Hallo,
ich bin Ellen, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Mein Sohn Jonas hat das Prader-Willi-Syndrom. Das ist ein zufällig auftretender Gendefekt, der sich unter anderem durch Muskelschwäche, verringertes Sättigungsgefühl, Kleinwuchs und geistige Beeinträchtigung äußert. In einer kleinen Serie berichte ich über mein Leben und meine Erfahrungen mit einem behinderten Kind.
In meinem letzten Artikel habe ich euch erzählt, welchen Weg mein Mann und ich von der Geburt unseres Sohnes bis zu seiner Diagnose „Prader-Willi-Syndrom“ gegangen sind.
Nach so einer Diagnose steht dann unweigerlich die nächste Frage an: „Wie rede ich darüber mit Familie, Freunden, Nachbarn, Bekannten, Arbeitskollegen?“
Eine Behinderung wirkt sich mehr oder weniger auf den Alltag aus. Sie lässt sich nicht verstecken – und das soll sie auch nicht. Also müssen die Eltern früher oder später mit der Sprache rausrücken.
Leichter wird es, wenn die Eltern die Behinderung des Kindes innerlich akzeptiert haben. Dieser Prozess kann unterschiedlich lange dauern, ist aber sehr wichtig. Er erleichtert den Umgang mit der Besonderheit und hilft auch dem Kind. Wenn die Behinderung für die Eltern eine Selbstverständlichkeit geworden ist, können sie auch besser davon erzählen.
Der Satz „Mein Kind ist behindert“ ist aber leider negativ besetzt. Teilweise wird das Wort „behindert“ sogar als Beleidigung benutzt. Absolut unpassend für das geliebte eigene Kind, oder?
Als wir Jonas‘ Diagnose bekamen und akzeptieren mussten, dass er einen Chromosomendefekt hat, habe ich mich auch mit der Frage auseinander gesetzt.
Mein Mann und ich waren der Meinung, dass wir offensiv mit der Behinderung umgehen wollen. Rumdrucksen und Geheimniskrämerei schaffen nur Misstrauen und Unsicherheit. Also mussten wir einen Weg finden, von Jonas Behinderung angemessen zu erzählen.
Rumeiern für Fortgeschrittene
Wegen der Bemühung um politische Korrektheit gab es eine Zeit lang die abenteuerlichsten Formulierungen für eine Behinderung. Das führte teilweise zu sehr unterhaltsamen sprachlichen Konstrukten:
- Menschen mit einer etwas anderen Gesundheit
- anders befähigt/begabt
- besonders befähigt
- gehandicapt
- Menschen mit Assistenzbedarf
- Menschen mit Beeinträchtigungen
- geistig/körperlich eingeschränkt
- eine Mutter nennt ihr Kind auch liebevoll „Montagskind“
Manche Bezeichnungen machen mich sogar wütend. So sagte eine Frau in einem übertrieben mitfühlenden Ton zu mir: „Sie sind also Mutter eines besonderen Kindes.“ Natürlich ist Jonas wegen seiner Behinderung kein „normales“ Kind. Trotzdem ist es aber unfair allen anderen Kindern gegenüber. Meine Tochter Ida ist zwar gesund, aber genau so besonders wie mein Sohn – und wie überhaupt jeder Mensch!
Mit der Formulierung „Kind mit besonderen Bedürfnissen“ habe ich auch so meine Probleme. Besondere Bedürfnisse hat jeder irgendwo.
Womit ich elegant zur zweitschlimmsten Bemerkung über Behinderung komme: „Wir sind doch alle irgendwie behindert.“ Dieser Pathos verniedlicht die Hürden, mit denen wirklich behinderte Menschen leben müssen:
Natürlich kann ich auch nicht alles (fragt mal meinen Chemielehrer!), aber wenn ich mich anstrenge, schaffe ich einiges. Diese Defizite kann ich ausgleichen. Ein Mensch mit einer geistigen Behinderung wird aber wohl niemals das Abitur machen und studieren können. Er ist ganz klar in seiner Berufswahl eingeschränkt. Ein Tetraplegiker kann sich noch so sehr bemühen, wird aber nie eigenhändig einen Kuchen backen können.
Kritisch sehe ich die Aussage, dass die Gesellschaft behindert. Das stimmt im Bereich der Teilhabe am Alltagsleben, wo Treppen den Rollstuhlfahrer bremsen oder die Engstirnigkeit einiger Menschen zu Ausgrenzungen führt.
Es ist aber nur die eine Seite. Die Behinderung selbst schränkt ja auch ein. Jonas´ kaputtes 15. Chromosom ist die Ursache für seine schwachen Muskeln, die ihn an sportlichen Höchstleistungen hindern. Und dabei hatte ich mich so auf einen Olympiasieger gefreut!
Und wie ist es nun „richtig“?
Die Frage kann nur individuell beantwortet werden. Jeder Mensch geht anders mit seiner Behinderung um und soll das auch. Zum Glück gibt es inzwischen eine offizielle Formulierung, mit der ich absolut einverstanden bin. Heutzutage heißt es korrekt „Menschen mit Behinderung“. Das drückt aus, dass es sich um Menschen wie du und ich handelt, die eben aus verschiedenen Ursachen nicht alles können.
Die Behinderung ist aber nur ein Teil von ihnen. So wie ich blonde Haare und ein fehlendes Verständnis für chemische Zusammenhänge habe, hat Jonas das Prader-Willi-Syndrom. Aber eben nicht nur! Er ist selten schlecht gelaunt, herrlich schadenfroh (das hat er von mir!), bewundernswert tiefenentspannt und besitzt ein Auge für Details. Jonas hat ebenso Vorlieben und Abneigungen wie jeder andere Mensch auch.
Das Bild von Behinderung ändern
Nicht das Wort „Behinderung“ ist daher unpassend, sondern seine negative Besetzung. Wenn unsere Gesellschaft umdenkt und eine Behinderung als die Facette eines Menschen sieht, wäre ein wichtiger Schritt beim großen Thema Inklusion getan.
Der Weg dahin ist noch lang, aber es passiert was. Einen Teil trägt die UN-Behindertenrechtskonvention bei. Eltern schulpflichtiger Kinder müssen sich inzwischen bei der Schulwahl mit Inklusion auseinander setzen, das Thema „Behinderung“ gewinnt an Bedeutung. Wer beruflich oder privat damit zu tun hat, ändert seine Sichtweise.
Menschen mit Behinderung sind nicht mehr gesichtslos, sondern haben eine Rolle in ihrem Leben. Und irgendwann gehört die Behinderung eines Kollegen oder Freundes einfach so dazu.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass das Wort „Behinderung“ nicht als Bewertung, sondern einfach als Beschreibung gesehen wird. Denn eigentlich passt es wunderbar. Jonas hat einige Hindernisse in seinem Leben, die für ihn unüberwindbar sind. Sie schränken sein Leben ein und ihm steht nicht die Welt auf die selbe Weise offen wie gesunden Kindern. Er muss mit dieser Behinderung leben. Und kann das richtig gut!
Zusammengefasst:
- Das Verleugnen einer Behinderung führt zu Frustrationen. Wer die Fakten akzeptiert, hat ein leichteres Leben.
- Abgedroschene Phrasen und zu dick aufgetragenes Mitgefühl bewirken genau das Gegenteil. Sie sind ein Zeichen für Unbeholfenheit und führen zu einer Sonderstellung, die kein Mensch (mit Behinderung) haben möchte.
- Das Wort „Behinderung“ trifft den Kern sehr gut, allein die negativen Assoziationen schrecken ab.
- Eine Behinderung macht niemals den ganzen Menschen aus. Sie ist lediglich ein Teil von ihm.
- Wer unsicher ist, welches Vokabular er beim Thema Behinderung verwenden kann, findet unter leidmedien.de viele gute Empfehlungen.
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