Es gibt ja so gewisse Rettungsdienst-Anekdoten, die manche Retter öfter mal zum Besten geben.
Geschichten, die angeblich auf jeder Rettungswache mal passiert sind. Komisch, komisch.
Sehr beliebt ist die Story mit der jungen Patientin, die sich angeblich eine leere Weinflasche (wahlweise auch Wasser oder Bier, je nachdem wer das Märchen erzählt) eingeführt hat und sie dann durch das Vakuum (das bitte woher kommen soll??) nicht mehr alleine rausbekommen hat und den Rettungsdienst rufen musste.
Kompletter Schwachsinn.
Klar, Leute führen sich wirklich ALLES vaginal, rektal und (besonders gruselig) in die Harnröhre ein, kriegen das dann nicht raus, und rufen dann Feuerwehr oder Rettungsdienst und sorgen in Notaufnahmen und OPs für heitere Stimmung, aber das Muschivakuummärchen ist ne dumme Story, mit der in der Regel dienstältere Retter sich vor jüngeren, unerfahrenen Rettern brüsten wollen. Wo soll der halbe bis ganze Liter Luft denn hin? Ne Gebärmutter ist zwar ein kleines Muskelpaket, aber Luft aus Flaschen saugen gehört nicht zu ihren Aufgabengebieten.
Es gibt aber auch Anekdoten, die nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, und trotzdem merkt man sofort, dass da gerade ein Märchen erzählt wird.
Ich bin ja wirklich nicht die einzige Retterin in meinem Semester.
In meiner kleinen Gruppe erzähle ich auch vom ein oder anderen absurden Einsatz oder von manchen Kollegen, im Austausch zu Krankenschwesterngeschichten von Jamie (das klingt jetzt zweideutiger als geplant). Aber ich hab es einfach nicht nötig, meine Geschichten irgendwie auszuschmücken, um besonders erzählenswerte Erlebnisse zu haben (weder hier noch im RL), einerseits weil ich einfach wirklich absurden Quatsch erlebe und andererseits natürlich auch, weil meine Gruppe in der Uni nicht aus naiven Bewunderern besteht, die jedes Märchen für bare Münze nehmen.
Genau so ein Gespräch haben Jamie und ich letzte Woche mitbekommen, und es war uns wirklich ein Fest.
“Erfahrener” Retter (direkt nach seinem Anerkennungsjahr den Studienplatz bekommen) und drei Studentinnen, die direkt nach dem Abi die Zusage bekommen haben.
Er erzählt und erzählt und erzählt, und irgendwann kommt er zu ner Story, wie er sich an seinen Kollegen für Sticheleien gerächt und es der ganzen Wache so richtig gezeigt hat.
Anscheinend haben die Kollegen sich regelmäßig von seiner Milch im Wachenkühlschrank bedient (Tipp: unbeschriftete Lebensmittel sind auf Wachen Allgemeingut), sodass er selber nie was davon abbekommen hat.
Am letzten Tag seines Anerkennungsjahres hat er dann in die Vollen gelangt und angeblich zehn (!) Ampullen Lasix in seine Milchtüte gekippt und darauf gewartet, dass die Show beginnt.
Kurz und simpel erklärt, Lasix (Furosemid) ist ein Medikament, dass dafür sorgt, dass die Nieren kurzfristig mehr Urin produzieren, als sie es normalerweise tun würden. Viel mehr.
Angeblich wird auf vielen Rettungswachen Furosemid in die Getränke unliebsamer Kollegen gemischt. Also, ich würde es wohl rausschmecken, vor allem bei angeblich zehn Ampullen (40 bzw 20 ml sind gar nicht mal so wenig).
Furosemid hat eine ganze Reihe von Kontraindikationen und vor allem auch Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.
Ich würde jeden, der mir das Zeug ins Getränk mischt, wegen gefährlicher Körperverletzung anzeigen.
Das meine ich ernst, denn bei mir ist Furosemid kontraindiziert. Die Alternative wäre ja aufs Maul hauen, aber das sieht mein Chef nicht so gern. ^^
Möglicherweise vorhandene Kontraindikationen weiß man ja in der Regel nicht über die Kollegen, wenn man neu ist (und damit traditionell im Mittelpunkt der, zugegebenermaßen manchmal blöden, Scherze steht) oder halt “nur” der Praktikant. Ich diskutiere meine körperlichen Gebrechen😉 nicht mit Praktikanten, und ich kenne auch sonst keinen, der das macht.
Wenn man es nicht gezielt in eine Tasse oder ein Glas gibt, sondern in die Milch, von der sich alle bedienen, kann es auch echt den Falschen treffen, der dann richtig Probleme deswegen bekommt.
Darüberhinaus darf man, nachdem man Furosemid genommen hat, nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen. Einfach mal ne komplette Rettungswache außer Gefecht setzen? Der Anwalt vom Chef freut sich.
Während ner möglichen Reanimation alle zehn bis zwanzig Minuten aufs Klo gehen müssen? Nicht lustig. Kann auch bei weniger dramatischen, aber zeitintensiven Einsätzen ein übles Nachspiel haben, wenn Angehörige oder der Patient sich nicht optimal behandelt fühlen weil die Retter dauernd pinkeln müssen – oder wenn wegen sowas mal wirklich was schiefgeht. Könnt ihr euch noch auf eure verantwortungsvolle Arbeit konzentrieren oder nen 80kg-120kg-Patienten irgendwo runtertragen, rausheben oder rüberziehen, wenn ihr mal dringend müsst? Ich nicht.
Das ist ein “Spaß”, der echt ins Auge gehen kann.
Zu dem erfahrenen Retter: Allein daran, wie er die Story erzählt hat (und dass er nichtmal den Namen des Medikaments richtig wusste – ich habe alle Handelsnamen von Furosemid gegooglelt und das überprüft!), war sofort klar, dass das ein Märchen ist.
Er hat die Geschichte wie auswendig gelernt vorgetragen und sich selbst einfach viel zu sehr als strahlender Held dargestellt – angeblich hat er den dauernd aufs Klo rennenden Kollegen die Ampullen unter die Nase gehalten und “Schmeckt dir die Milch?” gefragt. Ich hätte den Helden die Ampullen daraufhin ja essen lassen. ^^
Die drei Mädels fanden’s ganz toll und cool von ihm. Und sooooo clever! *würg*
Ich werd ihn mal im Auge behalten, vielleicht gibt er ja noch mehr zum Besten.
Wer weiß, bestimmt hatte er auch mal eine Patientin, die ihre Weinflasche nicht mehr rausbekommen hat.
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