Hallo,
ich bin Ellen, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Mein Sohn Jonas hat das Prader-Willi-Syndrom. Das ist ein zufällig auftretender Gendefekt, der sich unter anderem durch Muskelschwäche, verringertes Sättigungsgefühl, Kleinwuchs und geistige Beeinträchtigung äußert. In einer kleinen Serie berichte ich über mein Leben und meine Erfahrungen mit einem behinderten Kind.
Krankenhausalltag
Mit einem behinderten Kind hat man zwangsläufig eine enge Beziehung zu Ärzten und Therapeuten. Besonders intensiv ist sie bei Krankenhausaufenthalten, die je nach Schwere der Behinderung mehr oder weniger oft notwendig sind.
Wir Eltern befinden uns dann in einem emotionalen Ausnahmezustand. Vor lauter Sorge um unser Kind verstehen wir die Ärzte nicht, vergessen wichtige Informationen und geraten in großen Stress. Mit Jonas sind wir auch schon mehrfach im Krankenhaus gewesen und haben inzwischen eine recht gut funktionierende Strategie entwickelt, wie wir möglichst entspannt durch die schwierige Zeit kommen.
Paralleluniversum Krankenhaus
Der Alltag in einer Klinik ist gnadenlos durchgetaktet und richtet sich nach Visiten, Terminen beim Facharzt, Essens- und Besuchszeiten. Weil öfter Notfälle sofort behandelt werden müssen, ist diese Zeiteinteilung aber vollkommen unberechenbar. Also sprintet man flott zum Kardiologen, Urologen, Radiologen …, sobald er eine Lücke hat, und lässt dabei natürlich alles stehen und liegen.
Wir Eltern müssen mit der Ungewissheit (wann ist denn endlich die Untersuchung?) und der Abhängigkeit leben. Diese empfundene Ohnmacht in Kombination mit der Sorge um das Kind schlägt je nach eigener Konstitution unterschiedlich schnell aufs Gemüt. Ich kam mir oft genug vor wie in einem Paralleluniversum, weil die Welt da draußen so anders und weit weg war.
Mir hat in diesen Phasen der Kontakt zum „Leben vor dem Krankenhaus“ sehr geholfen! Der Besuch von Familie und Freunden war eine tolle Abwechslung und es gab endlich andere Gesprächsthemen als nur Untersuchungsbefunde, OP-Termine oder das Klinikessen.
Ganz besonders habe ich mich gefreut, wenn ein Spaziergang an der frischen Luft möglich war! Das habe ich meistens gemacht, wenn Jonas schlief oder aber jemand anderes Wache halten konnte. Danach habe ich mich schon viel besser gefühlt.
Wer niemanden hat, der ihn entlasten könnte, sollte freundlich die Krankenschwestern oder Pfleger fragen. Als Jonas direkt nach der Geburt für fast vier Wochen in der Klinik war, haben mich die Schwestern gegen Ende einmal dazu gedrängt, eine Nacht zuhause zu schlafen. Am nächsten Morgen war ich um 7 Uhr wieder zurück – ausgeruht und gestärkt.
Ich kann das nur jeder Mutter (oder jedem Vater) empfehlen. Die Auszeit brauchen wir Eltern, um weiterhin gut für unser Kind da sein zu können. Außerdem gibt es wohl keine kompetenteren „Babysitter“ als das Krankenhauspersonal. Eine absolute Win-win-Situation!
Mit den Ärzten sprechen
Wenn dann endlich mal ein Arzt da war, mussten wegen des straffen Zeitplans Behandlungen und Befunde schnell besprochen werden. Gerade bei Kindern mit Behinderung bleiben aber oft noch Fragen ungeklärt. Hier ist freundliche Hartnäckigkeit notwendig. Niemals vergessen, dass Ärzte auch Menschen sind (die auf ihre Art unter dem System leiden) und ihr Bestes geben. Die Hektik ist nicht persönlich gegen dich oder dein Kind gerichtet.
Was Eltern aber verlangen können, ist eine verständliche Mitteilung der Befunde. Wir Laien kennen die vielen medizinischen Fachausdrücke am Anfang nicht und haben ein Recht darauf, sie erklärt zu bekommen. Das ist besonders wichtig, damit die Kommunikation mit den Ärzten funktioniert. Nur wenn ich den Arzt verstehe, kann ich die Behandlung unterstützen. Es ist also auch im Sinne des Arztes, dass die Eltern wissen, wovon er spricht!
In unserer elfjährigen Karriere als Eltern eines behinderten Kindes haben alle Ärzte auf freundliches Nachfragen die Befunde und geplanten Therapien wieder und wieder erklärt. So waren wir (fast) auf dem gleichen Wissensstand und konnten gemeinsam überlegen, was für Jonas richtig ist. Mir hat es geholfen, dass ich bei fast allen Untersuchungen dabei gewesen war. So bin ich direkt meine Fragen losgeworden und war später bei der Visite besser vorbereitet.
Dem eigenen Gefühl vertrauen
Mit der Zeit haben wir Jonas immer besser kennengelernt und können inzwischen einschätzen, welche Therapien oder Behandlungen er wohl mitmachen wird. Letztendlich sind schließlich wir diejenigen, die für die Umsetzung und die Motivation sorgen müssen.
Das funktioniert aber nur, wenn wir den Ärzten vertrauen und deren Entscheidungen für richtig halten. Gerade bei großen Operationen, langdauernden Therapien oder Medikamenten mit Nebenwirkungen ist das wichtig. Bei Bedenken haben wir dann eine zweite Meinung eingeholt (das Internet zählt nicht! ;-)).
Wir haben schon mehrfach den Arzt gewechselt, weil es mit dem alten einfach nicht mehr passte. Bereut haben wir diesen Schritt nie, weil Jonas immer medizinisch gut versorgt war. Obwohl die Arzttermine für ihn teilweise unangenehm sind, geht er jedes Mal gerne mit. Das liegt einerseits bestimmt an seinem Charakter, andererseits aber auch an unserer Zufriedenheit. Wenn Jonas merkt, dass wir den Ärzten vertrauen, macht er bei den Untersuchungen gut mit.
Das Pflegepersonal – deine Verbündeten
Bei jedem Krankenhausaufenthalt ist die Beziehung zu den Krankenschwestern und Pflegern besonders wichtig. Sie sind oft die ersten Ansprechpartner und eine gute Schnittstelle zwischen Arzt und Patient. Außerdem schauen sie nicht nur nach dem Befinden ihrer kleinen Patienten, sondern sehen auch, wann die psychischen Kräfte der Eltern nicht mehr reichen. Das ist besonders wichtig, weil wir ja fast nur mit unserem Kind beschäftigt sind und dabei auf uns selbst wenig achten.
Während der Arzt meist nur bei den Untersuchungen und Visiten Kontakt mit Eltern und Kind hat, erhält das Pflegepersonal durch das Leben auf der Station einen wunderbaren Eindruck davon, was die Familie leisten kann und braucht. Diese Einschätzung kommt allen zugute.
Jonas war aufgrund seiner Muskelschwäche nicht in der Lage, genug aus der Flasche zu trinken. Daher erhielt er die restliche Nahrung über eine Magensonde. Die Krankenschwestern trauten meinem Mann und mir das Sondieren unseres Sohnes zu und brachten es uns bei. So wurden sie entlastet und wir konnten uns mehr um Jonas kümmern. Einzig beim Legen der Magensonde haben wir gepasst. Das hätte ich wirklich nicht können wollen.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
So sehr sich das Krankenhauspersonal auch bemüht, solltest du dich nicht blind darauf verlassen, dass alles wie geplant läuft. Darum auch die selbstverständlichsten Dinge ansprechen und einfordern.
Als Begleitperson bekam ich einmal in einer Klinik zwar ein Zustellbett, wurde von der Verwaltungssekretärin aber nicht in den Essensplan aufgenommen. Und auf der Station waren wir trotz lange vorher vereinbartem Termin nicht angemeldet, die Ärzte mit dem umfangreichen Blutabnehmen überfordert und auch sonst war es absolut chaotisch.
Zum Glück rettete mich meine Mutter, die Essen mitbrachte, selbstbewusst auftrat und innerhalb kurzer Zeit sämtliche Untersuchungen von Jonas einforderte, sodass wir schließlich sogar einen Tag früher nach Hause konnten. Glaubt mir, daraus habe ich jede Menge gelernt!
Tipps für die Bewältigung des Krankenhausalltags
- Kontakt und Hilfe von Familie und Freunden. Wenn möglich, bei der Krankenhauswache abwechseln, um so den Lagerkoller abzuwenden. Bei Bedarf den Besuch bitten, auf das Kind aufzupassen, und einen Spaziergang in der Welt da draußen machen.
- Nicht vom Kliniksystem einschüchtern lassen! Die Klinik ist für dich da und nicht umgekehrt! Keine Scheu gegenüber den Ärzten! Sie sind dazu da, deinem Kind und dir zu helfen. Wenn du etwas nicht verstehst, frag nach – wieder und wieder. Gute Ärzte zeigen Verständnis.
- Hole eine zweite Meinung ein, wenn du dir unsicher bist. Gerade vor großen Operationen oder langwierigen Behandlungen ist es wichtig, dass du die Therapie für sinnvoll hältst. Wenn du deinem Arzt nicht vertraust, wechsle.
- Unterschätze niemals die Bedeutung der Krankenschwestern und Pfleger! Sie bekommen mehr mit als der Stationsarzt und können so eine tolle Schnittstelle zwischen dem Arzt und dir sein.
- Sprich auch die selbstverständlichsten Dinge an und frage lieber einmal mehr als zu wenig nach.
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