Hallo,
ich bin Ellen, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Mein Sohn Jonas hat das Prader-Willi-Syndrom. Das ist ein zufällig auftretender Gendefekt, der sich unter anderem durch Muskelschwäche, verringertes Sättigungsgefühl, Kleinwuchs und geistige Beeinträchtigung äußert. In einer kleinen Serie berichte ich über mein Leben und meine Erfahrungen mit einem behinderten Kind.
Kein Elternteil möchte von einem Arzt den Satz hören: „Ihr Kind hat das XY-Syndrom … .“ Er zerstört Hoffnungen und wirft viele Fragen auf.
Dieser Satz ist aber auch eine Erleichterung. Das klingt zwar total verdreht, ist aber so. Den Grund dafür erzähle ich euch.
Die Vorgeschichte ist wichtig
Bevor der Arzt diesen ungewollten Satz sagt, ist meist eine Menge passiert. Und leider nichts Schönes. Die Eltern sorgen sich um ihr Kind, das sich nicht so wie alle anderen entwickelt. Bei den einen fällt es mehr auf, bei den anderen weniger.
Vielleicht wollen wir die Unterschiede nicht wahrhaben oder hoffen, dass sich das Defizit noch rauswächst. Diese Unsicherheit ist richtig schlimm. Nicht nur emotional, sondern auch beim Beantragen von Hilfen und Therapien.
Denn Ämter und Krankenkassen brauchen Fakten, um die Anträge zu bearbeiten.
Aber die haben Eltern ohne Diagnose eben nicht. Sie müssen also mit Behörden kämpfen und irgendwie mit ihren Ängsten und Sorgen zurechtkommen. In unserer elfjährigen Karriere mit Jonas´ Behinderung sind wir von diesen Eltern um die Diagnose beneidet worden. Und ich konnte sie absolut verstehen.
Intuitiv Glück gehabt
Jonas war knapp zwei Jahre alt, als wir die Diagnose Prader-Willi-Syndrom bekamen.
Selbstverständlich haben die Ärzte im Krankenhaus direkt nach der Geburt die Ursache für seine deutliche Muskelschwäche gesucht. Fast vier Wochen lang.Vier Wochen, in denen wir mal diese, mal jene Vermutung hörten. Die Ärzte hatten Jonas von Kopf bis Fuß durchgecheckt, aber nichts Konkretes gefunden.
Immerhin konnten sie mir versichern, dass er keine lebensverkürzende Krankheit hat. In dem Moment fiel mir ein Stein vom Herzen und alles andere war total egal.
Wir haben dann die Suche auf eigenen Wunsch abgebrochen, Jonas gepackt und unser Familienleben genossen (was natürlich trotzdem Arzt- und Therapietermine beinhaltete, aber wir waren zuhause!).
In der Zeit hat mein Mann parallel im Internet nach möglichen Syndromen gesucht und ist schnell auf das Prader-Willi-Syndrom (PWS) gestoßen. Als er mit dann sagte, dass Jonas PWS hat, habe ich entschieden widersprochen.
Nach meinem Gefühl litt Jonas an irgendeiner heilbaren Muskelerkrankung (so viel zu Hoffnungen und dem viel gerühmten Mutterinstinkt! ;-). Mein Mann hat zum Glück nicht locker gelassen und mich davon überzeugt, Jonas sicherheitshalber wie ein PWS-Kind zu behandeln. Das bedeutete erstmal Physiotherapie und eine gesunde, kalorienarme Ernährung. Da wir sowieso schon beide Punkte erfüllten, war das kein Problem für uns.
Rückblickend haben wir also intuitiv alles richtig gemacht.
Der Zeitpunkt spielt auch eine Rolle
Die Zeit bis zur Diagnose ist für uns drei wichtig gewesen. Wir konnten uns in Ruhe kennenlernen und haben daher in Jonas hauptsächlich seine Persönlichkeit gesehen und nicht seine Behinderung.
Das hätte aber auch schief gehen können, etwa wenn er eine wichtige Operation oder Medikamente gebraucht hätte. Für uns war es aber eine ruhige Familienzeit, die uns gut getan hat.
Manchmal erfahren Eltern aber auch kurz nach der Geburt, welche Behinderung ihr Kind hat. Sie können sich nicht in Ruhe mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr Kind sich anders entwickelt. Da ist die Diagnose dann eher ein Schock als eine Erlösung.
Einerseits kann so die Gefahr bestehen, dass die Eltern bei ihrem Kind nur noch „Baustellen“ sehen. So früh Bescheid zu wissen, schützt andererseits aber auch vor den Sorgen, der Unsicherheit und den irgendwann zerstörten Hoffnungen. Und es kann für das Leben des Kindes wichtig sein.
Den Tatsachen ins Auge blicken
Als mir die Ärztin eröffnete, dass Jonas das Prader-Willi-Syndrom hat, war ich ziemlich gut vorbereitet. Natürlich war ich auch kurz traurig, aber die Erleichterung überwog deutlich. Ich weiß noch, wie ich ihn glücklich an mich drückte. Endlich hatten wir Klarheit und wussten ungefähr, was auf uns zukommen würde! Das hat eine ziemlich große Last von unseren Schultern genommen.
Eine Diagnose hilft also beim Umgang mit dem behinderten Kind. Es werden zwar Hoffnungen zerstört, aber es tauchen auch neue auf. So wussten wir, dass Jonas Laufen und Sprechen lernen würde – wenn auch alles sehr spät. Wir konnten unseren Alltag besser auf seine Bedürfnisse anpassen, da wir von den Erfahrungen anderer Familien mit einem PWS-Kind profitierten.
Unser Leben wurde leichter. Auch weil wir keine Erwartungen an Jonas stellten, die er sowieso nie erfüllen würde. Uns blieben somit einige Enttäuschungen erspart.
Kurz zusammengefasst:
- Eine Diagnose ist für die betroffenen Familien auch eine Erleichterung, weil sie nun – hoffentlich – wissen, was ihr Kind braucht und was es lernen wird. Ebenso bewahrt sie vor Enttäuschungen und falschen Hoffnungen.
- Eine Diagnose hilft bei der Verarbeitung, ein behindertes Kind zu haben.
- Mit einer Diagnose kann der Familienalltag besser gestaltet werden.
- Therapien, Kuren, Untersuchungen und andere Hilfen können leichter beantragt werden.
- Man hat die Möglichkeit, andere Betroffene zu finden. Das kann helfen und Mut machen.
Übrigens:
Was das Wort „behindert“ angeht, darüber liest du mehr im nächsten Artikel dieser Serie…
Mehr Informationen auch unter www.prader-willi.de. Kontakt zu Ellen erhältst du über die Kommentarfunktion oder über mail@johannahavran.de.
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