Von Lerchen und Eulen: Schlafforscher Hans-Günter Weeß und „Die schlaflose Gesellschaft“

„Ich trainiere Menschen, ihre eigene Schlaftablette zu werden.“ Dr. Hans-Günter Weeß, der Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums des Pfalzklinikums, hilft neben seiner Forschungstätigkeit Patienten beim Einschlafen. Der Bedarf ist groß: Mehr als 5 Millionen Menschen leiden in Deutschland dauerhaft an Schlafstörungen. Mit seinem Buch „Die schlaflose Gesellschaft“ möchte Weeß seinen Lesern praktische Tipps an die Hand geben, wie sie ihren Schlaf verbessern können. Doch sein Werk ist mehr als ein Ratgeber: Neben verständlichen Einblicken in die Medizin liefert Weeß auch eine amüsant geschriebene Kulturgeschichte des Schlafes ab. Diese Kombination hat auch die Gutachter überzeugt, die das Buch im Auftrag der Stiftung Gesundheit zertifiziert haben. Im Blog beantwortet Weeß unter anderem, warum Frauen alleine besser schlafen und warum gegen ein Nickerchen am Arbeitsplatz eigentlich nichts einzuwenden wäre. Na dann: Gute Nacht!

Sie schreiben: „Deutschland steht zu früh auf.“ Das ist eine starke These – wie begründen Sie die?

Porträt von Hans-Günter Weeß

Buchautor und Schlafforscher: Hans-Günter Weeß.

Es ist ganz einfach so, dass sich gesellschaftliche Zeiten wie der Schul- oder Arbeitsbeginn nicht an der Chronobiologie des Menschen orientieren. Wir unterscheiden beim Menschen grundsätzlich zwischen Lerchen und Eulen. Die Lerchen gehen viel früher ins Bett als die Eulen. Eulen werden abends sogar noch einmal fit und sind dann sehr aktiv. Am Morgen verhält es sich dann gerade umgekehrt: Die Lerche wird früh wach, so gegen sechs Uhr – und das ist für die Eule häufig noch mitten in der Nacht.

In unserer Gesellschaft herrscht der Spättyp vor, es gibt also mehr Eulen als Lerchen: Mehr als fünf Sechstel der Deutschen würden nach ihrer inneren Uhr zwischen halb zwölf und zwei Uhr nachts ins Bett gehen und morgens zwischen acht und zehn Uhr aufstehen. Das würde dem Biorhythmus der meisten Deutschen entsprechen. Und es würde dazu führen, dass wir während der Woche weniger Schlafdefizit aufbauen, leistungsfähiger sind und uns psychisch wohler fühlen. Sie kennen das vielleicht von sich selbst: Am Freitag sagen Sie sich: Noch einmal früh raus, und dann morgen und übermorgen endlich ausschlafen!

Erwischt…

Das ist ganz typisch. Aber eben auch ein Stück weit ungesund. Dennoch: Wer länger schläft, gilt in unserer Gesellschaft als faul. Bei den Schülern ist das Eulen-Dasein extrem: Ab der Pubertät bis zum 20. Lebensjahr sind wir biologisch gesehen zeitlich am meisten nach hinten verlagert. Vor allem Eltern bekommen es zu spüren, dass der Mensch bis zur Pubertät eher eine Lerche ist. Ich erinnere mich gut, wie mein Sohn am Sonntagmorgen um sechs Uhr im Kinderzimmer auf dem Boden lag und gespielt hat. Als er in die Pubertät kam, waren wir sonntags froh, wenn er es überhaupt zum Mittagessen geschafft hat!

Eine ganz schöne Umstellung, sowohl für die Eltern als auch für das Kind…

Das liegt aber nicht daran, dass Jugendliche bis in die Puppen feiern wollen und faul sind, sondern weil sie nicht anders können. Und das hat Konsequenzen: Wenn sie morgens um 7:45 Uhr in der Schule sind und Mathematikaufgaben lösen sollen, befinden sie sich eigentlich noch in ihrer Schlafperiode – ihre Leistungen sind entsprechend schlechter. Das wissen wir aus Studien: Nur eine Stunde würde die Ergebnisse verbessern! Daher gibt es in England einen Modellversuch: eine Schule für Teenager, die nachmittags beginnt. Die Schüler scheinen dort ausgeschlafener und die Schulleistungen besser zu sein. Aber die wissenschaftliche Auswertung steht noch aus.

Genauso verhält es sich im Arbeitsleben. Schlafmangel führt zu einer verschlechterten Gesundheit und damit zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität. Wir wissen auch, dass bei zu wenig Schlaf die Lebenserwartung sinken kann.

 

Weitere Probleme sehen Sie im Schichtsystem, ohne das beispielsweise unser Gesundheitssystem undenkbar wäre. Was sind die Folgen? Und gibt es überhaupt Alternativen?

Nun ja, wir leben natürlich in einer 24-Stunden-Gesellschaft. Das haben wir wohl Herrn Edison und der Erfindung der Glühbirne zu verdanken. Das war aber vor nicht einmal 150 Jahren. Wenn Sie das auf die Geschichte der Menschheit beziehen, ist das ein Wimpernschlag. Der Mensch kann sich in dieser kurzen Zeitspanne noch gar nicht an diese Umstellung gewöhnt haben. Das merken wir auch daran, dass Schichtarbeiter ein viel höheres Krankheitsrisiko haben, öfter an Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden und ihr Krebsrisiko erhöht ist. Auch das Risiko für Schlafstörungen ist exorbitant höher – ein Teufelskreis. Das heißt: Schichtarbeit kann krank machen.

Wir können in unserer modernen Gesellschaft allerdings nicht auf Schichtarbeit verzichten – aber wir sollten zumindest wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen, um die Situation zu verbessern. Ich habe in meinem Buch beispielsweise den Vorschlag gemacht, vorwärts rotierende Schichten einzuführen – nicht wie im Gesundheitswesen, wo auf eine Spät- gerne mal eine Frühschicht folgt. Das gleiche gilt für das ungünstige Schichtsystem der Polizei: Ich habe mal Autobahnpolizisten bei einer Sekundenschlaf-Studie untersucht: Es hat sich gezeigt, dass die Polizisten auch unter den 150 kontrollierten Autofahrern die schläfrigsten von allen waren! Ungünstige Schichtsysteme führen verstärkt zu Übermüdung. Weitere Verbesserungen ließen sich auch erzielen, wenn man Eulen eher für Spät- und Lerchen eher für Frühschichten einsetzen würde.

Buchcover: "Die schlaflose Gesellschaft"

Übermüdung ist kein Phänomen, das nur in der Nacht auftritt. Was sagen Sie eigentlich zum Nickerchen gegen den Mittags-Durchhänger?

Klare Sache: Wer täglich einen Mittagsschlaf von nur wenigen Minuten durchführt, erhöht seine Lebenserwartung, reduziert das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ist in der zweiten Tageshälfte produktiver.

 

Das war deutlich. Nun gibt es unterschiedliche Chronotypen, aber Sie schreiben auch, dass Frauen anders schlafen als Männer. Wie genau?

Das stimmt, Frauen sind nicht nur im Wachzustand grundverschieden, sondern auch während des Schlafes. Zum einen verhält es sich so, dass Männer ungefähr ab dem 40. und 50. Lebensjahr einen Tiefschlafverlust erleiden – die Frauen aber nicht. Der Tiefschlaf ist wichtig für die körperliche Erholung; deswegen diskutieren wir auch, ob es einen Zusammenhang zur reduzierten Lebenserwartung des Mannes gibt. Andererseits ist es so, und das hat eher evolutionsbiologische Gründe, dass Frauen wahrscheinlich alleine besser schlafen – also ohne ihren Partner. Männer hingegen schlafen besser, wenn die Frau anwesend ist. Da haben wir eine Inkongruenz: Männer schlafen besser zu zweit, Frauen besser allein. Wie kann man sich das erklären? Der Mann ist schon in der Steinzeit konditioniert worden, dass er in der Gruppe, etwa bei der Jagd, sicherer und erfolgreicher ist. Und auch wenn es heutzutage rückständig klingt: Frauen sind hingegen biologisch so getriggert, dass sie eher für die Familie zuständig sind, rund um die Uhr. Das heißt, Frauen befanden sich lange Zeit auch im Schlaf in einer Überwachungsfunktion; sie haben auf die Familie aufgepasst. Das führt zu Anspannung, und Anspannung ist der Feind des Schlafes.

 

Wo Sie gerade über Geschichte sprechen: Sie schreiben auch, dass der Mensch heute weniger schläft als vor 100 oder 1000 Jahren. Das klingt erst mal paradox.

Die Zeit vor der Industrialisierung kannte kein elektrisches Licht. Davor wurde es zumindest in nördlichen Breiten schon früh dunkel, das heißt, die Menschen konnten in der Dunkelphase nicht viel unternehmen. Es gab also eine lange Zeitspanne, in der man schlafen konnte, insbesondere in den Wintermonaten – auch, um nicht unnötigerweise auf sich aufmerksam zu machen. Diese Abhängigkeit von der Natur kennen wir heute nicht mehr. In unserer 24 Stunden Non-Stop Gesellschaft und der damit verbundenen Schichtarbeit kommt es zu einer Schlafverschlechterung und –verkürzung. Derzeit arbeitet jeder sechste Arbeitnehmer in Deutschland in Schicht. Und die bekommen alle zu wenig Schlaf.

 

Sie schreiben auch, wie Schlafstörungen Menschen beeinflussen. Eine Ihrer Schlussfolgerungen ist, dass sich das Gesundheitssystem ändern muss. Was genau ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Wenn wir über die Ein- und Durchschlafstörungen sprechen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Ursache dieser Störung eine erhöhte Anspannung in der Bettsituation ist. Das heißt, die Betroffenen können nicht abschalten, damit ist der Schlaf unmöglich. Ursache hierfür ist oft, dass sich die entsprechenden Menschen vom Alltag nicht entpflichten können. Es können große und kleine Sorgen sein, die einfach mit ins Bett genommen werden. Wir alle kennen das von Lebenssituationen, in denen wir gefordert sind. Das kann ein Arbeitsplatzwechsel sein, eine Prüfung oder Streit mit nahestehenden Personen.

Unser Gesundheitssystem ist aber so getaktet, dass wir vor allem organische Ursachen in den Vordergrund stellen. Dafür bekommt der niedergelassene Arzt auch Geld. Wenn er allerdings eingehend mit dem Patienten spricht, wird das nur schlecht oder wenig vergütet. Aber gerade das wäre notwendig, um den Patienten aufzuklären und mit ihm zu besprechen, wie er sich im Bett wieder entspannen kann. Diese Form der Behandlung wird in unserem Gesundheitssystem nicht honoriert. Außerdem sind die Kenntnisse zu Verhaltenstherapien bei Insomnien nicht weit verbreitet, denn der Arzt und oft auch Psychotherapeut hat darüber in seiner Ausbildung nichts erfahren. Worüber er allerdings etwas erfahren hat, ist die medikamentöse Therapie. Wir haben deswegen, weil zu oft nur symptomatisch mit Medikamenten behandelt wird, sehr viele Medikamentenabhängige zu verzeichnen: In Deutschland gibt es fast zwei Millionen Menschen, die ohne Schlafmittel nicht schlafen können. Unser Gesundheitssystem fördert also eine medizinisch indizierte Abhängigkeit – aufgrund mangelnden Wissens über alternative Behandlungsmethoden und aufgrund einer falschen Honorierung in der Behandlung von Schlafstörungen. Eine bessere Ausbildung und Honorierung der sprechenden Medizin würden die Situation daher sicherlich verbessern.

Was uns sonst noch den Schlaf raubt, erzählt Weeß im Video des Schattauer-Verlags:

Weitere Informationen und Videos vom Schattauer-Verlag gibt es hier oder auf der Website von Herrn Dr. Weeß.