Alltagsaktivitäten bei COPD: was zählt, wenn die Luft knapp wird?

Weil jede Tätigkeit zu Atemnot führen kann, nehmen COPD-Patienten eine Bewertung ihrer Alltagsaktivitäten (ADL = activities of daily living) vor. Dabei sind Lebenswelt-Konzepte und Aspekte der persönlichen Integrität sowie Geschlechterrollen und soziale Werte bedeutsam. Patienten, deren Kontrollbedürfnis von Effektivität abhängt, tun sich häufig besonders schwer damit, Unterstützung von anderen anzunehmen. Die Umdeutung von Kontrolle als situations- und beziehungsgebunden kann in diesem Fall die Freude an Alltagsaktivitäten erleichtern.

Priorisierung der Alltagsaktivitäten

Das Leben eines COPD-Patienten „von Hürde zu Hürde“ angesichts von winzigen alltäglichen Tätigkeiten kann sich ein Gesunder nicht vorstellen. COPD bedeutet zudem ein Leben mit der ängstigenden Erfahrung von Atemnot als ständiger Erinnerung an den Tod. COPD-Patienten müssen immerfort entscheiden, was für sie wichtig ist, weil jede Tätigkeit zu Atemnot führen kann.

Die Studie von Lindenmeyer A et al. untersucht

  • was einzelne ADL konkret für das Alltagsleben von COPD-Patienten bedeuten
  • welche dieser ADL bei Interventionen für COPD-Patienten entsprechend ihrer Bedeutung besondere Beachtung finden sollten

Grundlagen

Die konzeptionelle Grundlage der Untersuchung bildet das „Lebenswelt-Netzwerk“ (Todres L et al.) mit seinen fünf Dimensionen:

  • Körper (Verkörperung)
  • Raum (Räumlichkeit)
  • Beziehung (Intersubjektivität)
  • Zeit (Zeithaftigkeit)
  • Stimmung (Gemütslage)

[Exkurs:

Es gibt weitere hilfreiche Konzepte zum Zusammenhang von ADL und Krankheitsverlauf bei chronischen Erkrankungen. Eine Blog-Reihe zum Thema „Chronische Lungen-Erkrankungen im Lebenslauf“ wird diese Konzepte nach und nach vorstellen.]

Die Autoren der oben genannten Studie wählen das „Lebenswelt-Netzwerk“ wegen der Übereinstimmung ihrer Befunde mit vier der fünf Dimensionen. In der Zusammenschau entwickeln sie ein Konzept der ADL von grundlegenden hin zu komplexen Bedürfnissen:

  1. Sorge für den Körper
  2. Sorge für die persönliche Umgebung
  3. Beweglichkeit im Lebensraum
  4. Interaktion mit anderen
  5. Identität im Zeitverlauf

Bewertungskriterien der Bedürfnisse

Die Alltagsaktivitäten werden bewertet und priorisiert, wenn die persönliche Integrität bedroht ist.

Es gibt drei zentrale Aspekte der persönlichen Integrität:

  1. Effektivität („fähig sein zu etwas“)
  2. Verbindung („in Beziehung sein mit“)
  3. Kontrolle („bestimmen können über“)

Das „COPD-Kern-Konzept“ – eine Argumentationslinie

  • Etwas tun können (Effektivität), in Beziehung stehen (Verbindung), bestimmen können über (Kontrolle) sind für das Leben mit COPD notwendig, indem sie längerfristige persönliche Integrität garantieren.
  • ADL werden danach bewertet, ob sie zu Effektivität, Verbindung und Kontrolle beitragen.
  • Dieser Beitrag ist in ein allgemeineres Verständnis von Identität eingebettet, das seinerseits durch Geschlechterrollen und soziale Werte (einschließlich körperlicher Arbeit) beeinflusst wird.
  • Der Verlust von Verbindung kann zu sozialer Isolation und (vorübergehendem) Sinnlosigkeitsgefühl führen.
  • Der Verlust von Effektivität (insbesondere bei der Sorge für den Körper und für sich selbst) ist belastend – kann jedoch durch die Unterstützung von anderen gemildert werden und eine sich vertiefende Verbindung ermöglichen.
  • Zunehmende Abhängigkeit von anderen kann zu einem Verlust des Gefühls der Kontrolle (über Körper, Selbst, Leben) führen.
  • Patienten, deren Kontrollgefühl von Effektivität abhängt, bereitet die Annahme von Hilfe häufig Schwierigkeiten.
  • Eine Umdeutung der Kontrolle als situations- und beziehungsgebunden kann die Freude an Aktivitäten fördern, die aktuell möglich sind.

Wie lässt sich das „COPD-Kern-Konzept“ für die Krankheitsverarbeitung nutzen?

Zu verstehen, welche ADL Bedeutung für den COPD-Patienten haben, ist für Behandler extrem wichtig. Fragebogen-Ergebnisse (SGRQ, CAT, etc.) erlauben zwar eine grobe Einschätzung, wie stark die COPD das Alltagsleben einschränkt. Darüber hinaus ist das Gespräch mit dem jeweiligen Patienten notwendig:

  • über die ständigen Änderungen der Bewertung, welche Alltagsaktivitäten gerade wichtig und/oder möglich sind.
  • welche Bedeutung bestimmte Aktivitäten für den Patienten haben.

Hier ein paar Beispiel-Fragen …

  • zum Thema „Zielsetzung“:
  • „Was würden Sie am liebsten tun können?
  • „Welche Tätigkeit würde Sie am meisten zufriedenstellen?“
  • Zum Thema „Umgang mit Verlust von ADLs“:
  • „Gibt es etwas anderes, das Sie angenehm finden könnten?“
  • Zum Thema „Verbesserung der Lebensqualität“:
  • „Was unternehmen Sie trotz Ihrer Stimmungsschwankungen?
  • Zum Thema „Gute Tage – schlechte Tage“:
  • „Haben gute Tage – schlechte Tage einen Einfluss auf Ihre Tätigkeiten?“

Der Schlüssel zum gelingenden Coping

Die individuelle Bedeutung der Alltagsaktivitäten ist die Grundlage für das Verständnis des COPD-Patienten. Werden bei den Behandlungszielen seine wichtigsten Bedürfnisse berücksichtigt, so steigen Therapiemotivation und Adhärenz – und als Effekt die Freude an den Alltagsaktivitäten, die Lebenssinn vermitteln.