Der innere Konflikt

Das Gefühl anders zu sein gehört zu den Grunderfahrungen eines jeden Schwulen. Für manchen Heranwachsenden ist diese oft unbewusst erlebte Verunsicherung jedoch nachhaltig prägend.

So gut wie heute ging’s Schwulen in Deutschland noch nie: Homosexualität wird nicht mehr strafrechtlich verfolgt, es gibt die Möglichkeit der eingetragenen Lebenspartnerschaft und jede Menge offen schwule Prominente. Dennoch wachsen heute – wie schon in den Generationen davor – viele Kinder und Jugendliche in dem Bewusstsein auf, aufgrund ihrer Gefühle für das gleiche Geschlecht „nicht normal“ zu sein.

Welche Folgen Ausgrenzung, Verunsicherung und Scham für Schwule selbst im Erwachsenenalter noch haben können, erklärt der Berliner Sexualmediziner und Psychotherapeut Dr. Stefan Faistbauer im Interview mit magazin.hiv.

Auch in Zeiten verstärkter gesellschaftlicher Akzeptanz erleben heranwachsende Schwule Ablehnung, zum Beispiel durch abschätzige Äußerungen über Homosexuelle in den Medien oder auch ganz persönlich, etwa durch Mitschüler_innen. Inwieweit können solche Erfahrungen das Selbstbild prägen?

Stefan Faistbauer: Diskriminierung, Diffamierung und Ausgrenzung sind zumindest sehr konkrete Aktionen, auf die man reagieren kann. Im positiven Fall kann die Folge sein, dass man seinen eigenen Lebensentwurf entwickelt und seinen eigenen Weg findet. Trotzdem bleibt da dieses Gefühl, anders zu sein und irgendwie nicht dazuzugehören.

Neuerdings werden wieder sehr konservative Stimmen laut, gerade in Bezug auf Homosexualität, beispielsweise unter dem Schlagwort „Genderwahn“.

Vor welchem Hintergrund da im Einzelnen agitiert und was da eigentlich abgewehrt wird, beziehungsweise welche Vorstellungen von Schwulen sich dahinter verbergen – darüber könnte man lange sinnieren. Tatsache aber ist: Homophobe Einstellungen hat es immer gegeben und wird es immer geben.

Homophobie in der eigenen Familie

Was aber, wenn gerade die Menschen, die mir eigentlich am nächsten stehen, mich wegen meiner Sexualität ablehnen? Wenn beispielsweise Eltern auf die Homosexualität ihres Sohnes mit Entsetzen und offener Ablehnung reagieren?

Das ist mit Sicherheit schlimm, aber das ist eine handfeste Reaktion, zu der ich mich positionieren kann. Ich kann entscheiden: Versuche ich meine sexuellen Neigungen zu unterdrücken, sie loszuwerden, oder lebe ich sie nur im Verborgenen aus? Oder gehe ich in die offene Auseinandersetzung und beiße mich durch? So mancher schwule Mann ist im Zuge des Coming-outs auf Homophobie in der Familie gestoßen, aber dem Konflikt nicht aus dem Weg gegangen – und konnte so schließlich bewirken, dass die Eltern ihre Haltung überdacht und verändert haben. Letztlich hängt es immer auch von den Ressourcen und Möglichkeiten eines jeden Einzelnen ab, wie er mit solchen Reaktionen umgeht.

Man wünscht natürlich niemandem, dass er wegen seiner Homosexualität beleidigende Äußerungen an den Kopf geworfen bekommt. Viel schlimmer sind jedoch die eher unterschwellig verlaufenden Reaktionen der Umwelt, aus denen ein Kind letztlich nur schließen kann: Mit mir stimmt irgendwas nicht. Der Junge spürt das unausgesprochene Unbehagen und Befremden seiner Mitmenschen, ohne es sich erklären zu können. Das kann in entscheidendem Maße Ängste und Fantasien in Bewegung setzen. Denn insbesondere Kinder tendieren in solchen Fällen dazu, die Verantwortlichkeit und Schuld bei sich zu sehen und nicht beim anderen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Das Kind spürt, dass es irgendwie anders ist. Dass es mit dem, was andere Gleichaltrige tun, vielleicht nicht so recht etwas anzufangen weiß. Hinzu kommt möglicherweise, dass diese Interessen von anderen nicht ernst genommen oder belächelt werden oder sich darüber sogar lustig gemacht wird.

Barbie-Puppen statt Fußball

Wenn ein Junge lieber mit Barbie-Puppen spielt statt Fußball?

Das ist das klassische Beispiel. Was in diesen Situationen innerlich in dem Jungen vorgeht, ist meines Erachtens sehr bedeutend und entwickelt sich recht häufig zu einem Grundlebensgefühl dieser Menschen.

Faistbauer

Dr. Stefan Faistbauer (Foto: privat)

Diese Erfahrungen haben demnach fast alle schwulen Männer in ihrer Kindheit und Jugend gemacht – und offenbar recht gut verarbeitet.

Was für eine gesunde Entwicklung spricht.

Dann aber gibt es diejenigen, die sich auch im Erwachsenenalter noch für ihre sexuellen Wünsche und Gefühle schämen oder sich deshalb minderwertig fühlen. Welche Folgen kann das haben?

Durch meine Arbeit im Feld der Psychosomatik und Sexualmedizin sehe ich immer wieder Menschen, bei denen sich Beschämung, Ausgrenzung und dergleichen wie ein roter Faden durchs Leben ziehen. Wir sind alle mit dem Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit ausgestattet. Wenn hier aber zeitlebens ein Defizit besteht, kann das etwa in Depression, psychosomatischen Krankheiten und Angststörungen münden. Solche Erfahrungen prägen auch das Verhalten in Freundschaften und partnerschaftlichen Beziehungen.

Das heißt, wer so etwas erlitten hat, trägt diese Beschädigung, dieses Handicap mitunter ein Leben lang mit sich?

Ich tue mich etwas schwer damit, dies als Handicap zu sehen. Für mich steckt auch eine große Kraft darin, das eigene Lebenskonzept finden und gestalten zu müssen. Heute sind Homosexuelle insgesamt präsenter als in den Siebziger- oder Achtzigerjahren. Dadurch gibt es auch mehr Möglichkeiten, sich schwule Vorbilder zu suchen. Andererseits erlebe ich, dass es junge Menschen heute ähnlich schwer mit ihrem Coming-out haben wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Entscheidend ist letztlich immer der gesamte Lebenskontext. Ich hatte beispielsweise den Fall eines Jugendlichen, in dessen Familie Schwule zum engsten Freundeskreis gehörten. Dennoch traute sich der Junge viele Jahre nicht, mit seiner Mutter über das eigene Schwulsein zu sprechen. Er hatte möglicherweise bemerkt, dass in seinem Freundeskreis negativ über Schwule gesprochen wird, und deshalb Schwierigkeiten, sich zu outen.

Wenn sexuelle Wünsche tabuisiert bleiben

Wovon hängt es ab, ob jemand diese Erfahrungen der Kindheit und Jugend gut wegsteckt oder diese sich zeitlebens als belastend auswirken?

Da spielen sehr viele Faktoren eine Rolle, wie etwa das soziale Umfeld. Gelingt es mir, mit anderen schwulen Männern in Kontakt zu kommen und mit ihnen etwas Gutes zu erleben? Oder bestätigen sich die negativen Vorurteile über Schwule? Es hängt natürlich auch maßgeblich von der Person ab: Ist es beispielsweise eher ein schüchterner, zurückhaltender oder ein eher kämpferischer, selbstbewusst agierender Typ? Solche Persönlichkeitsmerkmale tragen selbstverständlich auch dazu bei, die sexuelle Orientierung in das eigene Leben zu integrieren.

Das gelingt nicht allen. Ich erlebe bei Patienten, dass sie Teilen ihrer sexuellen Wünsche und Fantasien beziehungsweise den sexuellen Erlebnissen eigentlich abwertend gegenüberstehen. Zum Beispiel in der Frage, ob sie beim Sex den aktiven oder passiven Part einnehmen. Passiv zu sein ist für sie mit vielen negativen Begriffen konnotiert und wird deshalb als abwertend erlebt.

Manchmal gelingt es Homosexuellen auch nicht, ihre sexuelle Orientierung insgesamt zu akzeptieren.

Dann geraten sie schnell in eine Sackgasse beziehungsweise drehen sich im Kreis. Zum Beispiel, indem sie immer wieder versuchen, Sexualität mit Frauen zu haben, was aber misslingt oder unbefriedigend bleibt. Oder indem sie Sexualität in selbstschädigender Weise oder in extremen Situationen erleben oder die Sexualität von ihrem Leben abspalten. Denken wir beispielsweise an Darkrooms oder Gloryhole-Sex, hier finden sexuelle Begegnungen gänzlich anonym und ohne Blickkontakt statt.

Homosexuellenfeindlichkeit erleben Schwule nicht nur durch Teile der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in den eigenen Reihen: Es gibt Homosexuelle, die zu großen Schwulenhassern werden.

Das gibt es in der Tat und hat meiner Erfahrung nach viel mit Enttäuschungen zu tun. Möglicherweise haben die Männer nach einem schwierigen Coming-out-Prozess in der schwulen Szene nicht das vorgefunden, was sie sich immer gewünscht hatten. Sie haben womöglich schlechte Erfahrungen gemacht – gerade was Sexualität angeht – und sich deshalb benutzt oder missbraucht gefühlt. Daraus entwickelt sich dann unter Umständen das Pauschalurteil, die Schwulen sind doch alle so, denen kommt es nur aufs Vögeln an. Es gibt daher schwule Männer, die sich ganz explizit von der schwulen Szene und davon, was sie damit verbinden, abgrenzen.

Schwuler Selbsthass

Die also zwischen „guten“ und „schlechten“ Schwulen unterscheiden?

Die Guten sind, salopp formuliert, jene, denen man es nicht ansieht, die monogam leben und heiraten. Die schlechten sind die, die promisk sind und ihr Schwulsein vor sich hertragen.

Kann man diese Scham überwinden? Die Scham, promisk zu leben, anonymen Sex oder überhaupt Sex mit Männern zu haben?

Ich weiß nicht, ob diese Scham tatsächlich so einfach zu überwinden ist. Wichtig ist, dass man sich ihrer überhaupt erst einmal bewusst wird, was oft gar nicht der Fall ist. Denn dann erst kann sich der Betreffende bewusst dem inneren Konflikt stellen, der durch die Sexualität entsteht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterführende Beiträge zum Thema auf magazin.hiv:

„Wie ein Feind von Innen“ – Dr. Udo Rauchfleisch über internalisierte Homophobie

„Schwule Scham“