen der Außenwelt ausblendet und es so aussehen lässt, als seien wir alle zusammen und jeder Einzelne höchstpersönlich daran schuld, wenn wir diskriminiert werden – wenn wir uns schämen, wenn wir Risiken ausweichen und wenn wir unter dem Druck heterosexistischer Gewalt klein und ängstlich werden.
Reden wir darüber. Und machen wir einander das Sprechen leicht. Ideale sind gut, aber Scheitern ist menschlich.
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Es ist sicher kein Zufall, dass heute der Begriff Diskriminierung so sehr in den Mittelpunkt gerückt ist. Unsere Debatten haben sich in großen Teilen auf die Ebene von Gesetzen, gesellschaftlichen Regeln und Handlungen verschoben, und Diskriminierung beschreibt genau diese Ebene: ungerechtes Handeln, aus einer objektivierten Sicht betrachtet. Diese distanzierte Sichtweise ist richtig und wichtig, bleibt aber naturgemäß oberflächlich. Vergessen wir darüber nicht die anderen Ebenen, vor allem nicht die unserer eigenen Gefühle. Vergessen wir nicht, dass wir Menschen sind, die nicht nur gute Gesetze brauchen, sondern Anerkennung, Selbstbewusstsein, Solidarität und Respekt. Und leugnen wir auch nicht die unangenehmeren Aspekte unserer eigenen Verstrickungen.
Mit dem Bewusstsein für die Scham verschwindet heute, so scheint mir, gleichzeitig das Bewusstsein für die eigentliche Bedeutung ihres Gegenparts, des Stolzes. Immer wieder höre ich vor allem von jungen Schwulen und Lesben die Frage: Warum sollte ich denn stolz auf etwas sein, für das ich nichts kann? Im besten Fall haben die, die so reden, noch nie eine Abwertung erlebt und wirklich keinerlei Scham verinnerlicht. Das wäre wunderbar. Aber es fällt mir schwer, das zu glauben.
Wenn ich richtig liege, ist Scham immer noch ein aktuelles Thema. Dann ist es wichtig, dass wir Verdrängung, Peinlichkeit und Schweigen überwinden. Das bewältigen wir aber nicht allein, sondern nur gemeinsam. Scham verschwindet nicht, indem wir „einfach ganz normal unser Leben leben“ und so tun, als wäre sie nicht da, sondern nur, wenn wir sie erkennen und bearbeiten. Dafür brauchen wir Räume und Gespräche.
Und natürlich das bewährte Gegengift. Es wirkt immer noch.