In dem Moment, als ich das Arbeitszimmer der Assistenzärzte betrete, klingelt das Telefon. Eigentlich gehe ich nur ungern ran, denn meist kann ich nicht groß weiterhelfen. Höchstens jemanden heranholen, der mehr weiß als ich. Heute bin ich aber weit und breit die einzige, die in der Nähe ist. Also überwinde ich mich und nehme den Anruf entgegen.
Und – oh Wunder – heute ist das absolut passend: es wird nach mir verlangt! Am anderen Ende der Leitung ist die Sekretärin der Kardiologie. ‚Sie müssen sofort kommen und Ihren Patienten abholen. Umgehend!‘ Ich bin überrascht. Keine zehn Minuten ist es her, dass ich Monsieur P. in die Kardiologie begleitet habe. Ob die Untersuchung, ein Herzecho, so schnell ging? Als ich ging, hatte ich eher den Eindruck, als würde mein Patient noch einige Zeit im Wartezimmer verbringen müssen. ‚Nein, aber kommen Sie trotzdem. Dieser Mann ist unmöglich, ich kann ihn hier keine Sekunde länger mehr tolerieren.‘ Etwas ratlos lege ich auf und mache mich auf den Weg.
Ein bisschen komme ich mir vor wie im Kindergarten
Angekommen in der Kardiologie muss ich mir beim Anblick meines Patienten ein Schmunzeln verkneifen. Der große und kräftige Monsieur P. steht, die Arme trotzig verschränkt und unruhig von einem Bein auf das andere tänzelnd, aufgebracht vor dem Sekretariat. ‚Was ist denn passiert?‘, erkundige ich mich bei ihm. Mit weit ausholender Geste verweist er in das Büro der Sekretärinnen. ‚Die Frage sollten Sie ihr dort stellen.‘ Ich trete ein.
Um es kurz zu fassen: für Monsieur P. ist heute früh zusätzlich noch eine transösophageale Ultraschalluntersuchung geplant worden, die eine noch bessere Sicht auf das Herz verspricht als die transthorakale, die schon gestern vorgesehen worden war. Erst heute morgen wurde das in der ärztlichen Besprechung entschieden, denn da erst lagen die Laborwerte vor und der Verdacht auf einen Schlaganfall hatte sich bestätigt. Nun ist Monsieur P. aber natürlich nicht nüchtern, denn für die nicht invasive transthorakale Echografie wäre das nicht erforderlich gewesen. Insofern hat die Sekretärin mit ihm besprechen wollen, beide Untersuchungen gemeinsam zu machen und auf morgen, Freitag, zu verschieben. Und Monsieur P., ein hitzköpfiger stolzer Mann, der uns schon seit seiner Einweisung am Dienstag jeden Tag erneut sehr deutlich macht, dass er als selbstständiger Schneider dringend in seinen Laden muss, ist darüber äußerst aufgebracht. Und ja, die Kommunikation mit ihm ist schwierig. Er möchte gern auf Augenhöhe diskutieren und legt – das darf ich zur Verteidigung der Sekretärin nicht verheimlichen – dem ärztlichen Personal gegenüber deutlich mehr Respekt an den Tag als den Krankenschwestern. Ganz auf der gleichen Ebene sieht er sich also mit der Sekretärin genau genommen gar nicht, sondern setzt sich ein kleines Stück höher. Schließlich hat er selbst drei Mediziner in seiner Familie, das hat er mir nun schon zweimal erzählt. Die Sekretärin vertritt dagegen die Meinung, dass die Patienten keine Forderungen zu stellen haben, sondern sich den Krankenhausprozessen unterzuordnen haben. Und wenn Ausnahmen gemacht werden, dann nur nach äußerst höflicher und untergebener Verhandlung. Monsieur P.s Auftreten passt da ganz und gar nicht ins Bild und sie zeigt ihm sehr deutlich, dass sie sich nicht von ihm herumkommandieren lässt, wie sie es mir gegenüber ausdrückt.
Ich versuche zu vermitteln, doch die Situation hat sich schon zu sehr hochgekocht. Letztendlich bleibt mir nichts anderes übrig, als Monsieur P. erst einmal wieder mit auf die neurologische Station zu nehmen. Dort regt er sich eine halbe Stunde ab und dann gelingt es mir und der Assistenzärztin, ihn davon zu überzeugen, seiner Gesundheit zuliebe noch einen Tag länger im Krankenhaus zu bleiben.
Ziel: den Patienten behandeln
Der Kunde ist König – was wir alle aus der privaten Wirtschaft gewöhnt sind, können wir uns im öffentlichen Gesundheitssystem abschminken. (Es sei denn, wir sind privat versichert. Dann erhalten ja einige Wettbewerbsprinzipien Einzug in die Medizin. Zumindest zu einem gewissen Grad.) Der Umgang mit Patienten ist nicht immer leicht. Allerdings bin ich der Meinung, dass man als Arzt ‚Erfolg‘ nur dann für sich verbuchen kann, wenn man es geschafft hat, seinem Patienten genau die Behandlung zukommen zu lassen, die aus vorherrschender medizinischer Sicht angemessen ist – selbst wenn dieser davon anfangs nicht so überzeugt war. Dazu gehört Verhandlungstaktik, ein respektvoller Umgang – und natürlich auch, dass man sich von den Patienten nicht alles gefallen lässt.
Auf Machtspiele sollte man sich meiner Meinung nach allerdings nicht einlassen; da hat man direkt verloren. Monsieur P. könnte etwas Umerziehung zwar gebrauchen, aber bei dem 60 Jahre alten Mann habe ich keine all zu große Hoffnung mehr. Erfolgsversprechender ist es wohl, sich – wo notwendig – auf ihn einzulassen. Damit er morgen auch sein Herzecho erhält und nicht in Kürze mit einem erneuten, deutlich schwerwiegenderen Schlaganfall wieder bei uns auf der Station erscheint.
Ganz schön schwierig, manchmal! Nicht die Medizin, sondern alles, was dazugehört.