Im Ostberliner Bezirk Treptow hat eins der bundesweit ersten Heime für LGBTI-Flüchtlinge eröffnet. Dass solche Schutzräume nötig sind, zeigt unser Interview mit Stephan Jäkel von der Schwulenberatung Berlin
Von Steffen Taubert*
Es ist ein regnerischer Tag, als ich mit dem Motorrad in den Ostberliner Bezirk Treptow fahre. Gewerbeflächen, Eisenbahngleise, Altbauten und düstere Eckkneipen. Mein Ziel: ein Besuch beim bundesweit ersten Heim für LGBTI-Flüchtlinge. Während ich mich an parkenden Lkws und Baustellen vorbeischlängele, suche ich das Heim und bin mehr als überrascht, als ich plötzlich vor einem hellen Neubau stehe. Nach einem Check durch das Sicherheitspersonal werde ich von Stephan Jäkel freundlich begrüßt.
Stephan Jäkel ist Abteilungsleiter für den Bereich HIV und Hepatitis bei der Schwulenberatung Berlin. Mit viel Beharrlichkeit hat er in den letzten beiden Jahren den Aufbau diese Einrichtung vorangebracht, die Community sowie Politiker_innen für das Projekt interessiert. Die Freude war riesig, als Ende letzten Jahres der Berliner Senat die Finanzierung einer Not- und Gemeinschaftsunterkunft für LSBTI*, also Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*- und Inter*-Personen bewilligte. Finanziert wird die Unterkunft über Tagessätze, die der Berliner Senat für die Unterbringung von Asylsuchenden zahlt.
Die ersten 20 Bewohner_innen sind bereits eingezogen, in den nächsten Wochen sollen hier insgesamt über 122 Menschen leben.
Stephan, wie kam es, dass sich die Schwulenberatung Berlin mit dem Thema „LSBTI*-Flüchtlinge“ beschäftigt hat?
Die steigenden Flüchtlingszahlen und die Anti-Homo-Propaganda-Gesetzgebung in Osteuropa hat uns sensibilisiert, auch weil zunehmend Klient_innen aus diesen Ländern zu uns kamen.
„Die ehrenamtliche Unterstützung ist beeindruckend“
Ihr richtet euch an LSBTI*. Erreicht ihr alle gleichermaßen?
Der Großteil, etwa zwei Drittel, sind schwule Männer, ein Drittel trans* und einige wenige lesbische Frauen.
Ich war ja ganz erstaunt, als ich ankam. Ich dachte, ich finde jetzt irgendeinen maroden Bau, den ihr notdürftig sanieren musstet, und war ganz beeindruckt, so ein schönes neues Gebäude zu finden.
Das freut uns hier auch. Das Haus ist als Wohn- und Bürohaus geplant und passt super. Wir haben jetzt 29 Wohnungen, von 1-Zimmer-Apartments bis zu 4-Zimmer-Wohnungen. Es gibt einen Bürotrakt, einen offenen Gemeinschaftsbereich mit Mensa sowie einen Aufenthaltsraum.
Wow. Wie viele Leute braucht ihr hier, um die Einrichtung zu betreiben?
Neben dem Heimleiter gibt es noch fünf Sozialarbeiter_innen, die hier teilzeitmäßig arbeiten. Dann wird ab Mai noch ein Rechtsanwalt und ab Juli ein Psychologe das Team unterstützen.
Und dann gibt’s ja auch viele, die euch ehrenamtlich unterstützen, oder?
Ja, das ist beeindruckend. Da gibt es erst einmal die unzähligen Ehrenamtlichen, die beim Einrichten der Wohnungen und nun bei der Essenausgabe helfen. Dann kommen viele weitere Angebote rein, die wir noch sortieren, von Sprachkursen über Sportangebote bis zu Theatergruppen und, und, und …
„In der Nachbarschaft lief bisher alles gut“
Ihr seid hier ja nicht gerade im Schwulenkiez von Berlin. Wie haben denn die Nachbar_innen reagiert, als sie mitbekamen, dass eine LSBTI*-Flüchtlingsunterkunft bei ihnen eröffnet werden soll?
Wir fanden den Kiez von Anfang an toll. Aber es gab Befürchtungen vom LAGESO [Anm. d. Red.: Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales], und auch die Polizei mahnte zur Vorsicht, weil es noch keine Erfahrung mit einer LSBTI*-Unterkunft gibt. Doch es lief bisher alles sehr gut. Wir hatten eine öffentliche Veranstaltung in der benachbarten Kirchengemeinde im Gemeindesaal, dort waren über 100 Menschen. Es gab zwischendurch mehrmals einen großen Willkommensapplaus. Manche Anwohner_innen sprechen uns auf der Straße an und fragen, wie es läuft. Im Vorfeld dachten wir, dass wir die Feinde einer solchen Einrichtung eh nicht überzeugen können, aber die, die uns wohlgesonnen sind, mit einer vorsichtigen Öffentlichkeitsarbeit für uns gewinnen können – und so war es auch.
Welche Menschen können zu euch kommen?
Unsere Einrichtung ist für besonders schutzbedürftige LSBTI*-Geflüchtete gedacht. Es ist eine Mischung aus Not- und Gemeinschaftsunterkunft. Das bietet den Vorteil, dass wir die Leute wirklich vom ersten Tag an, wo sie in Berlin registriert sind, aus den Turnhallen und Flughafenhangars rausholen und hier unterbringen können. Wir sind dann für die Vollverpflegung und die Ausgabe von Hygienematerialien verantwortlich.
Wer übernimmt die Kosten, zum Beispiel die Miete für Bewohner_innen, die bei euch leben?
Mit der Miete haben wir gar nichts zu tun. Es gibt einen Vertrag zwischen dem Land Berlin und dem Eigentümer. Wir bekommen für alle Bewohner_innen einen Tagessatz, worüber das sozialpädagogische Personal, der Sicherheitsdienst und laufende Kosten des alltäglichen Bedarfs gedeckt werden.
Wie lange bleiben die Menschen bei euch?
Von der Theorie her dürfen Asylsuchende nach einem halben Jahr private Wohnungen über reguläre Mietverhältnisse anmieten. Eine Wohnung zu bekommen ist für sie jedoch oft extrem schwer. Deshalb bieten wir im Heim auch Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften an. In den Gemeinschaftsunterkunftswohnungen leben dann Geflüchtete in kleinen WGs mit eigener Küche. Sie bekommen Geldleistungen und können und müssen sich selbst verpflegen.
Habt ihr schon viele Nachfragen?
Ja, wir mussten leider auch schon viele ablehnen, da wir im Moment nur Notunterkunft mit Vollverpflegungsangebot sind. Aber wir haben nun endlich die Genehmigung für das komplette Haus bekommen. Jetzt warten wir nur noch auf die Lieferung der Küchen für die Wohnungen und ab Mai können wir dann voll belegen.
„Fast alle hatten oder haben Angst um ihr Leben“
Auch wenn noch nicht alles fertig ist, es ist schon beeindruckend, wie schnell ihr mit dem Heim an den Start gehen konntet. Hat euch die Entwicklung ein wenig selber überrascht?
Ein bisschen schon. Die Idee hatten wir das erste Mal im November 2014. Da haben wir noch gedacht, es tut eine große Altberliner Wohnung mit sieben Zimmern. So, und jetzt sind wir hier und haben irgendwie ein Haus mit 122 Plätzen und glauben, das wird nicht reichen.
Warum braucht es überhaupt eine besondere Einrichtung für LSBTI*-Flüchtlinge?
Viele wollen in unserer Einrichtung leben, da sie hier offen ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlechtliche Identität leben können. Einige kommen aus Bürgerkriegsländern, andere aus Ländern, in denen Homosexualität nicht gelebt werden darf, wie dem Iran. Fast alle hatten oder haben Angst um ihr Leben. Viele berichten uns, hier sei es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einen sicheren Ort erfahren, wo sie angenommen sind, wo sie selbstverständlich sagen können: „Ich bin schwul.“
Könnte eine solche Sicherheit nicht auch ein konventionelles Flüchtlingsheim bieten?
Leider erleben die Leute in den Heimen oft physische und psychische Gewalt, sowohl von anderen Bewohner_innen als auch von Security-Personal …
Kommt das häufig vor?
Das ist zwar nicht die Regel, die Unterkünfte provozieren das aber ein wenig. Da sind Männer und Frauen in Turnhallen untergebracht mit 100, 200 Personen in einer Halle, ohne Privatsphäre. Da reichen drei gewalttätige Idioten aus, um denen das Leben zur Hölle zu machen. Außerdem ist es schwer, geeignete Dolmetscher_innen zu finden. Wenn rauskommt, dass jemand schwul, ist, dann haben wir schon erlebt, dass Sprachmittler_innen die Übersetzung abbrechen oder die Menschen verfluchen. Oder sie sagen den Leuten „Das musst du hier nicht sagen“, auch wenn es für das Asylverfahren natürlich wichtig wäre.
Habt ihr eigene Übersetzer _innen an der Hand?
Wir brauchen auf jeden Fall mehr Sprachmittler_innen, weil wir auch merken, dass die ehrenamtliche Übersetzung oder dass die Übersetzung durch andere Bewohner_innen sofort sehr problematisch ist. Wir müssen sicherstellen, dass auch genau das wertfrei übersetzt wird, was die Klient_innen oder wir formulieren.
„Für viele ist unser Angebot eine immense Stärkung“
Es gibt auch Kritik in der Community der Migrant_innen an solch spezifischen Angeboten für LSBTI*-Flüchtlinge – dies würde eine Bevorzugung bedeuten und könnte einen Keil in die Community treiben. Was ist eure Haltung dazu?
Dann könnten wir auch sagen: „Warum braucht es überhaupt eine Schwulenberatung? Warum braucht es überhaupt Frauenhäuser?“. Das treibt auch einen Keil in die Gesamtgesellschaft. Es ist zwar auch nicht meine Idealvorstellung vom gesellschaftlichen Leben, eine solche LSBTI*-Einrichtung zu haben. Sie ist aktuell aber zwingend notwendig. LSBTI*-Geflüchtete sind einfach eine besonders schutzbedürftige soziale Gruppe. Wir müssen erst mal einen sicheren Raum für Menschen aus dieser Zielgruppe bereitstellen, von wo aus sie dann selbstbestimmt in die Gesellschaft hineinwirken. Das ist der rote Faden, der sich durch all unsere Angebote zieht. Nicht alle wollen unser Angebot, nicht alle brauchen unser Angebot. Es kommen aber sehr viele, und für sie ist es, glaube ich, sehr sinnvoll und bedeutet eine immense Stärkung.
Rechnet ihr auch mit schwer traumatisierten Menschen?
Durchaus. Nicht jede_r hat eine schlimme Erfahrung gehabt. Zu uns kommen auch Menschen zum Beispiel aus Syrien, die sind in sehr liberalen Familienverhältnissen und mit einer guten Ich-Stärke aufgewachsen, aber ein Großteil eben auch nicht. Wenn dann noch Erfahrungen von Bürgerkrieg, Flucht, Ermordung von Freunden hinzukommen, wird es brenzlig. Wir haben Menschen, deren Liebhaber, Freunde, Beziehungspartner sind vom IS ermordet worden, die haben selbst Drohanrufe bekommen, ihnen ist gerade noch die Flucht gelungen und sie sind auf verschiedenen Stationen der Flucht dann auch noch diskriminiert, misshandelt, vergewaltigt oder beinahe ermordet worden.
Was könnt ihr diesen Menschen anbieten?
Da ist eine sichere Unterkunft schon mal sehr viel. Mit unserem neuen Psychologen werden wir stabilisierende Gruppenarbeit und ein Clearing anbieten können. Braucht es eine Psychotherapie? Reichen psychologisch angeleitete Gruppen oder Eingliederungshilfe? Wir können und wollen dabei keinesfalls sofort tief in die Traumaarbeit reingehen. Dafür braucht es einen sicheren Aufenthaltsstatus, sichere Lebensverhältnisse und Zeit. Ich träume aber schon mal von einem psychotherapeutischen Behandlungszentrum für LSBTI*-Geflüchtete analog zum Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (BZFO). Dafür wollen wir auch Teil des Berliner Netzwerks für besonders Schutzbedürftige werden. Darüber hinaus haben wir mit den ersten medizinischen Sprechstunden in der Unterkunft angefangen, die ab jetzt regelmäßig mit einem LSBTI*-erfahrenen Arzt oder einer erfahrenen Ärztin stattfinden.
„Zu Sexualität, HIV und Aids gibt es enorme Wissensunterschiede“
Wie sieht es mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen aus?
Ja, die Leute gehen auch zu unseren Testangeboten. Auch Drogenkonsum spielt eine Rolle in der Beratung. Also wir haben eigentlich alle Themen, mit denen wir es auch sonst in der Community zu tun haben: Liebe, Lust und Leidenschaften. Dazu kommen dann einfach noch die Fragen des Asylprozesses und -verfahrens.
Wie gut wissen denn eure Ratsuchenden über HIV und Aids Bescheid?
Es gibt unglaubliche Wissensunterschiede. Manche haben ein vergleichbares Wissen wie wir hier auch und sind völlig aufgeklärt. Andere haben überhaupt noch nie irgendeine Sexualaufklärung in ihrem Leben gehabt. Da reden wir noch gar nicht von HIV und Geschlechtskrankheiten, sondern wie funktioniert der eigene Körper? Da fangen wir teilweise bei völligen Basics an.
Was können Aidshilfen deiner Meinung nach für Geflüchtete tun? Manche Kolleg_innen berichten, dass Aufklärungsplakate in Heimen abgerissen werden und das Thema HIV und Aids oft nur wenig Beachtung findet.
Zunächst mal Bündnispartner suchen, zum Beispiel fitte Heimleitungen. Wenn man Plakate aufhängt, sollte man sich fragen: Müssen diese Plakate in den Gemeinschaftsbereichen hängen? Oder können die auch in den Beratungsbüros hängen, wo sie sozusagen nicht unbeobachtet einfach abgerissen werden können? Eventuell sollte auch an Schulungen für Multiplikator_innen gedacht werden. Aber ich bin da auch nicht der Experte für Situationen in allgemeinen Heimen. Für uns war von Anfang an klar, wir gehen nicht so sehr in die Heime rein, sondern wir gucken eher, wie kriegen wir die Leute aus den Heimen raus. Das ist jetzt mal so unser Weg.
Stephan, viel Erfolg für den weiteren Projektverlauf und danke für das Interview!
*Dieser Beitrag erschien zuerst in HIV-Beratung aktuell – Infos für Berater_innen, Nr. 1 und 2 / 2016