Menschen in Not – Unsere Patienten in Kalkutta
Ein Bericht von Einsatzarzt Dr. Bernhard Heeren
Nunmehr schon in der zweiten Hälfte meiner Einsatzzeit für German Doctors in Kalkutta hat sich in der Ambulanzarbeit eine gewisse Gelassenheit und Routine eingestellt. Es ist schön manche Patienten ein zweites oder gar drittes Mal zu sehen und so auch diagnostische und therapeutische Verläufe beobachten zu können. Es ist gut im Team immer wieder Patienten kurz gemeinsam zu besprechen und natürlich ist oft unser Langzeitarzt Tobias Vogt unser Ansprechpartner, um den weiteren Weg eines Patienten zu klären. Es ist dabei schwer zu akzeptieren, dass die öffentlichen (staatlichen oder kommunalen) Krankenhäuser oft keine verlässlichen Partner in der Weiterbehandlung von Patienten sind, denen wir in den Ambulanzen nicht helfen können. So ist die Beratung oder Behandlung in den öffentlichen Kliniken zwar kostenfrei, die notwendigen Medikamente oder Geräte- und Labordiagnostik müssen hilfesuchende Menschen in Not aber selbst finanzieren, was viele unserer Patienten nicht können.
Vor einer Woche kam z.B. ein 50jähriger Mann zu mir der drei Tage zuvor einen Schlaganfall mit inkompletter halbseitiger Lähmung erlitten hatte. Er war am Sonntag nachmittag gleich ins Krankenhaus gegangen und dort nach kurzer Untersuchung mit der Diagnose Myalgie (Muskelschmerzen) wieder heimgeschickt worden. Eine adäquate Untersuchung mit Labordiagnostik und Behandlung seines Bluthochdruck bekam er dann erst von mir. Oder wir sehen Knochenbrüche (eingestauchte Oberschenkelhalsfrakturen, komplizierte Ellebogenfrakturen) die nicht adäquat, d.h. operativ versorgt werden. Die Patienten kommen dann oft nach Monaten zu uns, weil sie dauerhaft behindert sind, Schmerzen haben und natürlich oft nicht mehr arbeitsfähig sind. Eine Katastrophe für die ganze Familie, die jede Rupie zum überleben benötigt.
Hier stehen wir, d.h. die German Doctors, immer wieder vor der Frage, welchen Patienten man eine teure Behandlung in einem privaten Krankenhaus finanzieren kann, um dem Patienten und seiner Familie (oft mit 3-5 Kindern) eine Chance auf ein beschwerdefreies Leben und eine Erwerbsfähigkeit zu ermöglichen. Hier ist immer wieder der Langzeitarzt Tobias Vogt mit seiner langjährigen Erfahrung vor Ort gefordert, Lösungen zu suchen und ggf. Fremdmittel z.B. von der deutschen Organisation Pro Interplast für so einen Fall zu beschaffen. Immer wieder sehen wir natürlich auch fatale Krankheitsverläufe, weil Patienten monate- oder gar jahrelang aus Geldmangel oder wegen des teils schlechten Rufs der öffentlichen Krankenhäuser mit langen Wartezeiten Wunden oder Beschwerden verschleppen, um dann bereits schwer erkrankt oder mit Folgeschäden bei uns vorzusprechen. So kam z.B. ein junger Mann (32 Jahre) zu mir, nachdem er nicht mehr arbeitsfähig war, fast zu schwach um sich auf den Beinen zu halten, abgemagert und verzweifelt.
Unter dem Verdacht, hier eine der leider häufigen verschleppten Tuberkulose-Erkrankungen als Ursache zu finden, veranlasste ich Röntgen-Thorax, Sonographie des Abdomens und Sputum-Test, was aber bis auf eine leichte Vergrößerung von Leber und Milz alles ohne Ergebnis blieb. Die Urinuntersuchung zeigte jedoch eine hohe Zuckerausscheidung, der Blutzucker war mit unserem Messgerät nicht messbar über die obere Nachweisgrenze erhöht. Er litt also schon seit langer Zeit unter Diabetes und hatte deshalb so stark abgebaut. So stellte ich ihn mit engmaschigen Konsultationen auf Insulin ein, er besuchte die Diabetesschulung von Howrah South Point und langsam konnten wir seinen Blutzucker normalisieren.
Er war unendlich dankbar seine Kräfte wieder zu gewinnen. Leider bekam er dann zu allem Überfluss noch eine Malaria, die ich aber schnell diagnostizieren und erfolgreich behandeln konnte. Malaria-Fälle hatten wir in den letzten Wochen einige zu behandeln. In der Regel verursacht durch das hier vorherrschende Plasmodium vivax. Aber auch einen Patienten mit einer Plasmodium falciparum-Malaria konnte ich diagnostizieren und zur schnellen Behandlung in die Privatklinik einweisen, mit der wir in lebensbedrohlichen Fällen zusammenarbeiten. Besonders vergangenen Donnerstag hatten wir in der Foreshore-Road-Ambulanz sieben Kinder und Erwachsene zur stationären Behandlung aufzunehmen mit Erkrankungen wie Malaria, Tuberkulose mit schwerer Kachexie, Pneumonie, schwerer Unterernährung bei zwei Kindern, Halbseiten-Lähmung nach 30-minütigem Krampfanfall bei einer bekannten jugendlichen Epileptikerin, Verdacht auf Guillain-Barré-Syndrom bei einem 8-jährigen – es gibt hier einfach unzählige Menschen in Not.
Gott sei Dank haben wir unsere Kinderstation, wo diese Patienten die nötige Zuwendung, Diagnostik und Therapie bekommen. Da sie gleich neben unserer Ärztewohnung liegt, können wir auch nach den Patienten und deren Genesungsverläufen sehen, wobei die Station aber nicht von uns, sondern von einer indischen Kollegin betreut wird.
Eine Visite mit Dr. Mita Roy auf der Kinder-TB-Station Pushpa Home entspricht einem Lehrstück für das, was eine Tuberkulose alles anrichten kann. Hier erhalten Kinder ihre Therapie, die aus sozial-häuslichen Gründen sonst keinen Zugang zu einer adäquaten Behandlung hätten. Je nach schwere der TB-Erkrankung oder bestehenden Medikamentenresistenzen kann der Aufenthalt bis zu zwei Jahre dauern. Dabei leben die Familien oft weit entfernt. Mehrere der Kinder müssen aufgrund der Wirbelkörperzerstörungen durch die TB ein Stützkorsett tragen, oder sie leiden unter neurologischen Defiziten nach einer TB-Meningitis. Ein Mädchen erlitt eine Herzschädigung, nachdem eine Lungentuberkulose zu einem Herzbeutel-Empyem geführt hat, was oft mit einer verkürzten Lebenserwartung einhergeht. Trotz allem begegnen einem diese Kinder mit großer Fröhlichkeit und es hat die letzten Tage viel Spaß gemacht immer mal wieder bei ihnen vorbei zu schauen, mit ihnen Federball oder Fußball zu spielen, oder Papierflieger zu basteln und mit einigen ein wenig „inglish spiiking“ zu üben. Auch gesungen haben wir gemeinsam, nachdem einigen von den größeren Kindern das Lied „We shall overcome“ bekannt war. Ehrensache, dass Kollege Dirk und ich auch einige Spielsachen gekauft und den beiden Kinderstationen überreichten, was mit großem Hallo begrüßt wurde.
Mein Aufenthalt hier neigt sich nun schon seinem Ende zu. Nächste Woche werde ich nur noch an zwei Tagen in den Ambulanzen arbeiten, da wegen des größten religiösen Festes der bengalischen Hindus und insbesondere der Bürger Kalkuttas „Durga Puja“ überall auf Straßen und Plätzen gefeiert wird. Eine ganze Woche haben die Kinder schulfrei. Aus Bambusstangen bunten Stoffen und Lichterketten werden in den Wohnvierteln provisorische Tempel für die Hunderte von Figuren der achtarmigen Göttin Durga errichtet. Religiöse Gesänge und Rituale, Musik und Tänze werden veranstaltet, alles ist je nach finanziellen Möglichkeiten geschmückt, herausgeputzt, beleuchtet und man kleidet und hübscht sich auf, so gut man kann. Für die, die es sich leisten können, ist das vergleichbar mit unserer Vorweihnachtszeit und Konsumweihnacht – Werbung und Sonderangebote wohin man schaut und die provisorischen Durga-Tempel sind umgeben mit zahlreichen Verkaufsständen, wie auf den Weihnachtsmärkten bei uns. Irgendwie ist das auch ein seltsamer, aber hier völlig selbstverständlicher Kontrast zu dem, was wir bei unserer Arbeit so sehen, aber es entspricht dem Bild der Stadt der Freude, wie es Lapierre in seinem gleichnamigen Buch beschreibt.
Man taucht ein in das typische Indien der Menschen, die sich eine medizinische Behandlung nicht leisten können oder nach einer begonnenen Behandlung ihre Ersparnisse aufgebraucht haben und nun in unsere Ambulanzen kommen, neben denen, die in die Einkaufszentren und auf die Basare strömen und für sich und ihre Familien shoppen gehen. Man sieht immer noch viele Menschen in Not, die auf dem Bürgersteig leben oder dann doch den Aufstieg in ein 9qm-Zimmer für 5-7 Personen geschafft haben. Es gibt aber auch eine große Zahl von Familien denen der Aufstieg in den Mittelstand mit geregeltem Einkommen, bescheidenem Wohlstand und eignen Wohnungen oder Häusern gelungen ist. Und dann gibt es noch eine nicht unerhebliche Zahl an Reichen. So leben in Indien etliche der reichsten Personen der Welt!
Hier im sowohl kolonial als auch sozialistisch in seiner Geschichte geprägten Kalkutta wird das einfach so akzeptiert und egal ob arm oder wohlhabend, die Menschen begegnen einem mit großer freundlicher Offenheit und Akzeptanz. Mit dem medizinischen Angebot in den Ambulanzen von Howrah South Point versuchen die German Doctors zumindest ein wenig eine Lücke im indischen Gesundheitssystem zu schließen, die derzeit für das Schwellenland Indien typisch ist. In den öffentlichen bzw. staatlichen Krankenhäusern und Universitätskliniken ist die unmittelbare ärztliche Beratung und Behandlung für jeden kostenlos. Jede diagnostische Maßnahme wie Labor, Röntgen, Ultraschall etc. müssen die Patienten allerdings auf dem freien Markt erwerben, egal ob sie sich das leisten können oder nicht. Das gleiche gilt auch für verordnete Medikamente, Hilfsmittel und sogar für die Verbrauchsmaterialien bei einem chirurgischen Eingriff. Gleichzeitig deckt die Kapazität der staatlichen Klinikambulanzen bei weitem nicht die Nachfrage der vielen Hilfesuchenden. Die Motivation der beamteten, aber nicht sehr gut bezahlten Ärzte im öffentlichen Dienst, dem Patienten ernsthaft weiter zu helfen ist daher – vorsichtig ausgedrückt – sehr vom einzelnen Arzt und von den jeweiligen Arbeitsumständen abhängig. Die fachliche Kompetenz der indischen Ärzte und deren Ausbildung steht der unseren in nichts nach. So sind auf dem privaten medizinischen Sektor alle medizinischen Leistungen in gleicher Qualität erhältlich, wie in Europa. Für unsere Verhältnisse ist die privatärztliche medizinische Leistung sogar ausgesprochen preiswert, für die Millionen Armen aber schlicht unerschwinglich. So wandern die gut ausgebildeten Ärzte mit entsprechender Qualifikation und Motivation meist in den privaten Sektor ab.
Daher stellte gerade die Zusammenarbeit mit dem staatlichen Klinikambulanzen häufig für uns das größte Problem dar. Leiteten wir Patienten in die Uni-Fachambulanzen z.B. mit der Frage nach einem operativen Eingriff weiter, kamen sie in der Regel mit einer Liste von beizubringenden Untersuchungsbefunden zurück, die sie nicht bezahlen konnten. Die Untersuchungen müssen dann im privaten Sektor auf Kosten von Howrah South Point durchführt und die Patienten mit den Ergebnissen erneut ins Medical College geschickt werden, wobei hier evtl. auch bei den Kosten für den Eingriff und die Nachbehandlung Unterstützung gezahlt werden muss. Das ganze ist oft sehr mühsam und unbefriedigend für die Patienten und für uns und gelegentlich erlebt man hier auch ausgeprägte Schlamperei und Ignoranz.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Arbeit der German Doctors liegt in der Prävention. Die Schwangerenvorsorge ist gut durchorganisiert und hier lassen sich viele fatale Verläufe und Geburtsprobleme schon im Vorfeld vermeiden. Die Vorbeugemaßnahmen für Kinder, wie Impfungen, Vitamingaben, Stillberatung, Eisen- und Zinksubstitution und die Dokumentation der Gewichtsentwicklung haben einen großen Wert für die Überlebensfähigkeit besonders in den ersten Lebensjahren. So war es mir hier vergönnt bei einem unterernährten Kind einen Befund zu sehen, den wir allenfalls aus Lehrbüchern kennen. Das Kind hatte Biot’sche Flecken im Weiß der Pupille als Symptom für einen schweren Vitamin-A-Mangel. Ebenso haben wir regelmäßig Fälle von Vitamin-D-Mangelrachitis im 2. Lebensjahr mit den typischen Auftreibungen der Handgelenke und einer stark verzögerten Laufentwicklung diagnostiziert und behandelt.
Meine Arbeit in Kalkutta sehe ich rückblickend als gelungenes „Work and Travel“. Ich habe für mich sehr viel an Erfahrungen mitgenommen, habe gleichsam eine intensive Fortbildung in Armutsmedizin, internistischer Basisversorgung und „einem Spritzer“ Tropenmedizin erhalten. Ich habe in gleicher Weise, wie täglich hier in unserer Kinderarztpraxis, mitgeholfen Beschwerden zu lindern, Erkrankungen zu heilen oder zu bessern und die Arbeits- und Teilhabefähigkeit von Patienten zu erhalten oder wieder herzustellen. Dabei haben wir örtlich und im Sinne einer Zufallsauswahl begrenzt geholfen eine riesige Lücke im indischen Gesundheitssystem ein ganz klein wenig zu füllen.
In Bezug auf den Erhalt der Erwerbsfähigkeit des einzelnen Patienten und seiner „Zukunftsfähigkeit“ erzeugen wir mit unserer Arbeit sicher eine Art Nachhaltigkeit. Die langfristige Unabhängigkeit einer medizinischen Basisversorgung für die Millionen indischen Menschen in Not, wird mit dieser Art Tätigkeit, finanziert aus deutschen, französischen, schweizerischen, österreichischen und indischen Spenden, sicher nicht erreicht. Dennoch wird das Ziel verfolgt indische Ärzte in diese Versorgung mit einzubeziehen. Gelungen ist das schon mit der Kinderstation und dem Pushpa Home, die vollständig von zwei indischen Ärztinnen betreut werden und weiteren Einrichtungen, die zu dem Sozialunternehmen Howrah South Point gehören.
So bleibt die persönliche „Win-Win-Situation“ eines Einsatzes als German Doctor, die mir sehr viel an Erfahrung gebracht hat und große Freude machte, insbesondere durch die fachlich und menschlich sehr nette Teamarbeit mit unseren indischen MitarbeiterInnen. Dabei folgen German Doctors und Howrah South Point klar den Kriterien der humanitären Hilfe, nicht zuletzt geprägt vom Gedanken der christlichen Nächstenliebe, aus deren Geist heraus Howrah South Point entstanden ist.
Aus meiner Sicht bestünde eine nachhaltige Möglichkeit, die Basisgesundheitsversorgung für indische Menschen in Not zu verbessern, darin, dass speziell geschulte Social Nurses fest in den ärmlichen Vierteln (Busties, Slums) oder den Dörfern in den unterversorgten ländlichen Regionen eingesetzt würden, die dort Gesundheitsaufklärung, einfache standardisierte Vorsorgemaßnahmen, niedrigschwellige Basisberatung und Krankheitsbehandlung anbieten und dann einem Arzt oder einer Ambulanz zuarbeiten könnten. Hierdurch könnte ein flächendeckendes Angebot im Gesundheitssektor geschaffen werden, in dem die Ärzte sich auf ihre ärztlichen Aufgaben konzentrieren könnten und eine sehr viel teurere Anstellung von unzähligen approbierten und für diese Tätigkeit unmotivierten Medizinern zu vermeiden wäre. Gleichzeitig würden durch diese niedrigschwellige Erreichbarkeit der medizinischen Hilfe und Beratung die oft überlasteten Krankenhausambulanzen entlastet könnten effektiver arbeiten.
Die indische Gesundheitspolitik ist aber hier genau so schwerfällig und von Partei-, Kasten- und Religionsdünkeln geprägt , wie in allen anderen Bereichen der Regierungsarbeit und Administration auch. Von hier werden keine großen Schritte in die richtige Richtung zu erwarten sein. Wenigstens in den Bereichen Tuberkulose , HIV, Schwangerenvorsorge, Impfprogramme und Herzoperationen bei Kindern gibt es einigermaßen funktionierende und für Menschen in Not kostenfreie Versorgungsprogramme.
Fazit: Work and Travel – es hat mir sehr gut gefallen. Vielen Dank an die engagierten indischen und deutschen Kollegen im Team vor Ort! Ich würde es wieder tun!
Der Beitrag Schicksale aus Kalkutta erschien zuerst auf German Doctors Blog.