Endlich eine Diagnose?

Endlich ist das lange erwartete Wunschkind da! Aber irgendetwas stimmt da nicht….

In dieser Situation befand sich meine beste Freundin vor ein paar Jahren.

Als Ellen ihr erstes Kind bekam, habe ich mich riesig darauf gefreut, den kleinen Mann bald nach der Geburt kennenzulernen. Leider hatte es – nach einer ansonsten wunderbaren (medizinisch: „unauffälligen“) Schwangerschaft – kurz vor der Geburt ein paar Probleme gegeben, so dass Jonas per Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurde.

Sobald sie dazu fähig war, berichtete Ellen mir am Telefon, dass es noch immer einige Schwierigkeiten gebe: wegen einer Infektion mussten Antibiotika gegeben werden. Jonas war außerdem sehr schlapp und konnte nicht selbstständig trinken. Das hätte man zwar anfänglich auch noch auf die Infektion schieben können, aber dann häuften sich doch die Auffälligkeiten.

Und spätestens als ich Jonas dann das erste Mal besuchen durfte, war mir klar: da steckt mehr dahinter. Ich war noch nicht so lange Ärztin. Aber dass bei Jonas etwas anders war als bei anderen Neugeborenen, war für mich auch ohne viel Erfahrung zu erkennen.

Jonas wurde schon bald in die Uniklinik verlegt, und dort wurde er so richtig „durchgecheckt“. Ein Termin folgte auf den nächsten. Ob es nun die verschiedensten Untersuchungen waren, Blutentnahmen oder Termine bei der Physiotherapie – im Krankenhaus kommt man nicht wirklich zur Ruhe.

Und über allem stand die Frage: Was hat Jonas? Eine Infektion war klar. Gelbsucht haben auch viele Neugeborene. Aber was steckte noch dahinter, dass er so schlapp war, dass er nicht trinken konnte, dass auch äußerlich irgendetwas „anders“ war? Die Frage: „Wie lautet die Diagnose?“

Das war natürlich sehr anstrengend und belastend für die junge Familie. Aber ich habe Jonas in guten Händen gesehen.

Über meine Freundin habe ich so ganz hautnah den Blickwinkel der Patienten kennen gelernt. Medizinische Informationen hatte ich nur aus zweiter Hand, wogegen die Sorgen, die Hoffnung und auch die Erschöpfung ungefiltert bei mir ankamen.

Und so habe ich meine Rolle in erster Linie als Freundin gesehen, die zufällig Kinderärztin ist (und nicht als Kinderärztin, die zufällig auch Freundin ist – wenn du verstehst was ich meine…).

Das hieß für mich dann Folgendes: Ich bin in erster Linie für meine Freundin da, um ihr zuzuhören und ihr emotional beizustehen. Ich halte mich zurück, was irgendwelche Vermutungen betrifft, um sie nicht noch mehr verrückt zu machen (wie gesagt: ich habe sie in guten Händen gesehen).

Aber wenn sie mich fragt, was meine Meinung ist, dann sage ich natürlich, was ich denke. Oder ich helfe mit Erklärungen, wenn sie ein Untersuchungsergebnis nicht verstanden hat. Und ich versuche sie auf Dinge vorzubereiten, die auf Jonas zukommen – wie z.B. eine Infusion durch eine Vene im Kopf (mehr dazu liest du hier) –  damit sie sich nicht erschreckt, oder etwas leichter mit der Situation umgehen kann.

Ich gebe zu: das ist nicht leicht gewesen.  Als Ärztin hat es mich schon ganz schön in den Fingern gejuckt. Besonders eine Frage hat mich beschäftigt: „(Wann) wird eine Blutuntersuchung gemacht mit der Fragestellung, ob es sich um eine genetische Erkrankung handelt?“.

So war ich froh, als ich hörte, dass diese Blutuntersuchung nach knapp 4 Wochen Krankenhausaufenthalt gemacht werden sollte.

Zu diesem Zeitpunkt war Jonas Zustand „stabil“. Das bedeutete in seinem Fall: die Infektion und auch die Gelbsucht, die er anfänglich gehabt hatte, waren überstanden. Er war motorisch (also was seine Muskulatur, seine Bewegungen betraf) noch immer sehr schwach, brauchte zur Ernährung eine Magensonde, und es gab einige äußerliche Auffälligkeiten. Aber es verschlechterte sich auch nichts und es bestand keine unmittelbare Gefahr für ihn.

Also würde man nun endlich mal schauen, ob wir die Diagnose über die Blutentnahme bekommen. Dachte ich.

Doch dann wollte meine Freundin nach Hause. Vor der Blutabnahme. Ohne Diagnose.

Um das zu verstehen, brauchte ich eine Menge Einfühlung. Ich hätte so gerne Gewissheit gehabt. Einfach eine Diagnose, um damit besser einschätzen zu können, was auf den kleinen Kerl zukommt. Und um nicht Dinge von ihm zu erwarten, die er vielleicht nicht erfüllen kann.

Andererseits sagte ich mir: Jonas Eltern hatten 4 Wochen lang ihren Sohn intensiv begleitet und sich von den Schwestern, Physiotherapeuten und Ärzten zeigen lassen, was für Jonas wichtig war. Sie hatten sogar gelernt, Jonas über eine Magensonde selbst zu ernähren, und ich fand es einfach toll, wie Jonas‘ Eltern die Situation gemeistert haben.

Es war geregelt, dass sie auch zu Hause Unterstützung hatten in Form von ärztlicher Betreuung und Physiotherapie. Sie haben sich vor der Entlassung aus der Klinik über alles genau informiert.

Und selbstverständlich war klar, dass für Jonas dadurch gesundheitlich keine Gefahr bestand.

Wie anstrengend so ein langer Krankenhausaufenthalt mit Kind sein kann, ist sicher schwer vorzustellen, wenn man es noch nicht selbst erlebt hat. Nicht zu vergessen die Situation, wenn man als Papa jeden Tag zu Besuch kommen muss, um seine Lieben sehen zu können.

Die Entscheidung, die genetische Untersuchung zu einem späteren Zeitpunkt machen zu lassen, konnte ich im Hinblick auf die Gesamtsituation gut annehmen.

Die kleine Familie brauchte nun erst einmal Zeit, um sich zu Hause zu erholen, und um sich in Ruhe in dieser Umgebung kennenzulernen.

Das hat auch wunderbar funktioniert. Jonas hatte alle Hilfe, die er brauchte (zum Beispiel Unterstützung bei seiner motorischen Entwicklung) und konnte nach einigen Tagen auch ohne Magensonde ernährt werden.

Die genetische Untersuchung wurde dann auch noch gemacht. Allerdings viel später. Darüber schreibe ich im nächsten Artikel.

Mir ist an dieser Stelle nämlich etwas anderes wichtig. Und das ist einer der Gründe, warum ich diesen Artikel schreibe.

Ich möchte zum Nachdenken anregen. Dazu einladen, die Dinge mal aus einer anderen Perspektive zu sehen. So wie ich damals – unfreiwillig – auch.

Auch nachdenkenswert für alle, die sich (noch) ein Kind wünschen: Egal wie viele Untersuchungen in der Schwangerschaft gemacht wurden: eine Garantie für ein gesundes Kind wird es nicht geben.

Bei vielen Erkrankungen ist es sehr wichtig, schnell Gewissheit zu haben. Nämlich dann, wenn es sich um Krankheiten handelt, bei denen Medikamente gegeben oder Diäten eingehalten werden müssen, um das Kind vor schweren gesundheitlichen Schäden zu bewahren.

Bei Neugeborenen können einige dieser Erkrankungen durch eine Blutabnahme aus der Ferse erkannt werden (das sogenannte Stoffwechselscreening). Auf diese Weise kann man schnell handeln, sogar bevor die Erkrankung überhaupt erkennbar geworden ist.

Bei vielen Erkrankungen gibt es diese Möglichkeit nicht. Hier ist wichtig zu unterscheiden: ist das Kind akut gefährdet?

Oder haben wir Zeit, um in Ruhe herauszufinden, was mit den Kind los ist?

Mir ist jedenfalls deutlich geworden, dass in diesem Fall vor der Diagnose auch noch andere Dinge stehen können.

Ich habe mir bewusst die Frage gestellt: Ist es im Moment wirklich wichtig, die Diagnose zu haben? Oder ist im Moment etwas ganz anderes wichtig? Nämlich, dass hier Eltern mit ihrem Kind Zeit als Familie brauchen. Dass sie erschöpft sind, einfach Ruhe brauchen und das bisher Geschehene verarbeiten können.

Und ich finde, dass das Beispiel von Jonas und eine Sache ganz wunderbar zeigt: Dass es für Eltern manchmal weniger eine Rolle spielt, welche Diagnose es gibt, sondern dass sie einfach nur sehen: das ist mein Kind. Ich liebe es so, wie es ist.

 

Dies ist auch der Einführungsartikel für eine kleine Serie. In kommenden Artikeln wird meine Freundin Ellen unter der Kategorie „Leben mit Behinderung“ einige Gastbeiträge schreiben: Über die Diagnose, ihr Leben mit einem behinderten Kind und welche Ideen und Tipps sie für Eltern in ähnlichen Situationen hat. Den ersten Artikel findest du hier.

 

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