Auf Spurensuche

Meine Kommilitonen kichern. Dabei bin ich stolz, dass ich heute nun schon das vierte Mal am Telefon hänge. Auf Französisch ist das nach wie vor eine Aufgabe, die mich ein wenig Überwindung kostet, aber so langsam komme ich gut klar. Was gibt es da also zu lachen? Ich erkundige mich bei meinen Co-Externes (Mitstudenten), bevor ich anfange, mich darüber zu ärgern. ‚Du bist immer so nett! Und stellst dich namentlich vor. Das brauchst du nicht, sag einfach, dass du aus der Neurologie und unserem Krankenhaus anrufst, das reicht aus. Das ist einfach amüsant, dann noch dein netter Akzent…‘ Na dann, wenn es weiter nichts ist. Also verrate ich meine niedere Stellung nur auf Nachfrage. Dann komme man auch schneller weiter, wird mir verraten…

Wichtig ist, was vor 35 Jahren war

Der Grund meiner Telefonate: Akten suchen. Denn Monsieur R., ein 50jähriger Patient, der mit einem Glioblastom (einem aggressiven Hirntumor) auf unserer Station liegt, hatte im Alter von 15 Jahren schon einmal einen Hirntumor. Aber was für einen und wie die Behandlung damals aussah, das wissen wir nicht. Für die Ärzte ist das wichtig, denn es ist gut möglich, dass er die maximale Strahlendosis schon erhalten hat; abhängig von meinen Rechercheergebnissen werden das Team also ihre Therapie planen. Sonderlich erfolgreich bin ich allerdings nicht. Die OP wurde 1980 durchgeführt, der operierende Chirurg ist im Ruhestand, Unterlagen sind im Archiv nicht aufzufinden. Und wo ist überhaupt zu suchen? Ich klappere die Pädiatrie, die Radiologie, die Strahlentherapie und die Onkologie ab. Und versuche es danach bei einem weiteren Krankenhaus, in dem Monsieur R. vor zehn Jahren wegen einer anderen Sache behandelt wurde. Vielleicht liegen denen ja alte Unterlagen vor?

Meine Suche bleibt erfolglos. Zu guter Letzt bleibt mir nichts übrig, als die Kontaktperson anzurufen, die für Monsieur R. in seiner Akte festgelegt ist – seinen Vater. Ich spreche mit einem sehr engagierten Herrn, der mindestens 70 Jahre alt sein muss. Sein geistiger Zustand erscheint mir einwandfrei. Engagiert erklärt er mir die Geschichte seines Sohnes und äußert die Vermutung, dass bei einem Umzug der Familie und eines damit verbundenen Wechsel des Hausarztes Unterlagen verloren gegangen sind. Menschlich. Nicht zum ersten Mal bin ich der Idee einer zentralen Patientendatenspeicherung gegenüber nicht ganz abgeneigt; wobei mir die Bedenken zu diesem Thema durchaus klar sind und ich sie auch nachvollziehen kann. Aber viel Arbeit könnte man sich im Krankenhaus dadurch ersparen und wichtige Informationen gingen seltener verloren. Ich bitte Monsieur R. senior, beim nächsten Besuch alle Arztbriefe und Akten seines Sohnes, die ihm vorliegen, mitzubringen. Im Hintergrund gibt er alles an seine Frau weiter. ‚Ja, aber natürlich, die können Sie gern haben. Aber einen richtigen Brief haben wir nicht…‘. Schon heute Nachmittag wollen sie vorbeikommen.

Der erwachsene Sohn, der im Kopf noch ein Kind ist

Beim Auflegen wird es mir schwer ums Herz. Monsieur R. ist nach seiner Tumorerkrankung als Jugendlicher von jeher geistig beeinträchtigt gewesen. Er versorgt sich selbst, hat Freunde, und ist ein rundum zufriedener Mensch. Nur akut leidet er unter den Symptomen des Tumors, oft fehlen ihm die Worte und selbst seine besten Freunde erkennt er teils nicht wieder. Das belastet ihn sehr. Seine Eltern sind nie aus der Rolle der Fürsorgenden herausgekommen. Viele Themen sind für ihn schwer zu verstehen, seine kognitive Funktion ist stark eingeschränkt. So haben sie ihn weiterhin unterstützt und ihre Verantwortung für ihren Sohn nie ganz abgegeben. Schwierig muss das sein.

Am nächsten Tag teilt mir meine Assistenzärztin freudig mit, dass in den Unterlagen der Eltern tatsächlich Informationen zu dem Tumor (einem Germinom) und der Therapie (Resektion mit anschließender Strahlentherapie) zu finden sind. Zwar kein eigentliches Operationsprotokoll oder ein Arztbrief, aber kurz danach eine Zusammenfassung der Krankengeschichte. Ab morgen wird mit der Chemotherapie begonnen; eine Radiotherapie darf nicht eingeleitet werden. Monsieur R.s Kopf hat schon genug Strahlen abbekommen. Gut möglich, dass sein Glioblastom eine Spätfolge der ersten Behandlung ist. Ich frage die Ärztin nach der Prognose. Mir ist bewusst, dass die Überlebenschancen für Monsieur R. bei dieser Diagnose äußerst gering sind. Traurig nickt sie. Die Therapie wird hoffentlich anschlagen und Monsieur R. noch etwas länger ein weitgehend unbeeinträchtigtes Leben ermöglichen. Doch dabei geht es eher um Monate als um Jahre. Und ob seine amnestische Aphasie (Wortfindungsstörungen) und Prosopagnosie (Gesichtserkennungsschwäche) wieder abnehmen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls nicht definitiv mit ‚ja‘ beantwortet werden. Wie ungerecht und hart es doch manche Menschen trifft!