„Junkie-Altenheime sind keine Lösung für alle“

In unserer alternden Gesellschaft kommen auch immer mehr Drogen Gebrauchende in die Jahre. Wie lässt sich für sie eine angemessene Versorgung sicherstellen? Ein Gespräch mit Marco Jesse von VISION e.V.

Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind bei Drogen Gebrauchenden ein stiefmütterlich behandeltes Thema. Soweit sie verheiratet sind, meinen sie, damit seien eventuelle Probleme gelöst. Aber die Ehe gibt nur das Besuchsrecht in der Klinik, und falls sich der_die Kranke nicht mehr äußern kann, ermöglicht sie über die Annahme einer vermuteten Einwilligung das Gespräch mit den Ärzt_innen. Aber für Entscheidungen reicht das nicht. Auch eine gesetzlich angeordnete Betreuung schließt in aller Regel nicht aus, dass eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht oder ein Testaments verfasst werden kann.

Als Junkie alt zu werden, schien lange fast unmöglich

„Mit dem Tod und dem Weg dahin beschäftigen sich unsere Leute nicht so gern“, erzählt Marco Jesse, Geschäftsführer der Drogenselbsthilfe VISION e.V. in Köln. Vielleicht, weil sie gelernt haben, dieses Thema genauso zu verdrängen wie das Risiko einer (tödlichen) Überdosierung.

Portrait Marco Jesse

Marco Jesse von VISION e.V. (Bild: privat)

Als Junkie alt zu werden, schien lange fast unmöglich. Erst über das Aufweichen der Verelendungsstrategie der Drogenpolitik, die Suchtkranke in abstinenzorientierte Therapien zwingen wollte, wurden infolge der Aidskrise akzeptierende Angebote geschaffen. Das fing mit Spritzentausch an, ging über die Schaffung von Anlaufstellen, Notschlafeinrichtungen und Konsumräumen bis hin zur Substitution – inzwischen auch mit Diamorphin. Anders als Straßenheroin ist der Originalstoff nicht mit unbekannten Substanzen gestreckt, sondern als Arzneimittel bestens geprüft.

Zum ersten Mal gibt es für eine Generation von Opiatabhängigen nicht nur die Straße oder das Gefängnis als „Altersruhesitz“. Vor drei Jahrzehnten hätte in Deutschland niemand ernsthaft darüber nachgedacht, wie man diese Menschen im Alter pflegen und versorgen könnte.

Aber die Probleme fangen schon früher an. Bei plötzlichen Krankenhausaufenthalten oder bei Verhaftungen haben Substituierte in der Regel keine Bescheinigung mit, die über das Medikament und die Dosis Auskunft geben könnte. Das führt vor allem an Wochenenden dazu, dass die benötigten Substitutionsmittel nicht bereitgestellt werden und die Betroffenen sich mit unnötigen Entzugsproblemen herumplagen müssen.

Die Probleme fangen nicht erst im Alter an

Ein zentrales namentliches Substitutionsregister, wie es manche Gefängnismediziner_innen wünschen, erinnert doch zu sehr an die Rosa Listen der Polizei, die den Nationalsozialisten und der Justiz in der Adenauer-Ära eine Grundlage für Ermittlungen gegeben hatte. Datenschutzrechtlich ist das nicht zu vertreten. Vielleicht könnten Substituierte, die Angebote der Drogenhilfe nutzen, dort eine Kopie ihrer Behandlungsbescheinigung hinterlegen. Wenigstens bei Einrichtungen, die auch am Wochenende erreichbar sind, könnte das zur Entschärfung des Problems beitragen.

„Ansonsten kann man nur hoffen, in den Kliniken an Ärztinnen und Ärzte zu geraten, die mit ihren Patienten sprechen und im Zweifelsfall mit einer niedrigen Dosis anfangen und bei Bedarf kurzfristig höher dosieren“, sagt Marco Jesse. In vielen Kliniken seien die heute üblichen Substitutionsmittel aber gar nicht vorrätig, und es herrsche hier viel Unwissen über die gängigen Dosierungen und relevanten Wechselwirkungen. Schwierigkeiten gebe es vor allem auch, wenn jemand mit retardierten Morphinen oder Diamorphin behandelt wird.

Auch die häusliche Pflege älterer Drogen Gebrauchender ist nicht gesichert. „Wir haben in Köln immer noch keinen guten Pflegedienst gefunden, der bereit wäre, mit unserer Klientel zu arbeiten. Und selbst wenn sich einer darauf einlässt, gibt es erfahrungsgemäß dann Probleme, wenn Substituierten ihr Medikament nicht per Take-home-Verordnung mitgegeben wird. Meist weigern sich die Dienste, sich um die Versorgung mit Substitutionsmitteln zu kümmern, während das bei anderen Medikamenten kein Problem ist.“

Adressaten für eine Verbesserung der Situation wären die Verbände im Pflegebereich. Sie müssten für die speziellen Anforderungen sensibilisiert werden und das dann an die Pflegedienste weitervermitteln. „Denn das, was wir bei jedem Einzelfall mit viel Einsatz und Überzeugungsarbeit immer wieder zu erreichen versuchen und oft auch schaffen, verändert nicht die Struktur“, gibt Jesse zu bedenken.

Sensibilisierung der Pflegeverbände erforderlich

Die Motivation der Pflegedienste, Mitarbeiter_innen in einen möglicherweise ungepflegten Junkie-Haushalt zu schicken, ist gering. Die ganze Bandbreite an Vorbehalten und Vorurteilen kommt hier zum Tragen: Dort bestehe erhöhte Verletzungsgefahr, man könne bestohlen werden, sich die Krätze holen. Dass gewöhnliche Substituierte genauso kleinbürgerlich sein können wie der Nachbar nebenan, ist in solchen Fantasien nicht vorgesehen.

Im Grunde müsste das Bundesgesundheitsministerium die Pflegeverbände, die Drogen- und Aidshilfe sowie die Drogenselbsthilfe an einen runden Tisch zusammenrufen. „Wenn die Deutsche AIDS-Hilfe das über einen Fachtag macht, ist das gesundheitspolitisch wohl zu niedrig angesiedelt. Da gehen bloß die üblichen, ohnehin aufgeschlossenen Verdächtigen hin“, mutmaßt Marco Jessen. „Da rollt ein Bedarf auf uns zu, auf den kein System vorbereitet ist. Die Lösung kann nicht sein, alle in spezialisierte Junkie-Altenheime zu stecken. Erst einmal müssen wir die ambulante Versorgung sicherstellen.“

Die Anmietung eigenen Wohnraums durch die Träger gestaltet sich beim ambulant Betreuten Wohnen allerdings kompliziert. Schon bei mehr als vier Zimmern greift hier möglicherweise das Heimgesetz mit einer Vielzahl von Regelungen, die auf anders strukturierte Angebote, nämlich klassische Heimbetriebe, zugeschnitten sind. Bisher gibt es zudem nur Einrichtungen, die Substituierte aufnehmen. Für alle übrigen Drogen Gebrauchenden fehlen bislang Lösungen. Denkbar wäre beispielsweise, in den „Heimen“ kleine Konsumräume einzurichten oder zeitweise externe Konsummobile für die Bewohner zu ordern.

Vieles lässt sich nur im rechtlichen Graubereich lösen

Dringend notwendig ist ebenso eine Ausweitung der Diamorphinvergabe. Dazu müssten aber einige Vorschriften geändert werden, denn wegen der hohen Auflagen ist sie bisher nur in spezialisierten Einrichtungen möglich. Man müsste Diamorphin als normales Substitutionsmittel, das in jeder Arztpraxis vergeben werden darf, zugänglich machen. Doch das scheint zurzeit undenkbar zu sein. „Die ganze bisherige Drogenpolitik gehört in die Tonne“, kritisiert Jesse. „Selbst wenn du Träger und Menschen hast, die die Versorgung sicherstellen wollen, häufen sich die Probleme, die oft nur im rechtlichen Graubereich gelöst werden können.“

VISION e.V. hat einen Fachtag veranstaltet, bei dem es um die Wünsche für das Leben im Alter ging. „Unsere Kunden möchten in kleinen Einheiten bis zu fünf Leuten leben und auf entsprechende Hilfsangebote von außen zurückgreifen können“, erklärt Marco Jesse. „Wenn man die mobile Substitution einschließlich Originalstoffvergabe hinbekommt, kann man dort vielen ein Leben in Würde bis zum Tod ermöglichen. Aber das muss man über Modellversuche erst einmal anstoßen.“ Dafür müsse man Menschen finden, die zueinander passen. Und die Bewohner_innen bräuchten ein Mitspracherecht bei der Besetzung frei werdender Plätze, sonst scheitere ein solches WG-Modell.

Viele Drogengebraucher_innen haben in ihrer Kindheit und Jugend Missbrauch und Gewalt erlebt. Zu den traumatisierenden Erfahrungen gehören oft auch Strafverfolgung und Haftaufenthalte. Für den Leiter der Diamorphinvergabe-Stelle in Berlin ist Drogengebrauch eine medizinisch angemessene Selbstmedikation bei psychiatrisch bedeutsamen Traumata. „Ich frage mich allerdings schon lange, woher die Häufigkeit psychiatrischer Begleiterkrankungen kommt“, merkt Marco Jesse dazu an. Vielleicht lässt sich vieles eben doch nicht nur über Drogengebrauch kompensieren. „Verschärft wird das Ganze noch dadurch, dass es kaum Psychotherapeuten gibt, die sich unserer Leute annehmen. Umso mehr muss es ihnen im Alter und bei Pflegebedürftigkeit ermöglicht werden, an die von ihnen benötigten Substitutionsmittel bis hin zum Originalstoff zu kommen.“

Gleichberechtigte Mitbestimmung statt Rundumversorgung

Zu passenden Wohnformen komme man nur, wenn man die Drogengebraucher_innen in die Konzeption und Gestaltung einbindet, ist Jesse überzeugt. Man sollte ihnen auch die Mitarbeit ermöglichen. „Unsere Nutzer haben eine starke Affinität zu kreativem Arbeiten, zu Gartenbau und zu Tieren. Und dann muss man schauen, was an fachlichem Support möglich ist. Aber die gleichberechtigte Mitbestimmung ist schon die Hälfte der Lösung.“

Man darf Menschen nicht von vornherein in eine Rundumversorgung stecken. Sie wollen mitarbeiten. Diese Potenziale sollte die Gesellschaft nutzen.