Die Namen klingen fremd und melodisch: In Estland untersucht SUSTAIN ein Modellvorhaben mit dem Namen Medendi in der Nähe von Tallinn, einem städtisch geprägten Einzugsgebiet, und ein weiteres in einer sehr kleinen ländlichen Gemeinde, die man nicht kennen muss – oder vielleicht doch? Sie heißt jedenfalls Mäetaguse.
Alutaguse Hoolekeskus: Pflege als Wachstumsmotor
Es ist SUSTAINs kleinstes Projekt. Der Landkreis Ida-Viru liegt im Osten Estlands und zählt gerade mal drei Weiler mit 1760 Einwohnern insgesamt. Und nein – dies ist nicht die Geschichte eines allmählich verödenden Landstrichs. Im Kreis Ida-Viru wächst die Bevölkerung dank Ölschiefergewinnung; und im Süden des Landkreises gibt es einen tourismusausbaufähigen Naturpark. Aber vor allem ersteres verdient Beachtung: Denn der Ölschieferabbau sichert Estland seine weitestgehende Unabhängigkeit in der Energieversorgung.
In Mäetaguse, einem „Städtchen“ mit 600 Bewohnern, eröffnete die eigens zu diesem Zweck gegründete Stiftung Alutaguse Hoolekeskus im Juli 2010 ein Tagesbetreuungszentrum mit angeschlossenen Pflegediensten und einem Seniorenheim. Das neue Zentrum betreut ältere Bürger sowie Menschen mit psychischen Erkrankungen und Demenz. So weit, so unspektatulär. Die Initiatoren von Stiftung und Versorgungszentrum wollen jedoch mehr tun – für ihre Zielgruppe und für diesen dünn bevölkerten Landstrich. Der an der Lebensqualität und Würde im Alter orientierte, dezidiert ganzheitliche Versorgungsansatz – es gibt ein Vision- and Mission-Statement – umfasst haus- und fachärztliche Versorgung, Tagespflege und Kurzzeitpflege ebenso wie soziale, psychische und spirituelle Angebote. Der Betreuungsbedarf wird gemeinsam mit den Kunden erhoben, individuell geplant und regelmäßig evaluiert.
Nicht umsonst gilt das Alutaguse Tagespflegezentrum in Estland als Vorreiter und Musterbeispiel dafür, wie vor Ort kreative, patientenorientierte Lösungen erdacht und umgesetzt werden können, die allen nutzen: Die Kommune Mäetaguse ist Träger der Alutaguse Hoolekeskus Stiftung. Mit der Eröffnung des Betreuungszentrums sind 40 Vollzeit-Arbeitsplätze für Beschäftigte aus der Region entstanden. Die Stiftung ist damit einer der großen Arbeitgeber am Ort. Auch versteht sich das Tagespflegezentrum als Clearinghouse für unterschiedliche Leistungserbringer vor Ort. Partner sind zum Beispiel die Estnische Krankenversicherung EHIF, die die Kosten für Tages- und Langzeitpflege übernimmt. Auch die Sozialversicherung beteiligt sich – mit innovativen Beschäftigungsmodellen und Fördermaßnahmen für Personen mit wenig Berufserfahrung beziehungsweise Qualifizierungsbedarf.
Die Mitarbeiter des Zentrums sind allesamt qualifizierte Fachkräfte – Praxisassistenten, häusliche Krankenpflegedienste, Pflegekräfte mit dem Schwerpunkt Demenzerkrankungen, Physiotherapeuten, Hausärzte, Apotheker und der Gemeinderat von Mäetaguse. Nun stoßen allerdings auch hoch motivierte Mitarbeiter an Grenzen, wenn die Personaldecke dünn ist und freie Stellen nicht besetzt werden können. Ihnen fehlt die Zeit für Patientenkommunikation und für die Umsetzung organisationsinterner Verbesserungskonzepte.
Was SUSTAIN tun kann:
Optimierungspotenzial gibt es, wie so oft, auch in Mäetaguse. Und selbst wenn hier jeder jeden kennt – eine Dauerbaustelle bleibt die Kooperation, oder anders gesagt, die unzureichende Datenvernetzung zwischen dem Gesundheits- und dem sozialen Sektor. Und die Stiftung hat mit personeller Fluktuation zu kämpfen – mehrere Stellen sind unbesetzt.
Im Rahmen des SUSTAIN-Verbesserungsprojekts sollen in den nächsten Jahren insbesondere die IT-Infrastruktur, die sektorübergreifende Interoperabilität sowie die Indikatorensammlung weiter verbessert werden. Auch Management-Knowhow will das Projekt in der noch jungen Stiftung vermitteln.
Medendi: Postoperatives Entlassmanagement
In der estnischen Hauptstadt Tallinn und Umgebung erforscht und begleitet SUSTAIN mit Medendi ein Modellprojekt im Entlassmanagement, genauer die postakute häusliche Versorgung älterer Patienten oder von Menschen mit Behinderungen, die nach chirurgischen Eingriffen der gezielten postakuten Nachsorge bedürfen.
Vor der Rückkehr in die eigenen vier Wände erstellen Familienangehörige, Pflegekraft und Facharzt ein Betreuungskonzept für die Zeit danach. Die Koordinierung übernimmt eine Pflegekraft. Medendi bietet Beratung, Arzneimittelversorgung und Medikamentenplan, sowie die Kontrolle der Vital Signs – Messung von Blutdruck, Puls, Blutzucker – sowie die präventive und kurative Wundversorgung. Auch häusliche Hilfen können übernommen werden – von praktischen Ratschlägen bis hin zu konkreten Maßnahmen wie dem Abbau von Barrieren und Stolperfallen in der eigenen Wohnung: Ziel ist immer die optimale persönliche Betreuung – so behutsam wie möglich, soviel wie nötig.
Medendi ist eine gut gemanagte Einrichtung, mit klaren Arbeitsplatzbeschreibungen, Rollen und Verantwortlichkeiten und hochmotivierten Mitarbeitern. Die Fluktuation ist gering. Pflegekräfte schätzen an ihrem Arbeitgeber besonders, dass sie selbstbestimmt und eigenverantwortlich arbeiten können. Auch die Arbeitsbeziehungen zwischen Medendi und den Haus- und Fachärzten vor Ort sind gut.
Stärken und Schwächen
Die SUSTAIN-Basiserhebung ergab, dass Medendi dennoch mit personellen Engpässen zu kämpfen hat – eine Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Solange EHIF, die nationale Krankenversicherung, lediglich die Kosten für häusliche Krankenpflege schultert, muss der Patient sich andere Leistungen selbst suchen und aus eigener Tasche bezahlen. Eine gute, in sich abgestimmte Versorgungskette sieht anders aus.
Wie schon in Mäetaguse steht auch Melendi vor der Hürde unzureichender Verfügbarkeit medizinischer Informationen über den Patienten. Allenfalls über den informellen – direkten – Weg von Arzt zu Arzt können diese Informationen eingeholt werden. Ungleich schwieriger wird es mit dem Informationsfluss für Patienten, die zuhause versorgt werden. Die Zusammenarbeit mit sozialen oder kommunalen Diensten ist besonders zäh, denn es gibt weder einen gezielten Informationaustausch zwischen Medendi und Kommune, geschweige den ein abgestimmtes Vorgehen zum Wohle des Patienten. Eine Schwäche ist auch, dass Mitarbeiter kein Feedback über den Gesundheitszustand der von ihnen versorgten Patienten erhalten – das verbiete der Datenschutz, heißt es. Cui bono?
IT als Allheilmittel?
Ginge es nach den Leistungserbringern, so würden smarte Informationssysteme inklusive Patientenportale, eine solide Finanzierung und ergebnisorientierte Indikatoren die bestehende Versorgung ein großes Stück voranbringen.
Was SUSTAIN tun kann:
Es zeichnet sich ab, dass SUSTAIN Missstände und Defizite in der Pflege älterer Patienten mit komplexen Bedürfnissen mit großer Genauigkeit nachzeichnen und Handlungsempfehlungen aufzeigen kann. Die Spielregeln jedoch werden auch in Estland nicht an der Basis, sondern anderswo geschrieben – hier ist Regierungshandeln, hier ist “Good Governance” gefragt.
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