Die aktuellen UN-Verhandlungen zur globalen Drogenpolitik verfolgt Roland Baur mit großem Interesse. Denn der repressive Umgang mit Drogengebraucher_innen hat auch sein Leben entscheidend geprägt. Der Stuttgarter Aktivist im Porträt
Bevor wir mit unserem eigentlichen Gespräch beginnen, muss Roland Baur erst noch etwas klarstellen, das ist ihm wichtig: „Es fällt mir schwer, es so deutlich auszudrücken: aber ich bin nicht exemplarisch.“
Er mag zwar einer von rund 100.000 opiatabhängigen Menschen in Deutschland sein, für die sich Baur seit drei Jahrzehnten im Bundesvorstand des Selbsthilfeverbands „JES – Junkies, Ehemalige und Subsituierte“, in der Stuttgarter AIDS-Hilfe und bei den PositHIVen Gesichtern engagiert. Doch beispielhaft ist seine Lebenswirklichkeit gewiss nicht, wenn man vom Bild des Drogengebrauchers ausgeht, wie es in den Köpfen der breiten Öffentlichkeit seit vielen Jahrzehnten existiert: Junkies, die alles, oder fast alles verloren haben, was nach bürgerlichen Maßstäben als Grundlage für ein geordnetes Leben notwendig ist – Arbeit, Wohnung, soziale Perspektiven, Bindungen und Strukturen.
Grundvertrauen ins Leben
Roland Baur war zwar im Laufe der über 40 Jahre, die er mit seiner Sucht lebt, auch auf der offenen Drogenszene gelandet, aber nur für eine kurze Phase. Er hat es immer wieder geschafft, auf die Beine zu kommen, hat Zeiten in Haft, den Schock über sein HIV-Diagnose, Zerwürfnisse mit seiner Familie und andere Tiefpunkte überstanden.
„Mein Elternhaus hat mir ein Grundvertrauen ins Leben mitgegeben, den Glauben an die eigene Kraft und an bestimmte Werte wie Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit“, sagt Baur. Diese Ausstattung, aber auch das Vertrauen seines Arztes, die Unterstützung in der Selbsthilfe und nicht zuletzt die Frau an seiner Seite, mit der er seit 20 Jahren zusammenlebt, haben ihm die nötige Stärke gegeben, um diese Krisen zu überstehen.
Wenn Roland Baur sagt „ich bin nicht exemplarisch“, dann spricht er in diesem Zusammenhang auch ganz offen über die Probleme, die er mit vielen anderen Drogensüchtigen hat – die abgestürzt und nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Als Aktivist sieht er sich in der Verantwortung, sich für sie und die gemeinsamen Anliegen einzusetzen. „Im alltäglichen Umgang aber hab ich da meine Aversionen“, gibt Baur unumwunden zu. Aus diesem Grund kam für ihn auch eine klassische Substitution in einer großen Suchtpraxis nicht infrage. „Ich fühle mich da einfach nicht wohl, wenn ich mit Bierfahnen bei den anderen Patienten rechnen muss. Deshalb bin ich auch fürs Spritzenverteilen und für Streetwork-Aktionen nicht geschaffen.“
Aus diesem Grund lässt sich Baur lässt die notwenigen Medikamente wie Codein von seinem Hausarzt auf Privatrezept verschreiben. Auch damit ist er ganz sicher kein „typisches“ Beispiel. „Ich bin einer von vielleicht drei Prozent im Land, die auf diese Weise substituieren“, schätzt er selbst. Dieser Weg aber befreit ihn von den für ihn unerträglichen Zwängen, denen sich Substituierte sonst unterwerfen müssten – von Behandlungsverträgen bis hin zu entwürdigenden Methoden wie der Videoüberwachung bei der Urinabgabe.
Erst die Kriminalisierung erzeugt das Elend
„Wenn man Sucht tatsächlich als Krankheit versteht, so wie sie medizinisch definiert wird, dann wird bei keiner anderen Krankheit die Menschenwürde der Betroffenen derart missachtet wie bei Suchtkranken“, erklärt Roland Baur.
Was Substituierte teilweise über sich ergehen lassen müssten, würden sich andere Patient_innen niemals gefallen lassen. Doch es gibt keinen Aufschrei in der Bevölkerung. „Drogenkonsumenten haben eben keine Lobby“, sagt er. Zumindest nicht diejenigen, die illegalisierte Drogen wie Kokain oder Opiate konsumierten. Ein striktes Verbot von Tabak oder Alkohol wäre in Europa nie durchsetzbar. Für ihn bestehe zwischen den einzelnen Substanzen jedoch kein wesentlicher Unterschied.
„Drogen sind eine klasse Sache, genau wie Sex. Auf den möchte ich ebenso wenig verzichten“, sagt er und lacht. Es gehe um den Genuss und darum, diesen nicht zur Sucht werden zu lassen, also um den kontrollierten Konsum. Zigaretten und Schnaps werden in jedem Supermarkt problemlos an Erwachsene verkauft, bei Kokain oder Heroin aber droht Gefängnis. „Selbst wenn man sich mal ein richtig gutes Fläschchen Wein gönnen möchte, kann man das für einen akzeptablen Preis bekommen, bei den illegalisierten Drogen aber sind die Preise durch das Verbot durchweg exorbitant hoch. Auf legalem Weg kann sich die eigentlich niemand finanzieren.“
„Es geht nicht darum, die eigene Sucht schön zu reden“, betont Roland Baur. „Es gibt wie bei allen Drogen auch bei Opiaten problematischen Konsum“, aber erst durch Kriminalisierung würden die Menschen in einen Teufelskreis gestoßen, wodurch das ganze Elend entstehe: Weil Drogen illegal und überteuert sind, wird die Beschaffung kompliziert. Man vernachlässigt Freunde und Familie, und sogar den Job, denn die Sucht geht immer vor.
Baur ist sich sicher: „Bei einer staatlich kontrollierten Abgabe hätte ein Großteil der Drogenkonsumenten keinen problematischen Konsum mehr.“ Diese aber ist in Deutschland bislang nur eine Forderung von Selbsthilfe- und anderen Nichtregierungsorganisationen.
Abgrenzung von der bürgerlichen Welt
Baur hatte 1985 deshalb einen anderen Weg, nämlich den der Selbstversorgung gewählt. Als er einmal vom Großeinkauf aus Amsterdam zurückkehrte, wurde er allerdings von der Polizei verhaftet. „Haben Sie etwas gegen eine Blutuntersuchung?“, wurde Baur bei seiner Inhaftierung beiläufig und höflich gefragt – er willigte ein.
„Ich hatte mir in diesem Moment gar keine großen Gedanken gemacht“, erinnert er sich. Auch als man ihn später aus seiner Zweierzelle in den Krankentrakt verlegte, war er noch nicht beunruhigt. Erst als er bemerkte, dass er offenbar der einzige Gefangene auf dem Flur war, er sich also faktisch in Isolationshaft befand, wich die Gelassenheit einer wachsenden Verunsicherung. Klarheit schaffte dann der Wärter mit einer lapidaren Bemerkung; „Ach, Sie wissen es nicht? Sie haben Aids.“ Mit diesen Worten schloss er die Zellentür hinter ihm zu.
Diese Wochen Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Aachen haben sich in Roland Baurs Erinnerungen als die wohl schlimmste Phase seines Lebens eingeprägt. Jeglicher Kontakt zu anderen Mithäftlingen wurde zu verhindern versucht. Selbst den Hofgang musste er allein antreten, allerdings streng bewacht.
„Ich kam mir vor wie ein RAF-Mitglied im Hochsicherheitstrakt von Stammheim. Ich wäre jeden Pakt mit dem Teufel eingegangen, nur um das noch ein paar Jahre zu überleben.“ HIV-infiziert zu sein, war zu dieser Zeit gleichbedeutend mit einem Todesurteil. In Baurs Freundeskreis waren bereits die ersten an Aids verstorben, bei vielen anderen war das Immunsystem bereits zusammengebrochen, sodass die Chancen für sie schlecht standen, das Krankenhaus lebend zu verlassen.
Baur war Abiturient und noch nicht ganz 18 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal Drogen spritzte. „Wir wollten uns damals von der bürgerlichen Welt abgrenzen, und dazu gehörten die langen Haare, unsere Musik und Subkultur wie illegale Drogen“, erinnert er sich an diese frühen Siebzigerjahre. Die erste Drogenszene in Stuttgart hatte sich, wie es auch in vielen anderen Städten der Fall war, nicht zufällig in der Nähe der Universität und inmitten akademischer Kreise gebildet.
„An Drogen heranzukommen, war vergleichsweise einfach, an saubere Spritzen hingegen beinahe unmöglich“, sagt er. So konnten sich HIV und Hepatitis C weit in die Szene hinein ausbreiten, was vielen Tausend Menschen das Leben gekostet hat. Die meisten von Baurs Freunden und Bekannten aus jener Zeit sind bereits tot, sind an den Folgen von Aids oder Hepatitis beziehungsweise – freiwillig oder unfreiwillig – an einer Überdosis gestorben. Einige haben den Freitod gewählt, weil sie durch die Folgen ihrer Sucht, durch den Verlust der Familie, durch immer neue Haftstrafen zermürbt wurden und depressiv geworden waren. Baur hat überlebt. Auch deshalb ist seine Biografie nicht unbedingt exemplarisch.
Erfolge der Drogenselbsthilfe
Dass heute zumindest in den deutschen Großstädten Spritzenautomaten beinahe selbstverständlich sind, dass die Methadonvergabe möglich und leichter geworden ist, sind Fortschritte, an denen die Drogenselbsthilfe einen großen Anteil hat.
Roland Baur hat daran intensiv mitgewirkt, sich auch öffentlich für die Belange von Drogenkonsument_innen eingesetzt und Gesicht gezeigt. Auch das ist nicht selbstverständlich. Für diese langjährige und nachhaltige ehrenamtliche Arbeit wurde Baur im März dieses Jahres neben neun weiteren Menschen zum „Stuttgarter des Jahres“ gewählt: für sein Engagement „im Schatten der Gesellschaft und für einen Personenkreis, für den sich einzusetzen, es keine Lorbeeren gibt“, wie es in der Begründung heißt.
Für Baur ist diese Auszeichnung nicht nur eine persönliche Würdigung, sondern auch ein wichtiges Zeichen: dafür, dass Bewegung in die Bemühungen kommt, endlich eine andere Drogenpolitik zu gestalten. Die Widerstände sind weltweit groß. Angesichts der Interessen und Geldsummen, die dabei im Spiel sind, ist das für Baur nicht verwunderlich. Doch Initiativen wie der Aufruf von ehemaligen Staatschefs und anderen Prominenten, den gescheiterten Drogenkrieg zu beenden, lassen Baur hoffen.
Dementsprechend erwartungsvoll sieht er der zweiten UNO-Sondersitzung zu den weltweiten Drogenproblemen (UNGASS 2016) entgegen. Aber er macht sich keine Illusionen: Eine von Grund auf reformierte Drogenpolitik werde es zu seinen Lebzeiten wohl nicht mehr geben. Die Veränderungen werden nur in kleinen Schritten erfolgen, aber sie werden kommen. Da ist sich Roland Baur sicher.
Einen wichtigen Stein würde er gerne selbst noch ins Rollen bringen – um damit nichts weniger als das deutsche Betäubungsmittelgesetz zu Fall zu bringen. Denn dessen strafrechtlichen Teil halten Rechtsexpert_innen für verfassungswidrig: Über 120 Strafrechtsprofessor_innen hatten 2014 in einer gemeinsamen Resolution den Bundestag zu einer Überprüfung des Gesetzes angemahnt. Passiert aber ist nichts. Bliebe noch der Gang vors Verfassungsgericht. Dazu müsste aber ein Betroffener oder eine Betroffene den Mut, den Willen und die Kraft aufbringen, den Klageweg zu bestreiten.
Noch hat sich Baur, auch aus Rücksicht auf seine Ehefrau, nicht dazu durchringen können. Aber es bleibt ein wichtiger Wunsch. „Ich bin nicht exemplarisch“, hatte er zu Beginn des Gesprächs vorausgeschickt. Und das trifft ganz sicherlich auch auf seinen ungebrochenen Kampfgeist zu.
Weitere Informationen:
Beitrag der Stuttgarter Zeitung zu Roland Baurs Wahl zum „Stuttgarter der Jahres“ sowie ein Videoporträt über den Preisträger.
Interview mit der ehemaligen Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss über die UNGASS 2016
Interview mit Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, über die UNGASS 2016
„Persönlichkeiten aus aller Welt fordern ein Ende des ‚Kriegs gegen die Drogen‘“, Meldung auf aidshilfe.de vom 14.4.2016