Das Projekt „ATLAS2018“ der niederländischen Künstler Erwin Kokkelkoren und Bert Oele stellt Menschen mit HIV aus aller Welt vor. Was damit erreicht werden soll und wie man sich selbst einbringen kann, erzählt Erwin im Interview.
Erwin, zusammen mit deinem Partner Bert machst du das Projekt „ATLAS2018“. Worum geht es dabei genau?
„ATLAS2018 – I will speak, I will speak!“ ist ein weltweites Projekt, in dem Geschichten über HIV erzählt werden. Wir sammeln diese Geschichten und verbreiten sie in Form von Porträts, Erzählungen, Fotos und Videos. Zum einen wollen wir damit die Community bestärken, was das Leben mit HIV angeht. Wir wollen aber auch außerhalb der Community das Wissen über HIV verbessern, vor allem, um die noch immer weit verbreitete Stigmatisierung abzubauen.
Wie kam es zu dem Projekt?
Das ist nicht unsere erste künstlerische Auseinandersetzung mit HIV. Wir wurden beide 1991 als HIV-positiv diagnostiziert. Wir leben also schon seit 25 Jahren mit dem Virus. Und schon lange erzählen wir Geschichten über HIV und suchen dafür ein größtmögliches Publikum, sei es über Ausstellungen, Bücher, Fernsehen oder soziale Medien.
„Wir leben schon seit 25 Jahren mit dem Virus“
Vor sieben Jahren riefen wir das große, international viel beachtete Projekt „The Time There-After“ ins Leben. Darin dokumentierten wir 30 Jahre HIV und Aids in den Niederlanden anhand von 30 persönlichen Geschichten. Für jedes Jahr – von 1982, dem Beginn der Aidskrise, bis zum Jahr 2011 – steht eine Geschichte.
Auf der Welt-Aids-Konferenz 2014 in Melbourne sind wir erneut mit vielen HIV-positiven Menschen in Kontakt gekommen. Und einmal mehr wurden die Statistiken für uns menschlich greifbar. Wir haben gemerkt, wie schwierig es in weiten Teilen der Welt immer noch ist, den Alltag mit HIV zu meistern, zum Beispiel in Afrika oder Russland. Im Vorfeld der 2018 in Amsterdam stattfindenden Welt-Aids-Konferenz wollten wir deshalb einen Beitrag leisten, und so haben wir im vergangenen Jahr „ATLAS2018“ gestartet.
Was ist das Besondere an dem Projekt?
Wir wollen die menschliche Seite von HIV und Aids zeigen. Für uns bedeutet das, Menschen zu porträtieren und nicht Krankheiten. Wichtig ist uns, Geschichten zu erzählen, die international noch neu und unbekannt sind, zum Beispiel aus der Berliner Lederszene oder von „Helping Hand“ in Frankfurt, einem Projekt für HIV-positive Migrant_innen.
„Wir wollen die Vielfalt des Lebens mit HIV darstellen“
Wir wollen auch nicht nur von Erfolgen berichten, sondern die Vielfalt des Lebens mit HIV darstellen. Deshalb porträtieren wir Männer und Frauen, Junge und Alte sowie Menschen verschiedener Herkunft und sexueller Orientierung. Neben den Betroffenen suchen wir zudem Gesprächspartner, die das größere Ganze im Blick haben und uns von der Situation vor Ort berichten können. So haben wir beispielsweise in Surinam mit dem Gesundheitsminister gesprochen, in Berlin mit Carsten Schatz, einem offen HIV-positiv lebenden Mitglied des Abgeordnetenhauses, oder mit Ulla Pape von der Radboud-Universität Nijmegen über die Lage in Russland.
Das klingt nach viel Arbeit und einem größeren Team.
Es ist definitiv ein Vollzeitjob. Ich kümmere mich vornehmlich um die Interviews und Texte, Bert stemmt das Organisatorische. Außerdem haben wir mit Marjolein noch eine Fotografin an Bord sowie unsere Filmemacher Hans, Willem und Wilko, um nur einige Mitstreiter_innen zu nennen.
Welche Reaktionen bekommt ihr auf euer Projekt?
Das Feedback ist überraschend und inspirierend. Wenn man eine ganze Weile selbst mit HIV lebt, denkt man, man wüsste bereits alles darüber. Doch weit gefehlt. Es gibt so viel, was wir nicht wissen, zum Beispiel wie es sich anfühlt, in Russland HIV-positiv zu sein. Deshalb ist das auch für uns ein großes Lernprojekt.
„Wir verstehen unser Projekt als einen sicheren Hafen“
Besondere Bedeutung hat es ebenso für diejenigen, die ihre Geschichte mit uns teilen. Für viele ist es ein großer Schritt und zugleich ein großes Bedürfnis, sich zu öffnen und sich zu ihrer Geschichte zu bekennen, seien sie homosexuell, ehemalige Sexarbeiter_innen, Drogengebrauchende oder etwas anderes. Wir verstehen unser Projekt dabei als einen sicheren Hafen: Die Menschen teilen uns nur das mit, was sie preisgeben wollen.
Kann man sich auch selbst an „ATLAS2018“ beteiligen?
Unbedingt! Auf unserer Website haben wir ein „Open Podium“ eingerichtet, wo Menschen ihre Geschichte erzählen können, zum Beispiel in Form eines Kurzvideos. Es können aber auch Fotos oder Texte sein.
Wir freuen uns über jeden Beitrag, der hilft, unseren Atlas aufzubauen. Dabei machen wir keinerlei Vorgaben, außer, dass es um HIV gehen muss. Videos sollten nicht länger als anderthalb Minuten sein, am besten auf Englisch. Es darf auch gern etwas Lustiges oder Bewegendes sein.
Schon jetzt sieht man auf der Website eine Vielfalt von Menschen und Geschichten. Was magst du ganz besonders an dem Projekt?
Wir lieben den kreativen Ansatz. Unsere Erfahrungen als Autoren und Performer bieten da viele Vorteile. Wir erzählen und teilen Geschichten von Menschen, die etwas zu sagen haben und uns inspirieren. Ganz besonders gefallen mir deshalb all die wunderbaren Menschen, die ich durch das Projekt kennenlernen konnte – die verrückten, witzigen, starken Menschen. Und ich mag den kreativen Prozess. Wir haben das Projekt mit einer Handvoll Interessierter aus dem Nichts angefangen. Nun gibt es uns schon ein Jahr, und es wächst und wächst. Das ist toll anzusehen.
„Das Projekt wächst und wächst. Das ist toll anzusehen“
Aus dem Nichts ist ein gutes Stichwort – wie finanziert ihr euch?
Die Finanzierung ist nicht einfach und ein ständiger Kampf. Das Reisen und Filmen kostet ziemlich viel Geld. Derzeit werden wir von verschiedenen Seiten gesponsert: von Pharmaunternehmen, der niederländischen Regierung sowie kulturellen Einrichtungen und privaten Spender_innen.
Ihr habt bereits Menschen aus Deutschland, Surinam und natürlich aus den Niederlanden porträtiert. Welche Ziele stehen als Nächstes an?
Wir haben noch eine ganze Reihe von Ländern auf der Liste. Im April 2016 gehen wir nach Sambia, im Juli nach Südafrika und Botswana. Ende dieses und Anfang kommenden Jahres wollen wir nach Russland und Südostasien, das heißt Kambodscha, Indonesien, Thailand und Birma. In der ersten Jahreshälfte 2017 geht es hoffentlich nach Kasachstan, Georgien und den Kaukasus, Ende 2017 dann noch in die USA. Und es stehen noch einige Ziele mehr auf unserer Wunschliste.
Mit der Welt-Aids-Konferenz 2018 in Amsterdam soll das Projekt enden. Wie und warum?
Wie man auf der Website sehen kann, gehen alle unsere Geschichten online, sobald sie fertig sind. Das heißt, wir wachsen Tag für Tag. Die Konferenz wird dann den krönenden Abschluss bilden. Wir werden unser Projekt dort vorstellen, ein Buch mit den Geschichten veröffentlichen und eine Ausstellung mit den fotografischen Arbeiten zeigen. Außerdem arbeiten wir mit einem großen Dokumentarfilm-Produzenten an einer Serie über HIV in Russland, dem Kaukasus und anderen ehemaligen Sowjetregionen. Osteuropa und Zentralasien werden auch Schwerpunktthema auf der Konferenz sein.
Wir hoffen, dass die Dokumentation kurz vorher im Fernsehen zu sehen ist. Und mit der Konferenz wird das Projekt vorbei sein. Das ist wie mit einem Satz: Er ist stärker, wenn er einen Punkt am Ende hat. Deshalb ist es richtig, dass auch „ATLAS2018“ ein klares Ende hat. Danach werden wir neue Projekte beginnen.
Herzlichen Dank für das Gespräch – und weiterhin viel Erfolg!
Das Interview führte Stephan Kolbe.