Der Dichterfürst

Jenny reißt die Türe auf und einen Sekundenbruchteil später steht sie im Zimmer.
„Guten Morgen, wir kommen zur Visite!“
Ich folge ihr.
„Guten Morgen, wie geht’s, alles in Ordnung, hatten Sie Stuhlgang?“
Herr Haferkorn hebt seinen Kopf.
„Oh, schon besser! Ich kann wieder schreiben.“
Jenny tritt näher und starrt auf das aufgeschlagene Notizbuch auf dem Tisch.
„Was schreiben Sie denn da?“
Herr Haferkorn lächelt.
„Immer, wenn ich unterwegs bin, schreibe ich Tagebuch. Früher bin ich viel gereist. In den letzten Jahren sind es ja überwiegend Krankenhausaufenthalte…“
„Na, die Reisen waren ja wohl bestimmt spannender!“
„Oh, was denken Sie, was man hier im Krankenhaus alles erlebt! Manchmal schreibe ich auch Gedichte. Meine Frau kriegt jedes Jahr eins zum Geburtstag und zu Weihnachten. Und hier und da mal ein Liebesgedicht. Ein Freund wollte mal eins haben, das hat er dann seiner Frau auf den Nachttisch gelegt.“
Jenny reißt die Augen auf.
„Haben Sie denn auch schonmal was veröffentlicht?“
Herr Haferkorn fühlt sich offenbar geschmeichelt.
„Oh ja,“ sagt er, „Hier und dort. Letztens stand ich sogar in der Zeitung. Da war ich namentlich erwähnt, als einer der siebzehn größten Poeten im Landkreis Bad Dingenskirchen. Direkt hinter Karl Dieselfisch, dem berühmten Heimatdichter!“
„Worüber schreiben Sie denn sonst noch?“, fragt Jenny.
Herr Haferkorn lächelt.
„Ich habe auch schon ein Krankenhausgedicht geschrieben!“
„Verraten Sie uns, wie es heißt?“
Herr Haferkorn räuspert sich.
„‚Der Engel mit der Spritze’“, sagt er feierlich.
Jenny täuscht einen Hustenanfall vor und dreht sich um. Aber Herr Haferkorn hat sie durchschaut.
„Da gibt’s nichts zu lachen!“, sagt er beleidigt und klappt sein Buch zu.
„Kommen wir denn da auch drin vor?“, fragt Jenny.
Herr Haferkorn schüttelt den Kopf.
„Jetzt nicht mehr!“ sagt er.