Feiertagsdienst

Die Straßen sind leer, heute schläft die Stadt aus. Keine Kinder, die Hand in Hand von Mama oder Papa in die Schule gebracht werden. Die Sonne scheint. Es verspricht, ein toller Sommertag zu werden. Feiertag, Familientag. Ich bin dennoch um kurz nach acht auf dem Weg ins Krankenhaus. Sonderdienst, um einen Fehltag nachzuholen. In Kleid und auf Absätzen – in Frankreich runzelt darüber im Krankenhaus keiner die Stirn und irgendwie tue ich mir so weniger Leid. Den Nachmittag werde auch ich nutzen, um die Sonne zu genießen.

Als ich ankomme, bin ich überrascht, nur den Chef anzutreffen. Er ist ebenso erstaunt, mich zu sehen, spannt mich nach kurzer Erklärung aber direkt ein. Patientenakten ordnen. Eine Aufgabe, die schnell erledigt ist und eigentlich zu den studentischen gehört. Die aber – das muss ich heute zugeben – nicht besonders sorgfältig oder sogar gar nicht erledigt wurde. Beliebt ist die Aufgabe natürlich nicht. Aber wichtig; bei Unordnung können wichtige Informationen auch mal übersehen werden. So wichtig, dass sich sogar der Chef persönlich darum kümmert.

Alltag am Feiertag

Dann machen wir uns auf, Chefarztvisite. Statt eines ganzen Gefolges bin heute nur ich dabei. Monsieur C. ist neu, gestern Abend wurde er von der Notaufnahme auf unsere Station verlegt. In Ruhe erfragt Professeur T., warum der Patient ins Krankenhaus gebracht wurde. Ich führe Protokoll und übertrage später in die digitale Akte: 35jähriger Patient, ursprünglich aus Nordafrika, seit sieben Jahren in Frankreich. Ist gestern kurz nach dem Mittagessen mit Kollegen (gegen 13.20h) ohnmächtig geworden, danach war er verwirrt, hatte Wortfindungsstörungen, leichten Schwindel und hat gezittert. Etwa fünf Minuten später (gegen 13.25h), hat er sich übergeben. Lebenswandel: teilt sich ein Zimmer mit Kollegen, direkt neben seiner Arbeitsstätte, wo er seit zwei Jahren von 8.30h bis 20.00h sieben Tage die Woche arbeitet. Nichts hat sich in den letzten Tagen geändert. Professeur T. hakt nach: Arbeitet Monsieur C. wirklich am Wochenende? Kein freier Tag? Der Patient ist etwas zögerlich mit seinen Antworten. Nein, jeden Tag, ohne Pause. So langsam sei er ziemlich erschöpft deshalb. Professeur T. nickt. Ob sein Patient wisse, dass so etwas in Frankreich illegal sei? Ob er denn zumindest gut bezahlt werde? Etwas verschämt senkt der kräftige Mann seinen Blick. Hilflos zuckt er mit den Schultern. Der stattliche Mann mit den großen Händen, denen die harte mechanische Arbeit deutlich anzusehen ist, wirkt fast beschämt. Und als hätte er resigniert, obwohl er genau wüsste, dass er ausgenutzt wird. So ist es eben… Keine nennenswerten Vorerkrankungen. Die neurologische Untersuchung zeigt keine Auffälligkeiten.

Einzelunterricht

Nach der Untersuchung lässt Professeur T. mich Differentialdiagnosen aufstellen: epileptischer Anfall, dafür spricht vor allem die Verwirrtheit nach der Bewusstlosigkeit. Aber von Zuckungen war nicht die Rede, auch Muskelkater hat der Patient nicht. Sehr uneindeutig. Schlaganfall, auch nicht besonders typisch: bei dem Patienten sind zum Beispiel keine Folgeerscheinungen wie Sensibilitäts- oder motorische Ausfälle festzustellen. Professeur T. ergänzt eine Hypoglykämie (Unterzuckerung), auch die ist bei der vorliegenden Anamnese jedoch unwahrscheinlich. (Der Vorfall ereignete sich direkt nach dem Mittagessen…) Bei der Sichtung der Laborergebnisse kommt noch etwas hinzu: Kohlenmonoxid-Vergiftung. Das könnte sein, schließlich arbeitet unser Patient in einer Werkstatt… Professeur T. notiert für den Assistenzarzt, hier morgen noch einmal genauer hinzuschauen.

Als wir uns  das Protokoll der Rettungskräfte ansehen, fällt auf, dass Monsieur C. uns den Vorfall anders beschrieben hat als sein Chef. Der hat die Feuerwehr erst um 14.45h gerufen und angegeben, dass sein Mitarbeiter im Umkleideraum gefunden worden und allein gewesen sei. Was ist vorgefallen? Versucht sein Chef etwas zu vertuschen? Erinnert sich Monsieur C. nicht mehr an die richtigen Zeiten? Professeur T. veranlasst, dass morgen der Sozialdienst eingebunden wird. Zu viel ist an der Geschichte unstimmig, zu groß der Verdacht, dass Monsieur C.s Arbeitgeber seine Mitarbeiter schlecht behandelt und sich damit sogar strafbar macht.

Professeur T. fordert mich und bezieht mich intensiv mit ein; wenn er merkt, dass ich auf seine Fragen keine Antwort habe, erklärt er mir den Sachverhalt, knapp und präzise. Effizient, wie Chefs es so an sich haben. Als er mein Aufnahmeprotokoll liest, zeigt er sich beeindruckt von meinem Schriftfranzösisch. Anerkennend fragt er nach meinen sonstigen Sprachkenntnissen und ich freue mich über sein Interesse, für das auf dieser Station bisher sehr wenig Zeit war. Stattdessen war die Situation von Anfang an geprägt von Misstrauen und Animositäten; zum ersten Mal seit langem war es mir nicht leicht gefallen, mich einzufinden und an manchen Tagen war ich sogar unzufrieden nach Hause gegangen. Mir wird klar, dass nichts davon mir persönlich galt, sondern dass – aus einem Grund, den ich nicht ganz verstehe – es hier ein grundsätzliches Vertrauensproblem zwischen Ärzten und Studenten gibt.

Um kurz vor zwölf werde ich dankend entlassen. Mir hat die intensive Betreuung vom Chef persönlich ausgesprochen gut gefallen. So kann es also gehen, wenn man an einem Feiertag beim Praktikum erscheint. Aber jetzt heißt es auch für mich: ab in die Sonne!