Nach 30 Lebensjahren mit HIV nähert sich Christina Heusel langsam dem Rentenalter. Die examinierte Krankenschwester war auch in der Altenpflege tätig und weiß, worauf es hier ankommt.
Bei Kaffee und frisch gebackenem Pflaumenkuchen sprechen wir über das Alter. Falten, nachlassende Kräfte, schmerzende Gelenke, schwindende Sehkraft und Schwerhörigkeit, Herzprobleme, Atemnot und Tremor – der Körper hat unendlich viele Möglichkeiten, sich unangenehm bemerkbar zu machen. „Ich hatte ja gedacht, mich damit nicht beschäftigen zu müssen. Aber wenn man seine Medikamente ordentlich nimmt, ist HIV nicht das Problem, und deshalb muss ich mir nun doch Gedanken über eine mögliche Pflegebedürftigkeit in hoffentlich ferner Zukunft machen.“
Die Geschwister sind zu alt, und ihrem Sohn möchte sie die Aufgabe nicht aufbürden. Das kann dann von der häuslichen Pflege über eine Senioren-Wohngemeinschaft bis hin zum Pflegeheim und Hospiz alles bedeuten. Die verschiedenen Möglichkeiten und Hilfsangebote wie auch Checklisten sind im Internet im Deutschen Seniorenportal aufgeführt.
Christina hofft, dass sie klar genug bleibt, um die Ausgabe der Medikamente, die sie dann einnehmen muss, selbst überwachen zu können. Ihre Erfahrungen mit der Achtsamkeit ihrer Kollegen waren nicht immer gut. Auch ich erlebte das bei einem Aufenthalt in einer Universitätsklinik.
Am besten unangemeldet besichtigen
„Woran erkennt man eigentlich ein ordentlich geführtes Heim?“, frage ich Christina. Die examinierte Krankenschwester war auch in der Altenpflege tätig – in der eigenen Familie, im Heim, im häuslichen Pflegedienst und in einer Demenz-WG. „Wenn es eingeschränkte Besuchszeiten gibt, ist das verdächtig“, erklärt sie. „Dann nämlich hat die Heimleitung nicht erkannt, dass die dort wohnenden Menschen Rechte haben und dass die Pflege und Versorgung eine zusätzliche Leistung ist.“ Sie empfiehlt, die Häuser zu besichtigen, unangemeldet, am besten morgens zu Zeiten des Hochbetriebs, nicht nachmittags, wenn alle gewaschen am Tisch sitzen.
„Ein gutes Zeichen ist, wenn gewünscht wird, dass Angehörige an Veranstaltungen teilnehmen“, führt Christina weiter aus. „Wenn Begegnungsräume für die Gemeinschaft geschaffen werden. Wenn zum Schutz vor Stürzen nicht die Genehmigung eines Bettgitters verlangt wird, sondern eine zusätzliche Matratze vors Bett gelegt wird. Wenn das Gespräch gesucht wird, wie mit Verwirrtheitszuständen umzugehen ist. Und wenn die Kenntnis der Biografie der Bewohner ein wichtiger Bestandteil des individuellen Pflegekonzepts ist.“
Individuelle Pflege erfordert Biografie-Kenntnisse
Wie wichtig das sein kann, macht sie an einem Beispiel deutlich. Sie erzählt von einer alten Dame, die im Konzentrationslager unter der Dusche mit kaltem Wasser gefoltert worden war. Das müsse man wissen, damit man sie nicht mit einer Dusche in Panik versetzt, sondern sie zum Waschen ganz langsam in eine mit warmem Wasser gefüllte Badewanne absenkt.
Ob ein Haus etwas besser oder schlechter ausgestattet ist, findet sie unerheblich. Wichtig sei, dass Individualität möglich ist, eigene Möbel und Bilder mitgebracht werden können. Sonst würden vor allem demente Bewohner_innen gar nicht begreifen, dass sie jetzt dort zu Hause sind. Anzustreben seien eine Einbindung in die Gemeinschaft und eine möglichst weitgehende Mobilisierung.
Das Engagement von Ehrenamtlichen hält Christina für ein gutes Zeichen, wenn es darum geht, soziale Nähe herzustellen. Sie nimmt aber auch die Tendenz wahr, Ehrenamtliche für Aufgaben einzusetzen, die eigentlich das Heim leisten müsste, und über eine Aufwandspauschale Lohndumping zu betreiben.
Pflege ist bei aller beruflichen Distanz auch Beziehungsarbeit. Wie man mit dementen Menschen umgeht, frage ich Christina. „Man muss sie nehmen wie sie sind, ihre Wirklichkeit respektieren.“ Hilfreich sei, eine vertraute Umgebung zu schaffen, bei mehreren Stockwerken mit unterschiedlichen Farben die Orientierung zu erleichtern. Für Christina ist es ein Ausdruck von Lebendigkeit, wenn jemand hin und wieder stiften geht. Zum Wiederauffinden verwirrter Menschen gebe es inzwischen gute technische Möglichkeiten. Und wenn mal etwas passiere, dann sei weniger schlimm, als jemanden fürsorglich für den Rest des Lebens seiner Freiheit zu berauben.
Christina findet Wohngemeinschaften gut, wo die Angehörigen einen Pflegedienst beauftragen und auch bei der Auswahl des Personals mitreden können. Gelassenheit und Freude am Leben hält sie, neben der fachlichen Qualifikation, für gute Auswahlkriterien. Schön findet Christina, dass in einer Demenz-WG Gefühle eine ganz große Rolle spielen.
Gefühle spielen eine große Rolle
Sie erzählt mit Wärme vom Todestag eines Bewohners, an dem sie und eine Kollegin sich in aller Unschuld zu ihm ins Bett gelegt und seine Ängste aufgefangen haben. „Die Schwiegertochter sitzt am Bett und sagt: ‚Gell, Vater, das gefällt dir.‘ Er macht ein letztes Mal die Augen auf und grinst wie ein Honigkuchenpferd.“
Ähnliches kenne ich aus der Versorgung eines sterbenden Freundes, wobei ich und ein weiterer Mann ihm aber auch noch die Gelegenheit gaben, nackte Haut zu fühlen. So etwas kann schon mal zu Diskussionen mit den Angehörigen führen, die es bisweilen nicht verstehen, wenn man alten oder sterbenden Menschen das Vorhandensein oder gar das Ausleben sexueller Wünsche zugesteht.
Woran erkennt man einen guten Dienst für eine Langzeitpflege? Auch hier sei das Interesse am Menschen und seiner Biografie wichtig, betont Christina. Es sei Leitungsaufgabe, das dem Personal zu vermitteln. An dieser Stelle stellt sie fest, dass sie unbedingt noch aufschreiben muss, was für sie selbst wesentlich ist und welche Marksteine es auf ihrem Lebensweg gegeben hat. Ihr Sohn hat das Haus früh verlassen und weiß vieles nicht von ihr, der Ehemann hat erst spät ihren Lebensweg gekreuzt, wer also sollte Auskunft erteilen können? Leider sei sie schreibfaul, aber ihre Erfahrungen in der Altenpflege machten das für sie zu einer zwingend zu erledigenden Aufgabe.
Wenn keine Fragen der Heim- oder Pflegedienstleitung zum Lebensweg kommen, solle man sich einen anderen Dienst suchen, rät Christina. Auch ständig wechselnde Pflegekräfte seien ein Grund, sich nach Alternativen umzuschauen. Das Einhalten fester Rituale sei besonders bei beginnender Demenz hilfreich.
Recht auf Intimität
Unmöglich findet sie es, wenn die Zahn- oder Gebisspflege gemacht oder mit dem Waschen und Ankleiden begonnen wird, während der alte Mensch noch auf der Toilette sitzt. Jeder habe das Recht auf Intimität. Und die Körperpflege sei für viele eine der wenigen Gelegenheiten, miteinander zu reden. Bei allem Verständnis dafür, dass Pflegedienste wirtschaftlich arbeiten müssen, dürfe doch der Respekt nicht auf der Strecke bleiben.
Patientenverfügungen hält Christina auch im Heim und bei ambulanter Pflege für hilfreich. Das Krankenhaus ist für sie, wenn man mal von den Palliativstationen absieht, kein geeigneter Ort zum Sterben. Aber mit der wachsenden Zahl ambulanter und stationärer Hospize gebe es dafür inzwischen Alternativen. Praktisch laufe es manchmal so, dass vom Krankenhaus eine Palliativstation gesucht und von dort in ein Hospiz weitervermittelt wird.
Aber bis dahin soll es für Christina noch ein weiter Weg sein. Erst einmal haben sie und ihr Mann anlässlich der silbernen Hochzeit sich in einer kirchlichen Zeremonie erneut das Jawort für den Rest des Lebens gegeben. Sie haben schon viele Stürme gemeinsam durchstanden, bei manchen war der gemeinsame Besuch von Positiventreffen im Waldschlösschen hilfreich.
Während ich das dritte oder vierte Stück Kuchen wegputze, fällt mir auf, dass die Bilder, die Christina malt, im Laufe der Jahre immer bunter, stärker und fröhlicher geworden sind.