„Die Flucht hat sich gelohnt – trotz allem“

Ibrahim ist 29 Jahre alt und schwul. Im November 2015 flüchtete er aus seiner Heimat Beirut nach Köln. Doch statt der lang ersehnten neuen Freiheit erwarteten den Queer-Aktivisten zunächst ein homophobes Umfeld in der Flüchtlingsunterkunft und teils rassistische Ressentiments in der schwulen Community. Immer wieder tauchte eine entscheidende Frage auf: Hat sich die lebensgefährliche Flucht gelohnt?

Von Daniel Segal

„In einer halben Stunde bei mir?“ – „Ja, bis gleich!“ Angefangen hat alles mit einem Grindr-Date. Vor rund zwei Jahren, noch im Libanon, verabredete sich Ibrahim über die App zum Sex. Doch als er die Wohnung des vermeintlichen Chatpartners betrat, stellte sich heraus: Der Typ, mit dem er gerade noch gechattet hatte, existierte gar nicht. Stattdessen war er in die Falle eines homophoben Hassverbrechers getappt, der Schwule über einen Fake-Account zu sich nach Hause einlädt, um sie brutal zusammenzuschlagen.

Ibrahim

Ibrahim (29) floh im November aus Beirut

Ibrahim gelang es, sich auf den Balkon zu retten, schrie um Hilfe. Doch noch bevor er auf seine Notlage aufmerksam machen konnte, kam der Täter hinter ihm her, packte ihn und schmiss ihn von der Balkonbrüstung im dritten Stock. Es dauerte sehr lange, bis Ibrahim wieder ein halbwegs normales Leben führen konnte: „Ich lag über acht Monate lang im Bett, um mich von meinen Verletzungen zu erholen“, erzählt er. Dabei hatte er noch Glück: Wenn er nicht auf einem Auto aufgeprallt wäre, hätte er den Übergriff vermutlich nicht überlebt – so der behandelnde Arzt. Der Täter wiederum saß zwar einige Wochen im Gefängnis, doch weil Homosexualität in dem als relativ gemäßigt geltenden Land trotz aller Liberalisierungsbestrebungen geahndet wird, drohte Ibrahim nach seiner Genesung eine entsprechende Klage.

„Meine Eltern waren froh, dass ich flüchte“

In Ibrahim reifte daher langsam der Gedanke, sein Heimatland zu verlassen. Ziel sollte Holland sein: „Bei meiner Internetrecherche habe ich gelesen, dass Holland besonders liberal im Umgang mit Schwulen ist, und zwar auch von gesellschaftlicher Seite. Deshalb stand für mich fest: In diesem Land will ich leben.“ Im letzten Spätsommer verabschiedete sich Ibrahim schließlich von seinen Freunden und auch von seiner Familie, die zwar über die sexuelle Orientierung ihres Sohnes Bescheid wusste, der Flucht ihres Kindes aber trotzdem etwas Positives abgewinnen konnten: „Meine Eltern hatten immer die Sorge, dass meine drei Schwestern keine Ehemänner finden würden, aus Angst, dass ihre künftigen Kinder einen schwulen Onkel haben würden. Wohl deshalb kamen auch von meiner Mutter keine großen Widerstände, als ich von meinen Fluchtplänen berichtete. Ich glaube, sie hat sich sogar ein wenig gefreut.“

Und so machte sich Ibrahim kurze Zeit später auf in die Niederlande, wie er damals noch glaubte. Nach dem Grenzübertritt in die Türkei ging es per Boot nach Griechenland und schließlich über die lebensgefährliche sogenannte Balkanroute zunächst nach Deutschland, wo er im bayerischen Passau in einen Bus nach Köln gesetzt wurde. Angekommen in Nordrhein-Westfalen, litt Ibrahim an heftigem Fieber, weshalb er seine Weiterreise nach Amsterdam nicht fortsetzen konnte, sondern in einem Krankenhaus notbehandelt wurde. Eine Ärztin war es schließlich, die ihn überzeugte, in der Domstadt zu bleiben: „Sie erzählte mir, dass Köln neben Berlin die wichtigste Regenbogenstadt Deutschlands ist und ich mich hier als Schwuler frei und sicher bewegen kann.“

Vergewaltigungsversuch in der Asylunterkunft

Leider ging es für Ibrahim nach der Entlassung aus dem Krankenhaus jedoch in eine Asylunterkunft nach Königswinter, rund 40 Zugminuten von Köln entfernt. Dort ließ die erhoffte Freiheit auf sich warten: Täglich wurde er wegen seiner sexuellen Orientierung durch andere Bewohner diskriminiert – bis die Situation vollends eskalierte, wie Ibrahim erzählt: „Eines Nachts wachte ich davon auf, dass ein Bewohner auf mir lag und mich vergewaltigen wollte. Zum Glück konnte ich mich befreien.“

Die Flucht aus dem Libanon, die lebensgefährliche Route bis nach Deutschland – sollte er all das auf sich genommen haben, nur um hier noch gefährlicher zu leben als in seiner Heimat? Ibrahim beschloss zu kämpfen. Als erstes wandte er sich an die zuständige Sozialarbeiterin, die sich jedoch eher hilflos zeigte. Dann suchte er so lange im Internet, bis er auf den Kölner Flüchtlingsrat stieß. Schon am nächsten Abend fand ein Treffen der Gruppe statt. Und obwohl sich dieses eigentlich an ehrenamtliche Helfer_innen wandte, beschloss Ibrahim spontan, trotzdem hinzufahren. Ein Entschluss, der einen Wendepunkt seiner Fluchtgeschichte darstellte. Denn nachdem er dort seine missliche Lage schilderte, half man ihm, möglichst schnell in eine geschützte Privatunterkunft umzuziehen.

Das war im Januar 2016 – und seitdem hat sich einiges getan: Ibrahim hat einen durch private Spenden finanzierten Deutschkurs begonnen und engagiert sich außerdem für andere LSBTI-Flüchtlinge: „Als ich gemerkt habe, dass es niemanden gibt, der sich speziell um unsere Belange kümmert, habe ich den Begegnungsort Sofra, was auf Arabisch Esstisch heißt, gegründet. Wir treffen uns, tauschen uns über unsere Sorgen und Probleme aus – und haben außerdem viel Spaß zusammen.“ Regelmäßig werden außerdem Gäste eingeladen, etwa von der Stadtverwaltung oder von der Arbeitsagentur, die Fragen von der Unterkunft bis zur Arbeitserlaubnis beantworten.

Rassismus in der schwulen Community

Ibrahim versteht sich aber nicht nur als Aktivist, sondern auch als schwuler junger Mann, der sein neues Leben in Deutschland genießen will. Und das tut er auch. Schnell hat er festgestellt, dass Homosexualität in Köln für die meisten Menschen völlig selbstverständlich ist. Trotzdem traute er seinen Augen kaum, als er ein sich küssendes schwules Paar in der U-Bahn sah oder kuschelnde und flirtende Jungs auf Partys beobachtete. All das war in seiner Heimat Libanon nahezu undenkbar. „Ich habe mich plötzlich sehr frei gefühlt“, erzählt Ibrahim.

Die sexuellen Übergriffe während der Silvesternacht hätten sich allerdings auch auf die LSBTI-Community ausgewirkt: Schon öfters sei es seitdem vorgekommen, dass er wegen seiner Herkunft von Türstehern abgewiesen wurde. „Bei Grindr wurde ich außerdem schon einmal sofort geblockt, als ich sagte, dass ich als Refugee nach Köln gekommen bin.“

Neben dem Rassismus, den Ibrahim in der Community teilweise erlebt, gibt es noch eine weitere Hürde, die eine Teilnahme am Szeneleben wesentlich erschwert: Das Geld ist schlicht und einfach zu knapp. „Dafür genießen wir es so richtig, wenn wir ab und zu bei jemandem zu Hause vorglühen und dann auf eine schwule Party gehen“, sagt Ibrahim und lächelt. Es sind diese Momente, in denen er einfach weiß: Die Flucht hat sich gelohnt – trotz allem.