Der Dokumentarfilm „Chemsex“ taucht tief in die schwule Drogen- und Sexparty-Szene Londons ein. Die Bilder und Geschichten lassen niemanden kalt – und stehen beispielhaft für ein internationales Phänomen.
Es gibt hier keine langen erklärenden Vorreden, sondern es geht gleich zur Sache. Die Filmemacher William Fairman und Max Gogarty beginnen ihre Dokumentation mit einer authentischen Szene aus dem schwulen Alltag in London. Ein junger Typ sitzt auf seinem heimischen Sofa, plaudert und setzt sich währenddessen einen Schuss. So würde man dass bei einem Heroinjunkie formulieren. Schwule aber, die sich Crystal Meth spritzen, haben dafür den schickeren Begriff „Slamming“ gefunden. Klingt einfach cooler und nicht so abgerockt, wie ein Protagonist später erklären wird. Zunächst aber ist erst einmal die Wirkung der Droge zu beobachten. Während der Typ sich weiter mit den Filmemachern unterhält, die Augen dabei immer weiter aufreißt, beginnt er unruhig auf Grindr nach einem Sexpartner zu suchen.
Tagelange Sexsessions auf Drogen
„Chemsex“, eine Produktion des Onlinemagazins VICE, ist nichts für Zartbesaitete. Ein gutes Dutzend schwuler Männer erzählt in diesem 80-minütigen Film ihre Geschichten. Geschichten von tagelangen Sexsession auf Crystal Meth, GHB, Ketamin und anderen chemischen Drogen, von grenzenloser Geilheit und völliger Entgrenzung beim Sex. Dank der Drogen, sagt einer der Interviewten, konnte er sich „wie ein Pornostar fühlen“. Doch auch die Schattenseiten bleiben nicht unerwähnt, und so berichten die Männer gleichermaßen von den Folgen ihrer Abhängigkeit: zum Beispiel vom Verlust des Jobs, der Wohnung, dem damit verbundenen sozialen Absturz und immer wieder auch von den gesundheitlichen Folgen. Fast alle der Interviewpartner haben sich im Laufe ihrer Chemsex-Karriere mit HIV, Syphilis und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten infiziert, vielen ist der Drogenkonsum deutlich ins Gesicht geschrieben.
In „Chemsex“ erzählen sie nicht nur offen ihre Erfahrungen, sie lassen das Filmteam auch an ihrem Leben teilhaben – und damit sind Besuche in Sexclubs ebenso gemeint wie Chemsessions zu Hause oder auf privat organisierten Partys, aber auch der Gang zur Beratung in die 56 Dean Street. Die dort ansässige Klinik für sexuelle Gesundheit des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS ist die größte in Großbritannien und die einzige, die sich speziell auch an Chemsex-Konsumenten richtet. Rund 7.000 schwule Männer nutzen das Angebot jährlich, die Hälfte von ihnen hat Erfahrungen mit harten Drogen und Chemsex-Partys.
Dass der Dokumentarfilm „Chemsex“ viele Zuschauer emotional nicht kalt lassen dürfte, liegt an zweierlei: Zum einen, weil die Protagonisten – allesamt auf ihre Art attraktive, sympathische und zumeist noch recht junge Männer – ungemein offen, direkt und ehrlich über ihr Sucht beziehungsweise ihr Sex- und Drogenleben Auskunft geben. Zum anderen, weil die Filmemacher diese Form des schwulen Lebensstils weder verurteilen noch als reißerische Sensationsgeschichte aufbauen. Im Gegenteil, ihre Doku bleibt angesichts der vielen Drogen, die im Laufe dieser 80 Minuten konsumiert werden, auffallend nüchtern und wertfrei.
„Chemsex gab mir das Selbstvertrauen, das ich sonst nicht hatte“
Diese Haltung war sicherlich auch ausschlaggebend, um eine Vertrauensgrundlage für die Interviewpartner und damit die Voraussetzung für diese im besten Sinne intimen Einblicke zu schaffen. Deutlich wird aber auch, dass diese endlosen Orgien für die meisten letztlich unbefriedigend bleiben. Fünf bis 15 Sexpartner, so David Stewart von der Klinik für sexuelle Gesundheit, haben schwule Männer laut einer Erhebung während eines Chemsex-Wochenendes. Wirklich erfüllend aber sind diese Erlebnisse offenbar nicht. Zurück bleibt eine Leere, die man dann mit noch mehr Sex und noch mehr Drogen auszufüllen versucht. „Chemsex gab mir das Selbstvertrauen, das ich sonst nicht hatte“, sagt einer der Interviewpartner.
Verinnerlichte Scham über die eigene Sexualität, das Gefühl, nicht begehrt und nicht geliebt zu werden, zurückgewiesen sowie in der Familie und der Gesellschaft als schwuler Mann nicht selbstverständlich angenommen zu sein – dies sind nur einige Aspekte dieser komplexen Zusammenhänge, die zu dieser in vielen internationalen schwulen Metropolen wachsenden Chemsex-Subkultur führten, erklärt David Stewart. Er unterstützt in seinen Beratungen schwule Männer dabei, aus diesem „teuflischen Kreislauf aus Sex, Sucht und Abhängigkeit“ herauszufinden.
„Chemsex“ kann das Phänomen nicht abschließend erklären, diese Dokumentation hilft aber definitiv dabei, es besser zu verstehen – nicht mehr und nicht weniger. Chemsex, sagt Ko-Regisseur William Fairman, sei ein kontroverses Thema und zugleich ein großes Tabu innerhalb der schwulen Szene. „Wir wollten mit diesem Film eine längst überfällige Debatte anstoßen und hoffen, dass nun endlich offen darüber gesprochen wird.“
Von Axel Schock
„Chemsex“. Regie William Fairman, Max Gogarty. Großbritannien 2015, 83 min., OmU. (Pro-fun; erhältlich als DVD, Video on Demand und Download)