1982 diagnostizierte Prof. Eilke Helm in Frankfurt die ersten Aids-Patienten Deutschlands. Heute feiert die Ärztin und Forscherin ihren Achtzigsten. Eine Würdigung von Bernd Aretz, der ihr auch als Patient immer wieder begegnete.
Als Frau Prof. Dr. Eilke Helm vor wenigen Monaten mit einem Symposium anlässlich ihres Ausscheidens aus dem Dienst geehrt wurde, wollte sie, das zweite von sechs Kindern einer bürgerlichen Familie, nur unter bestimmten Bedingungen teilnehmen: kein Heiligenschein, keine Geschenke, und sie darf auch etwas sagen.
Auf der Veranstaltung trafen sich dann reichlich Professor_innen und Doctores, die in der Frankfurter infektiologischen Abteilung, der Wirkstätte von Prof. Helm, ihre Arbeitsthemen und die Unterstützung des Teams gefunden hatten. Auch Pfleger_innen und Patient_innen waren vertreten sowie die Pharmaindustrie.
Als HIV-Patient der ersten Stunde nach Erfindung des Tests kenne ich viele der Anwesenden noch aus ihrer Zeit im Praktischen Jahr oder als junge Assistenzärzt_innen. Frau Prof. Helm und ihr Kollege Prof. Wolfgang Stille hatten da einen Kreis um sich aufgebaut, der sehr schnell das Vertrauen der meisten Patient_innen gewann.
Mit der ersten Aidsdiagnose begann die Frankfurter Kohortenstudie
Daneben gab es noch diejenigen HIV-Infizierten, die sich lieber in die Arme der Alternativmedizin stürzten. Da wurden für teures Geld Ozontherapien oder wer weiß was angeboten, um das Bedürfnis zu befriedigen, irgendetwas gegen die bedrohlich wirkende Infektion zu tun, selbst wenn noch keinerlei Krankheitssymptome vorlagen.
Frau Prof. Helm hielt das für unnütz und im Einzelfall für lebensgefährlich. Sie beobachtete erst mal, behandelte, wo es angesagt war, untersuchte auch die Freunde ihrer Patienten und begann mit der ersten Aidsdiagnose die große Frankfurter Kohortenstudie.
Selbstverständlich nahm ich, wie viele damals, an Studien teil, wenn man mir in der HIV-Ambulanz sagte, es sei den Versuch wert. Der Umgang war fair. Wenn die Teilnahme erkennbar nichts brachte, wurde das ordentlich kommuniziert.
Die Anfangszeit von HIV war in Frankfurt etwas turbulent. Die Abteilung platzte aus allen Nähten, auch weil wegen des unsinnigen bayerischen Maßnahmenkatalogs viele aus Bayern zur Behandlung nach Frankfurt flüchteten. Während in München Peter Gauweiler über Berufsverbote für infizierte Köche nachdachte, stellte Frau Helm nur lakonisch fest: „In die Suppe spucken schadet nicht.“ Sie selbst hatte während ihrer Assistenzzeit wochenlange Quarantäne mit Patient_innen des hoch gefährlichen Marburg-Virus unbeschadet überstanden. Da konnte HIV sie nicht mehr erschrecken.
Sie stritt für saubere Blutprodukte
Während andere Mediziner_innen, auch in Frankfurt, die Behandlung verweigerten – traditionell schwierig war das Verhältnis zu Chirurg_innen und ist es teils immer noch zu Zahnmediziner_innen –, erinnerte sie unverdrossen daran, dass Ärzte früher für die Behandlung von Pest und Cholera zuständig waren. Wer sich der Behandlung Aidskranker entziehe, solle daher den Beruf wechseln.
In der Aufarbeitung des Bluterskandals hat sie sich große Verdienste erworben. Selbst als der HIV-Test schon zugänglich war, wurden Blutprodukte nicht sofort getestet und die Altbestände einfach aufgebraucht. Und so stritt sie im Nationalen Aids-Beirat, zu dem sie traditionell Zweiter Klasse mit der Bahn anreiste, für saubere Blutprodukte – genauso wie für einen würdigen Umgang mit schwulen Männern und Drogengebraucher_innen.
Der Klinikleitung waren die Entwicklungen in der infektiologischen Abteilung nicht recht. Da wurden gegen den Willen der Verwaltung einfach Räume besetzt. Der Personalschlüssel wurde mithilfe von Forschungsgeldern, Spenden und Honoraren für Gutachten und die Behandlung von Privatpatient_innen erhöht. Sie erzählte mir mal, dass sie von ihrem Professorinnengehalt gut leben könne, vernünftige Arbeitsbedingungen seien ihr wichtiger als eine Eigentumswohnung mehr.
Sie kämpfte im Interesse der Patient_innen gegen die Krankheit und deren soziale Auswirkungen. Dazu gehörten auch Aufklärungsveranstaltungen in der schwulen Szene. Frau Helm ist heute noch sichtlich beeindruckt, wenn sie von ihrem Informationsabend im „Pink Elephant“ berichtet und dem mulmigen Gefühl beim Blick in die Runde, dass sie wohl einen wesentlichen Teil der Besucher als Patienten wiedersehen werde – ein Gefühl, das sich bewahrheiten sollte.
Nachwuchsförderung ohne Konkurrenzstreben und Eitelkeit
Die Menschen sind ihr nicht gleichgültig, und so hat es ihr in der Zeit des schnellen Sterbens manchmal zugesetzt, montagmorgens das Stationszimmer zu betreten und zu erfahren, wer am Wochenende gestorben war. Aber wie damit im Krankenhaus umgegangen wurde, habe ich damals sehr geschätzt. So machte während des Tages ein Pfleger die Runde, um im Flur und auf den Balkonen zu erzählen, wen er denn gleich mit dem Bett aus der Station herausfahren werde. Das gab die Möglichkeit zu kleinen Abschieden in unserer Notgemeinschaft.
Es gab ein Landesprogramm zur anonymen medizinischen Begleitung, die Ärzt_innen haben untersucht und geklärt, was immer nur möglich war. Alle waren neben der ärztlichen Tätigkeit auch mit Öffentlichkeitsarbeit, in Gremien, der Aus- und Weiterbildung sowie in der Forschung beschäftigt. Für niedergelassene Ärzt_innen gab es eine Beratungshotline. Unter den Medizinstudierenden sprach sich schnell herum, dass man in der Infektiologie gut promovieren konnte: Forschung, Themen ohne Ende und die Unterstützung durch ein hochmotiviertes Team waren dort gesichert.
„Außergewöhnlich ist Frau Helms mütterliches Verständnis von Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, das heißt, die Bildung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ohne Konkurrenzstreben und Eitelkeiten“, so ihr ehemaliger Schüler Prof. Reinhard Brodt. Noch heute profitieren Patient_innen davon, dass sie Maßstäbe in der Behandlung gesetzt und manche Kolleg_innen zur Promotion und Habilitation gedrängt hat.
Respekt vor der Würde des Einzelnen
Auf der Facharztfeier ihres Schülers Schlomo Staszewski, arbeitete sie gemeinsam mit dessen Mamme in der Küche. Für Frau Helm war es selbstverständlich, zum Gelingen des Festes beizutragen. Auch das gehörte für sie zur Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Anders als es im universitären Bereich leider üblich ist, hat sie bei vielen von ihr maßgeblich mit entwickelten Publikationen darauf geachtet, sie unter den Namen der jungen Wissenschaftler_innen erscheinen zu lassen. Auf eine bestimmte Veröffentlichung von ihr warte ich allerdings noch. Sie stellte an einem ihrer Brüder fest, dass Männer nicht zwei Dinge gleichzeitig machen können. „Schuhe putzen und dabei denken kriegt der nicht hin. Soll ich darüber mal einen Aufsatz verfassen?“
Bei ihr konnte der Nachwuchs viel lernen, zum Beispiel den Respekt vor der Würde des Einzelnen. Heruntergebrochen auf den Klinikalltag zeigte sich das im Kampf um die Anerkennung von Krankenzimmer und -bett als Intimbereiche der Patient_innen. Dabei ging es schlicht darum, anzuklopfen und Zimmer nicht ohne Erlaubnis zu betreten. Auch war es ihr wichtig, Behandlungsalternativen zwar offen zu besprechen, dabei aber die Verantwortung zu übernehmen und eindeutige Empfehlungen zu geben.
Anführerin der CSD-Parade
Sie ermöglichte es sterbenden Patient_innen, in der Klinik den Abschied in der Geborgenheit von Freund_innen zu erleben. Untersuchungen des Körpers führte sie mit unglaublich leichter Hand durch, und am Krankenbett führte sie Debatten, ob die Nebenwirkungen eines Medikaments Allergien oder Vergiftungserscheinungen seien. Sie untersuchte auch während der Visiten ihre Patient_innen, und wenn gar nichts anderes mehr ging, schmierte sie Brötchen und fütterte auch mal jemanden. Ein wertschätzender Umgang mit dem Pflegepersonal auf Augenhöhe ist für sie eine Selbstverständlichkeit.
„Mit dem ganzen psychosozialen Quatsch kann ich nichts anfangen“, behauptete sie mal und lebte das Gegenteil. Sie interessierte sich für die Biografie und die Lebensumstände ihres Gegenübers. Das fand sich dann zum Beispiel in einer Bemerkung während einer großen Visite wieder, als sie meine Information kolportierte, die armen Marburger Schwulen hätten nur zwei Klohäuschen und einen alternativen Abend, wo sie hingehen könnten. Das muss ihr schrecklich vorgekommen sein, nachdem sie in Frankfurt von einem Lederkerl im Jeep chauffiert als Anführerin die CSD-Parade erlebte und dabei, wie eine Cheerleaderin mit bunten Papierpuscheln wedelnd, ihre Patienten und deren Freunde am Straßenrand begrüßte – prall im schwulen Leben.
Sie und Herr Stille verzichteten zugunsten eines Patientencafés auf ein Arztzimmer. Manche Patient_innen der Anfangsjahre waren Stammgäste der Station. Und so wurde nicht nur gestorben, was an die Grenzen aller in der Abteilung Tätigen ging, sondern es gab auch rauschende Feste mit Ärzt_innen, Schwestern, Patient_innen und deren Umfeld.
Rauschende Feste auf Station
Über die Stimmung auf Station habe ich mal Folgendes geschrieben:
„Wenn Käpt’n Blaubär erzählte, was er in den letzten Wochen erlebt hat, würden böswillige Zungen wieder einmal behaupten, er verbreite Lügenmärchen:
‚Also das war so: ich besuchte neulich im Krankenhaus schwerkranke Menschen. Als ich auf den Klinikflur kam, tanzten mir zwei Bauchtänzerinnen mit wehenden Schleiern entgegen. Orientalische Klänge zogen durch den Raum, während an den reich gedeckten Tafeln Kranke, ihre Freunde und ihre Angehörigen Berge von Kuchen vertilgten.‘
So würde Blaubär wohl anfangen, um einen Nachmittag auf der Station 68 in Frankfurt zu beschreiben.
Zum Sommerfest fanden sie sich alle wieder ein, der Chor der Mainsirenen, Aurora de la Mehl und Ramona Derangé mit dem Silent Sound Ensemble. Zu den Klängen der Zauberflöte brachten sie den Disput zwischen der Scheibe Toast, die nicht gebraten werden wollte, und dem arbeitshungrigen Toaströster zu Gehör, nachdem schon vorher zu Klängen von Schubert das Schicksal der Forelle, von dem Hausherrn in der Mikrowelle vergessen, beklagt wurde. Das Odeur, den jener nach drei Wochen Urlaub plötzlich in der heimischen Küche erwartete, streckte auch den jungen Mann danieder. Künstlerinnen jedweden Geschlechtes gaben sich ein Stelldichein.
Nette Leute waren da. Nach einer langen Phase der Trauer wieder frisch verliebt der eine, darob etwas traurig der andere, leider verschmähte Mann. Viele bekannte Gesichter, manch einer, der sich regelmäßig der Chemotherapie unterzieht, Tina und Günther, die letzten Überlebenden unserer allabendlichen Tafelrunde des letztjährigen Sommers auf der Station. Und Frau Helm mittendrin.“
Gespräche über Literatur, Zipperlein und das alltägliche Leben
In den letzten Jahren erlebte ich Frau Prof. Helm immer wieder auf dem Flur des Frankfurter Infektiologikums, häufig mit einem Bündel Akten unter dem Arm, weil sie bis vor Kurzem immer noch gutachterliche Stellungnahmen verfasste.
Bei Treffen auf dem Praxisflur oder im Infusionsraum redeten wir über Literatur, Zipperlein und das alltägliche Leben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass diese großartige Ärztin wirklich aufgehört hat, zu behandeln, nicht wie in früheren Kliniktagen einfach ihr Stethoskop nimmt und fragt „Darf ich Sie mal abhören?“ Ich profitiere sehr von dem, was sie den Nachwuchs gelehrt hat. Auch dafür danke ich ihr von ganzem Herzen. Ich wünsche ihr eine unbeschwerte Teilhabe am kulturellen Leben und mir gelegentlich einen Schwatz mit ihr in einem der Museumscafés der Stadt.