Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben soll oder dieser Text einfach bei mir bleibt. Anfangs war er nur für mich, jetzt ist er auch für euch.
Erinnerung
So ein Text ist ja nur (oder vor allem) verschriftlichte Erinnerungen. Genau diese kleinen Biester, Erinnerungen, positive wie negative, möchte ich euch aus meinen Gedanken wiedergeben.
Ich sitze gerade im Zug und habe sie: Erinnerungen. An Menschen, Ereignisse, Gefühle, in diesem Fall an Kollegen und Patienten, Einsätze und Empfindungen.
Manchmal geschieht dabei dieser schöne Prozess der Endorphin-Ausschüttung, bei anderen fragt man sich warum man sie nicht ganz weit weg schieben und nicht mehr daran denken kann.
Einen kleinen Teil dieser positiven Erinnerungen habe ich euch schon mal geschrieben, einen anderen Teil schreibe ich euch jetzt. Dass aber alles auch eine zweite Seite hat, lest ihr, wenn ihr wollt auch noch.
Die erste Erinnerung, der erste Einsatz, kommt mir in den Sinn wenn ich schmunzeln möchte.
Es ist Freitagabend, Freitagnacht genauer gesagt.
Unsere Rettungswagenbesatzung begibt sich zu einer Kopfplatzwunde nach Körperverletzung, dort angekommen, kochen die Gemüter zwar nicht mehr, aber sie brodeln zumindest noch. Nach ein bisschen Zeit begibt man sich an die Telefonverbindung zum Disponenten des Vertrauens und fragt wo denn die mitalarmierten Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols bleiben. Aus der Aussage, man warte sehnsüchtig auf sie und sie sollen sich beeilen, schließt der Disponent anscheinend auf ein größeres, dringenderes Bedürfnis nach polizeilicher Unterstützung, denn Augenblicke später habe wir nicht einen Streifenwagen, der absolut ausreichend gewesen wäre, nein wir haben ein Betreuungsverhältnis von zwei Kontrahenten zu fünf Streifenwagen.
Nach getaner Arbeit schmunzeln wir immer noch über dieses Großaufgebot.
Augenblick später begeben wir uns zum nächsten Einsatz.
Augenblicke. Blicke in einander Augen. Genau das hat mich berührt und lässt mich nicht los, weil es doch nicht alltäglich ist und einem selbst ziemlich nahe ist.
Der Augenblick, in dem man in einer neurochirurgischen Intensivstation einem jungen Mädchen in die Augen schaut und sich kurz anlächelt, kein gequältes oder aufgesetztes, sondern ein richtig ehrliches Lächeln.
Auf der einen Seite ein junger gesunder Rettungsdienstler, der in wenigen Minuten die Station wieder verlässt, auf der anderen eine junge Frau im selben Alter (achtzehn bis zwanzig), bildhübsch, Engelsgesicht, jedoch großzügig mit den Möglichkeiten einer Intensivstation geschmückt und somit auf längere Zeit dort gebunden.
Der Gedanke, warum jemand im eigenen Alter wohl seine Zeit in einer neurochirurgischen Abteilung verbringen muss, insbesondere in einer Intensivstation. Welches Krankheitsbild jemanden aus dem offensichtlich blühenden Leben dort hin bringt? Sie wirkte bis auf einen Kopfverband, Monitoring und ZVK absolut gesund. Hätte man es weggelassen, hätte sie komplett normal und gesund gewirkt, keine Anzeichen einer schon längeren Erkrankung.
Die Eine wird bald das Patientendasein einholen, den Anderen holt es ziemlich schnell ins Hier und Jetzt zurück. Krankenhaus, Vormittag, Transport eines anderen Patienten zum OP. Zurück in die Realität.
Eine Realität in der man in einer halben Stunde Kontakt zu einem Fremden zwar viel über sein Leben und Leiden erfährt, auch in gewissem Maße eine Vertrauensbeziehung aufbaut, dies jedoch am Krankenhausbett endet und auf der Seite des Rettungsdienstes mit professioneller Distanz bald aus den präsenten Erinnerungen verschwindet und auch wahrscheinlich nie wieder auftauchen wird.
Manche jedoch tauchen immer wieder auf, weil sie besonders waren und sind.
Besonders freudig, besonders riechend, besonders traurig oder besonders, weil dieser Moment nicht durch Distanz (ich jung – der andere meist alt, Rettungsdienst – Patient, gesund – krank, und so fort) einer von vielen wurde, sondern dadurch, dass diese fehlt, weil man es fast selbst sein könnte, dort auf der anderen Seite, auf die man eigentlich nie kommen will.
Jeder will immer gesund sein, doch manchmal kommt es unverhofft anders. Vielleicht einfach aus der Natur oder auch aus Unachtsamkeit.
Unachtsamkeit, genau das war der einzige Grund, vielleicht noch Leichtsinn, aber hauptsächlich dieser kleine Moment, in dem man nicht aufpasst.
Sprung in die Realität: RTW-Verlegung Schockraum in den OP.
Normalerweise erfährt man nur die wichtigsten Eckdaten, verwendet diese professionell und vergisst sie dann wieder.
Dann kommt manchmal die Patientengeschichte, die man dann in diesem Fall nicht vergisst. Ein junger Mann ist mit Inline-Skates unterwegs und bleibt an einer Fußgängerampel stehen. Dort dreht er sich um zu seinen Begleitern, kommt aus dem Gleichgewicht und schlägt mit dem Hinterkopf ohne Helm auf den Asphalt. Er bleibt bewusstlos liegen.
Nach noch nicht einmal 24 Stunden das traurige Ende: Im OP an der intrakraniellen Blutung verstorben. Ein paar Tage später liest man in der Todesanzeige, dass er Frau und Kind hinterlässt.
Diese Meldung sticht hervor, kein älterer Mensch, der nach 70, 80 Jahren seines Leben eben irgendwann den Weg allen Irdischen (nach langer oder kurzer Krankheit) geht, nein, ein noch nicht mal Vierzigjähriger, der aufgrund eines kleinen Fehlers aus dem Leben gerissen wird.
Meiner Meinung nach ist das Aus-dem-Leben-Reißen eine sehr treffende Formulierung. Reißen geschieht nicht freiwillig oder absehbar, auch hinterlässt es eine große Lücke, ob in einem Stück Papier oder im Leben und den Gefühlen der Mitmenschen.
Wenn man präfinale Patienten in ein Hospiz oder eine palliativmedizinische Abteilung transportiert, dann weiß man, dass der Tod absehbar ist. Alle Menschen – der Patient, die Angehörigen, das medizinische Personal – alle wissen es.
Nach mittlerweile fast ein Tausend Stunden im Rettungsdienst, glaube ich, zumindest mental, mich damit abgefunden zu haben, dass die Möglichkeiten der Medizin zwar groß und vielfältig sind, jedoch aber wie fast alles endlich und begrenzt.
Das meiner Meinung nach Schöne an der Notfallmedizin ist, dass man in vielen Fällen die Besserung sofort beobachten kann. Oft können wir dem Schicksal ein Schnippchen schlagen, Leben retten und hoffentlich auch das Leben selbst, und nicht nur das Leiden verlängern.
Ich erinnere mich an einen Filmtitel “Das Schicksal ist ein mieser Verräter”, ja das stimmt, jedoch hat es wie immer auch eine zweite Seite. Nicht nur dass das Schicksal feststeht: Wir können so viel verändern, verlängern oder erweitern, wenn jedoch unser Tag gekommen ist, ist er da.
Es mag an meiner geistigen Grundhaltung liegen, aber vieles lässt sich beeinflussen, der Tod an sich nicht. Daran wird man Tag für Tag erinnert, mancher weniger, das Personal im medizinischen Bereich vielleicht mehr.
Aber die Erinnerung daran und an alles andere bleibt. An manche Momente bleiben sie vielleicht ein Leben lang.
Aktuell belastet mich keine davon, aber sie sind eben da.
Wenn ich mir manchmal einen Moment, eine Auszeit, nehme, irgendwo draußen in der Natur weg vom Trubel, einfach nur nachdenken, dann kommen diese, aber auch viele viele andere wieder zurück. Erinnerungen an den letzten Urlaub, Schule, Freunde, Patienten, Haustiere, einfach alles.
Man denkt darüber nach, sinniert, reflektiert, findet sich damit ab. Danach fühle ich mich besser und kann wieder in meinen Alltag starten. Unbelastet mit neuer Energie.
Ich glaube auch, dass dieser Text ein bisschen der Psychohygenie (klanglich ein grässliches Wort) dient und hoffe euch nicht zu sehr bedrückt zu haben.
Ich bin an meinem Zielbahnhof angekommen.
Zum Abschluss vielleicht noch eine kleine Anekdote zum Schmunzeln:
Wir warten auf den bestellten Arzt.
Angehörige (etwa 80 Jahre alt): “Kann man ihnen was anbieten, ein Bier vielleicht?”
Rettungsassistent: “Danke, Anbieten schon, wir dürfen aber nicht annehmen, denn wir dürfen im Dienst kein Bier trinken. 0,0 Promille.”
Patient (90): “Dann vielleicht einen Schnaps?”
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