Die Ukraine kennen wir in letzter Zeit nur aus negativen Nachrichten. Der Konflikt mit Russland, Demonstrationen, Bürgerkrieg, Korruption. Auf dem Rasen macht das Land jedoch immer wieder einen guten Eindruck. Als weitere Sportler fallen uns noch die Klitschkobrüder ein, manch einer denkt vielleicht auch an den Sieg beim diesjährigen Eurovision Songcontest. Und dann? Dann denken wir an Dinge die noch länger her sind. Wir denken an 1986, vor dreißig Jahren, an ein Atomkraftwerk im Nordosten des Landes, das damals zur Sowjetunion gehörte. Noch heute sind weite Teile der Gegend in einem Dreiländereck aus Weißrussland, Russland und Ukraine radioaktiv belastet. Die Städte und Dörfer rund um Tschernobyl sind Geisterstädte.
Das wissen wir also über das Land Ukraine: Krieg, Vertreibung, leere Städte, ein paar Tore und linke Haken. Genau mit diesem Bild fuhr ich 2012 in die Ukraine, bzw fuhr ich dorthin, was damals noch Ukraine war. Und ich habe mich sehr schnell in das Land verliebt.
Das Ganze war eine Konzertreise meines Chores. Mit dem Zug fuhren wir von Budpast nach Kiev und von Kiev weiter nach Sevastopol. Auf der Rückreise fuhren wir von Sewastopol nach Kiev und von Kiev nach Warschau. Der Wodka war gut und spottbillig und so wurde es eine einigermaßen angenehme Fahrt. Stundenlang zog an uns eine Landschaft vorbei, die ich als Nichtgeologin als Tundra bezeichnet hätte. Es sieht eher aus wie Ödland. Es war duster und das Gras war braun. So sehen verlassene Schlachtfelder aus. Und dennoch, all dies hatte seinen ganz eigenen Charme. Postapokalyptischer Chic. Untermalt war das Ganze von Milizen mit Gewehren auf der Schulter.
Poetisch gesehen ist es bei dieser Umgebung natürlich klar, dass die erste nicht kriegerische atomare Katastrophe hier passieren musste. Sie passte hier einfach genau hin. Aber mit Poesie hat das alles natürlich wenig zu tun. Tschernobyl war eine Verkettung von Konzeptionsfehlern, menschlichem Versagen und falschem Stolz.
Möglich war das alles durch die Kerne von Atomen. Atome sind die kleinen Teilchen, die unsere Welt ausmachen. Sie bestehen aus einem Kern von Neutronen und Protonen, die von Elektronen umkreist werden. Prinzipiell unterscheiden sich die verschiedenen Elemente auch nur in der Ladung ihres Atomkerns, die sich aus der Zahl ihrer Protonen und Neutronen in ihrem Kern ergibt. Die Zahl der Neutronen ist dabei aber variabel. Elemente mit unterschiedlicher Neutronenzahl nennt man Isotope. Um die Isotope kenntlich zu machen schreibt man die Anzahl der Neutronen vor seinen Namen (#NElementname). Diese sind nicht immer stabil, sie können zerfallen. Das bedeutet, durch Abgabe von Energie werden sie zu einem anderen Element.
Für alle Isotope passiert dies unterschiedlich schnell. Außerdem geben sie dabei unterschiedliche Arten von ionisierender Strahlung ab.
Beim Alphazerfall geben die instabilen Isotope einfach ein 4Helium-Atom ab, also ein Heliumatom mit zwei extra Neutronen. Da sie sehr groß sind können sie kaum durch Materie dringen und so bietet unsere Haut einen guten Schutz vor Alphastrahlung. Allerdings wird es gefährlich wenn man einen Alphastrahler in die Nahrung, ins Wasser oder in die Atemluft gelangen. So wurde zum Beispiel der Doppelagent Alexander Litwinenko durch den Alphastrahler 210Polonium vergiftet.
Beim Betazerfall entstehen Teilchen, die der instabile Atomkern hinausschleudert. In diesem Fall nicht solche mit Pudding sondern Elektronen oder deren Gegenstück, die Positronen. Diese reagieren wieder mit ihrem Umfeld. Vor Betastrahlung schützen schon sehr dünne und leichte Materialien wie Plexiglas. Als Beta-Strahler ist uns vor allem 131Iod bekannt. Da Iod beim Menschen in der Schilddrüse gespeichert wird, kann sich dort auch radioaktives Iod ansammeln. Wenn erwartet wird, dass man mit radioaktivem Iod in Kontakt kommt, füllt man diese Speicher mit nicht-radioaktivem Iod auf. Dann wird neues Iod erstmal direkt wieder ausgeschieden und der Schaden in minimal. Radioaktives Iod kann, wie beim Unfall von Tschernobyl passiert, zu Schilddrüsenkrebs führen. Dieser ist früh entdeckt sehr gut behandelbar, auch wenn es erst einmal unlogisch erscheint, dass er mit genau dem gleichen 131Iod therapiert wird. Das liegt daran, dass die Schilddrüse als einziges Organ Iod speichern kann. Sie macht dabei keinen Unterschied zwischen dem harmlosen 127Iod und 131Iod. Das radioaktive 131Iod macht in der Schilddrüse dann das, was es am besten kann: Betazerfall und somit die Zellen in der unmittelbaren Umgebung schädigen. Die Betateilchen verursachen starke Schäden in der DNA, die zum Tod der Zellen führen. Nun sind dies aber Krebszellen und so erfüllt 131Iod dann ausnahmsweise einen guten Zweck: Die Krebszellen sterben ab. Das umliegende Gewebe wird geschont, da sich Iod außerhalb der Schilddrüse nicht einlagert. Die Schilddrüse wird dadurch jedoch komplett zerstört.
Hat sich der Kern nach Alpha- oder Betazerfall noch nicht beruhigt entsteht Gammastrahlung. Im Gegensatz zu den anderen Zerfällen handelt es sich hierbei aber um eine elektromagnetische Welle, ähnlich wie Licht. Sie tritt in Kernkraftwerken bei der Spaltung der Atomkerne auf. Diese Wellen sind so stark, dass die chemische Bindungen durchtrennen können. Das kann in unserer DNA passieren, oder es können andere Zellbausteine zerstört werden. Dadurch kann Krebs entstehen. In Tschernobyl war dies vor allem das 137Cäsium. In der Forschung habe ich übrigens genau dieses Isotop verwendet, um bestimmten Zellen Schaden zuzufügen. Diese Eigenschaft von Gammastrahlern nutzt man auch in der Krebstherapie. Man könnte Gammastrahlung jedoch auch nutzen, um unser Essen länger haltbar zu machen. Wichtig dabei ist, dass man kein radioaktives Isotop hinzufügt sondern es nur kurze Zeit in seine Nähe bringt. Dadurch werden Keime zerstört, ohne das Lebensmittel zu schädigen. Es wird be- und nicht verstrahlt.
Tschernobyl hat nicht nur zu einer großen Angst vor Strahlung geführt, sondern auch die Ukraine noch für sehr viele Jahre mit einem tragischen Ereignis verbunden. Genauso wie Strahlung nicht nur böse ist, sondern ein natürlich vorkommendes Phänomen, ist auch die Ukraine nicht nur die Geisterstadt Pripyat, sondern ein sich gerade sehr stark veränderndes, entwickelndes Land. Wollen wir hoffen, dass beide Frieden finden.
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