“Und, wie läuft das Medizinstudium?”
“Hart… Viel zu lernen, ich hab das Gefühl, ich komm kaum hinterher.”
“Aber du bist doch auch Rettungsassistentin, du kennst dich doch schon aus.”
“Ja, aber das, was wir momentan machen, hat nix mit dem zu tun, was wir in der Ausbildung gelernt haben.”
“Aber das ist doch nur Wiederholung.”
“Nein, das geht viel tiefer.”
“Trotzdem ist das nur Wiederholung. Guck mal, Anatomie hatten wir in der Ausbildung doch auch. Physiologie ebenfalls. Wie das Herz funktioniert, hast du doch schon gelernt, und so.”
“Es ist nicht nur das, es ist alles viel detailreicher.”
“Nein, glaub mir, es ist alles nur Wiederholung!”
“Ok, du hast Recht, eigentlich wiederholen wir nur das, was ich eh schon kann.”
“Siehst du.”
Ja, dieses Gespräch fand wirklich so zwischen einem Kollegen und mir statt, während ich mir meine Freizeit mit einem Dienst versüßte und in meine Lernsachen vergraben auf der Wache saß.
Ich bin ehrlich, ich habe vorher auch gedacht, dass ich es ein bisschen leichter haben würde als meine Kommilitonen, die direkt von der Schule kommen, weil ich bereits studiert habe und weil ich eine medizinische Ausbildung und Berufserfahrung hab.
Vielleicht stimmt das ja auch, nur merke ich das nicht, zumindest nicht bewusst.
Wenn wir irgendwann auf Patienten losgelassen werden, tritt mein Vorteil vielleicht zutage. Ich habe den Umgang mit Patienten nicht in Anamnesekursen gelernt, sondern meine Skills jahrelang mit echten Patienten geübt, ganz auf mich allein gestellt und ohne Dozenten, der mich an die Hand nimmt und das Gespräch in die richtigen Bahnen lenkt, wenn ich mich hoffnungslos verfranse oder der Patient einfach nichts zielführendes antwortet oder nicht zum Punkt kommt.
Aber jetzt, in der Vorklinik, bringt mir das alles nix. Wir müssen Sachen auswendig wissen, von deren Existenz wir in der Rettungsdienstausbildung noch nicht einmal erfahren haben.
“Muss gewusst werden!” ist zwischen Jamie und mir so eine Art Running Gag geworden, wann immer wir auf eine vollkommen bescheuerte Formel, ein Fachwort mit mehr als 30 Zeichen oder eine Zahl mit vier Vor- und acht Nachkommastellen stoßen. Meist ist es dann auch tatsächlich so, dass wir diese Information in den Klausuren nicht angegeben bekommen, sondern in unserem Gedächtnis danach kramen müssen.
Und das führt zu folgendem, ebenfalls recht häufig geäußertem Satz:
“Ist doch nur Auswendiglernen.”
Ja, ist es größtenteils tatsächlich. Es gibt natürlich Sachen, die man verstehen muss (oder, wie ich finde: darf), aber bisher ist der Großteil Auswendiglernen.
Auswendiglernen kann ich sehr gut, es fällt mir leicht, geht recht schnell und eigentlich auch in recht großem Umfang.
Der Umfang im Medizinstudium ist allerdings nicht “recht groß”, er ist gigantisch.
Natürlich ist es leichter, wenn man gut Auswendiglernen kann, aber es ist dennoch ein riesiger Unterschied, ob ich für eine Prüfung zehn Seiten Informationen auswendig lernen muss oder für acht Prüfungen jeweils ein halbes Telefonbuch.
“Multiple Choice ist doch leichter als selbst was hinschreiben, die richtige Antwort steht doch schon da.”
Ja, im schlimmsten Fall kann man immer noch Lotto spielen. Die richtige Antwort verbirgt sich aber zwischen vier falschen Antworten, die leider ebenfalls richtig klingen. Wenn man sich nicht wirklich exakt und sehr detailverliebt in das Thema eingearbeitet hat, fällt man leicht auf eine oberflächlich richtig klingende Antwort hinein und schon ist der Punkt verschenkt.
Da die Anzahl der Prüfungsversuche, bis es “Ende des Medizinstudiums deutschlandweit” heißt, sehr begrenzt ist, ist eigentlich jede verschenkte Klausur Stress. Zumindest für mich. Und nein, ich möchte keine guten Tipps, wie ich diesen Stress ablegen kann. Es wird nichts an den Tatsachen ändern: Die Versuche für jede Prüfung sind begrenzt und danach ist es für mich für immer vorbei.
“Wovon willst du denn erschöpft sein, du musst doch nur lernen?”
Ja, ich arbeite jetzt nicht mehr so stark körperlich wie vorher, aber trotzdem bin ich dauernd kaputt. Nur, weil ich jetzt nicht mehr täglich Patienten aus dem zweiten bis fünften Stock runtertrage, heißt das nicht, dass ich den ganzen Tag nur auf dem Sofa sitze. Ich sitze meistens, ja, aber lernen ist ebenfalls sehr anstrengend. Mein Gehirn fühlt sich abends an, als wäre es ausgesaugt worden, und nachts falle ich meist in einen komatösen Schlaf, sobald mein Kopf das Kissen berührt und ich meinen Stoffhasen im Arm halte.
“Warum nimmst du denn deine Lernsachen mit zur Wache? Lern doch einfach in den Vorlesungen, anstatt da zu schlafen.”
Sehr witzig. Solche Sprüche hört man besonders gern von Leuten, die noch nie eine Uni von innen gesehen haben und sich da voll und ganz auf die Insiderinformationen von RTL und der BILD-“Zeitung” verlassen.
“Guten Abend, meine Damen und Herren, guten Morgen, liebe Studentinnen und Studenten.”
Hahahahahahaha. Fick dich.
Mein Wecker klingelt meist um halb sieben, manchmal auch vorher, weil ich dieses Semester jeden Tag um acht Uhr die erste Vorlesung habe. Unsere Hörsäle sind in der Regel so überfüllt (da viel zu kleine Hörsäle für unsere Vorlesungen gebucht wurden), dass man keine Chance mehr auf nen Sitzplatz hat, wenn man nicht mindestens ne zwanzig Minuten vor Vorlesungsbeginn da ist.
Wir haben zwar fast jeden Tag mittags eine oder zwei Stunden frei, sodass wir wenigstens dazu kommen, in der Mensa zu essen, aber meist geht der Unterricht dann (mit kleinen Unterbrechungen) trotzdem bis in den späten Nachmittag weiter. An zwei Tagen haben wir auch bis nach 19:30 Unterricht.
Und wenn wir mal mittags schon frei haben, heißt das nicht, dass wir uns aufs Sofa knallen und fernsehn, im Internet surfen oder auf unseren Konsolen zocken. Den ganzen Kram (und es ist verdammt viel!), den wir an dem Tag in den Vorlesungen und Seminaren hatten, müssen wir nacharbeiten. Für eine anderthalbstündige Vorlesung brauchen wir locker vier Stunden Nachbereitungszeit, und das liegt nicht daran, dass wir langsam sind oder uns oft ablenken lassen. Dann gibt es auch immer wieder Veranstaltungen, die man nicht nur nach-, sondern auch vorbereiten muss. Wir haben jede Woche Seminare und Praktika, zu denen wir nicht unvorbereitet erscheinen dürfen. Meist wird zu Beginn des Praktikums abgefragt. Wer nicht gut genug vorbereitet ist, wird nach Hause geschickt und erhält einen Fehltermin.
Wenn ich also seit kurz nach sechs wach bin und genau weiß, dass ich bei dem ganzen Zeug, das ich vor- und nachbereiten muss, nicht vor ein Uhr im Bett sein werde, obwohl mein Wecker am nächsten Tag ebenfalls wieder um kurz nach sechs klingelt, bin ich für Witzchen darüber, was für ein tolles entspanntes Leben wir Studierende doch haben, nicht sonderlich empfänglich.
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