Wachen Geistes und guten Mutes

Thomas Schützenberger und Michèle Meyer leben schon viele Jahre mit HIV und haben 2015 ihren Fünfzigsten gefeiert.

Michèle lebte in den 1990ern so, dass eine Ansteckung mit HIV möglich erschien. Das war ihr bewusst und veranlasste sie, regelmäßig ihr Blut testen zu lassen. Genauso bewusst ging sie dann mit ihrem positiven Testergebnis um. Die Opferrolle ist nichts für sie. Verstecken auch nicht. Sie engagierte sich, wünschte sich Kinder und brachte zwei Mädchen zu Welt, die jetzt allmählich in die Pubertät kommen. Ihnen zu verschweigen, dass sie HIV hat, war keine Option für Michèle. Ehrlich mit ihnen zu sein, sie zu starken Menschen reifen zu lassen, das war für sie der Weg. Seit vielen Jahren ist Michèle eine hoch geschätzte Mitstreiterin der internationalen Selbsthilfebewegung von Menschen mit HIV.

International engagiert für die Menschenrechte

Wenn man „Michèle Meyer + EKAF“ googelt, erhält man sofort weit mehr als 700 Einträge. Die Schweizerin war maßgeblich an der Erklärung der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen beteiligt, wonach erfolgreich behandelte Menschen mit HIV sexuell nicht mehr infektiös sind. Als Mitglied des Gremiums hatte sie das „EKAF-Statement“ immer wieder mit Nachdruck gefordert, es dann, nach seiner Veröffentlichung, gegen rauen Wind international verteidigt und ihm ein Gesicht gegeben – auf Kongressen, im Fernsehen, in Zeitungsinterviews, in der HIV-Community, in persönlichen Begegnungen.

Genauso kompromisslos, wie sie für die Vielfalt sexueller Identitäten, für chronisch Kranke und Behinderte streitet, so tritt sie auch für die Rechte von Flüchtlingen ein und pocht auf Kongressen für das weltweite Recht auf Behandlung.

Als Thomas als 16-Jähriger die schwule Welt für sich entdeckte, war HIV bereits ein Thema. „Aber ich war jung, neugierig, abenteuerlustig und verdrängte HIV aus meinen Gedanken“, erzählt er. Mit 20 hatte er eine Beziehung mit einem Mann aus der Mannheimer Lederszene – und lebte im Auge des Hurrikans. „Immer mehr Menschen um mich herum wurden HIV-positiv getestet, und als das im November 1988 dann auch meinem Freund passierte, war mir schon klar, was das für mich hieß.“

„Ich verdrängte HIV aus meinen Gedanken“

Anders als das Schwulsein, das Thomas schon in der Schule öffentlich gemacht hatte, machte er seine HIV-Infektion zunächst im engsten Kreis bekannt. Aber sie hatte für ihn die Konsequenz, dass er in Mannheim blieb und eine Stelle in einer Bibliothek annahm, statt, wie ursprünglich geplant, im Ausland zu studieren. Durch seine Frühverrentung konnte er schließlich nach Berlin ziehen, wo er gerade in einem Minijob bei der Deutschen AIDS-Hilfe sämtliche Materialien, die sie jemals produziert hat, für das Archiv auf der Homepage aidshilfe.de aufbereitet.

Bei Thomas dauerte es ein paar Jahre, bis er ein paar Kollegen, Vorgesetzte und den Personalrat über seine HIV-Infektion informierte. „Die Reaktionen waren völlig frei von Diskriminierung. Aber die Sache war im Grunde vertraulich.“ Er sei vorsichtig gewesen, zumal man HIV-Positive in den 80er- und 90er-Jahren auch in Mannheims Schwulenszene stark ausgegrenzt habe. „Heute in Berlin ist das anders. Da muss ich nicht befürchten, bei den Schwulen meiner Altersgruppe ‚aussortiert‘ zu werden.“

Vieles erscheint ihm nicht mehr so wichtig wie früher. Auch der Sex ist nicht mehr so lebensbestimmend wie einst in den wilden Jahren. Aber missen will er von den Erfahrungen keine. Sie sind halt Teil der eigenen Geschichte. Heute radelt Thomas gern in Brandenburg oder er macht Spaziergänge, zum Beispiel zum Stralauer Friedhof. Da will er übrigens mal hin, wenn er tot ist, denn da kann man auf die Spree schauen und den Schiffen hinterher gucken. Das ist mit seinem Mann geregelt, genauso wie Testament, Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung.

WG statt Alters- oder Pflegeheim

Die Frage, wie sie im Alter leben möchte, findet Michèle schwierig. Klar ist: Keinesfalls will sie ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen mit Pflege belasten. Sondereinrichtungen für HIV-Positive lehnt sie ohnehin ab. „Aber wenn ich sehe, wie viele Spitäler auch heute noch nicht unaufgeregt mit HIV umgehen können, möchte ich nicht wissen, wie das in den Alten- und Pflegeheimen aussieht“, sagt Michèle. Auch wenn sich die Frage in ihrem jetzigen Leben mit der Familie nicht stellt: Eine Wohngemeinschaft mit professioneller Unterstützung könnte sie sich vorstellen.

In dieser Beziehung trifft sich Michèle mit Thomas: Auch er möchte auf die alten Tage statt in einem Seniorenheim lieber in einer WG leben – in einer Schwulen-WG natürlich. Heute würde er den „normalen“ Altersheimen nicht über den Weg trauen, was dem Umgang mit schwulen und HIV-positiven Bewohnern angeht. Er ist sich aber sicher, dass das in Berlin geregelt ist, falls er in ferner Zukunft darauf zurückgreifen muss.

Sterbehilfe als Möglichkeit

Und was ist, wenn die Freund_innen und Weggefährten einmal gehen? Da werden beide sehr nachdenklich. Michèle hat das Sterben in der Selbsthilfe erlebt, Thomas in der Lederszene. Daher wissen beide, wie trostreich das Lebensende sein kann, aber auch, wie grausam. Will man dem Ganzen dann bewusst ein Ende setzen, geht das in der Schweiz, aber in Deutschland tut sich die Ärzteschaft schwer, ihre Standesregeln zu ändern. Das und die im Bundestag diskutierten Verbote oder Erschwerungen der Sterbehilfe empfindet Thomas als Bevormundung. Er möchte sich diese Möglichkeit offen halten. Wer weiß denn schon, was einem noch alles widerfährt.

Thomas und Michèle sind letztes Jahr fünfzig geworden. „Ich lebe schon wesentlich länger mit HIV als ohne, und mehr als die Hälfte des Lebens habe ich jetzt schon hinter mir,“ bemerkt Thomas dazu. Aber wenn beide weiterhin so wachen Geistes und guten Mutes bleiben wie bisher, können wir nur mit Miss Marple feststellen: „Das ist nicht gesagt. Das ist nicht gesagt.“