Der junge Chef

Dr. Etienne sieht lustig aus. Besonders im OP. Der noch sehr jugendlich wirkende Facharzt Anfang 30, groß und schlank, mit leichten Segelohren, erinnert mich mit der türkisen OP-Haube, die er obendrein ziemlich zipfelig aufgesetzt hat, unweigerlich an einen Schlumpf. Dazu kommt, dass er vor Energie nur so sprüht. Die kleinen Wortfetzen, die noch aus seinem Deutschunterricht übrig geblieben sind, kommen in einwandfreier Aussprache daher; nur Witze machen kann er dann doch nicht auf deutsch, die sind auf französisch.

Beste Unterhaltung in der Morgenbesprechung

Morgens in der Besprechung sitzt er stets etwas unruhig auf seinem Stuhl. Ein Zappelphilipp. Ich male mir aus, wie der junge Doktor vor 15 Jahren wohl als Schüler war:  ein chronisch unterforderter schneller Denker, der während des Unterrichts deutlich mehr Ideen im Kopf hatte als die des Lehrplans und seinen Lehrern ganz schön viel Energie abverlangt hat; dem andererseits aber schnell vergeben wurde, denn seine Leistungen waren einwandfrei. Oder zumindest hat er das wichtigste auch ohne besondere Mühe erfasst. So oder so ähnlich war es bestimmt, darauf könnte ich wetten. Heute unterhält er die ganze Runde aus Ärzten und Krankenschwestern, indem er – sobald der Name einer Person oder einer Abteilung fällt, die in Bezug auf die weitere Therapie dieses oder jenes Patienten noch zu kontaktieren ist – unmittelbar die Telefonnummern der jeweiligen Ansprechpartner in den Raum ruft. Die Psychologen? 57874. Radiotherapie? 55550. Der Kollege aus der Endokrinologie? 52734. Alle sind amüsiert und haben Respekt vor dem mit einem beeindruckenden Gedächtnis gesegneten jungen Kollegen.

Konzentration im OP

Im OP dagegen arbeitet Dr. Etienne so konzentriert und genau, wie kaum ein anderer der Oberärzte. Vermutlich hat das etwas damit zu tun, dass er seine Facharztprüfung erst vor einem halben Jahr abgelegt hat und daher noch nicht so routiniert ist wie die anderen. Oder aber es ist einfach Teil seines Charakters, sehr sorgfältig und gründlich vorzugehen. Ich bin überrascht davon, was für eine Ruhe er plötzlich ausstrahlt; vielleicht gelingt es ihm, seine ganze ihm zur Verfügung stehende Energie im OP auf seine Arbeit zu kanalisieren. Seine Hände arbeiten ruhig und konzentriert. Nur relativ viel reden tut er nach wie vor. Ein bisschen mit seinen Assistenten, ein bisschen mit sich selbst. ‚Deine Aufgabe ist es, zu überwachen, ob ich auch alles richtig mache, ok?‘, weist er mich an. ‚Wenn du unzufrieden bist mit etwas, dann sagst du Bescheid. Und wenn ich etwas gut gemacht habe, dann werde ich auch gern gelobt, ok?‘, die Assistenten lachen. Und ich grinse etwas verlegen.

Als während der OP sein privates Telefon klingelt, das Etienne wie alle anderen in einer Schublade verstaut hat, bittet er seine OP-Assistentin Beatriz nachzusehen, wer da stört. ‚Maman‘, antwortet die kurzerhand. ‚Oh, könnten Sie da bitte rangehen? Das ist nicht normal, dass sie mich um diese Zeit anruft, die weiß ja, dass ich im Krankenhaus bin.‘ Etwas unsicher spricht Beatriz also mit Etiennes Maman. Zum Glück nichts ernstes. ‚Sagen Sie ihr, dass ich mich nachher bei ihr melde!‘, beendet Etienne die Angelegenheit kurzerhand und wendet seine volle Aufmerksamkeit wieder seinem Patienten zu.

In der Uniklinik sind Ärzte gleichzeitig Mentoren für uns Studenten

Auch am nächsten Morgen geht es kurz um seine Mutter. Und zwar als Etienne einem meiner Kommilitonen ein deutliches Zeichen gibt, dass eine kurze Hose unter dem Arztkittel ein absolutes ‚No-Go‘ ist: ‚Überleg‘ dir einfach, was deine Maman dazu sagen würde, wenn sie von einem Mediziner mit nackten Beinen behandelt würde. Ich weiß, was meine sagen würde. Obwohl nein, sie würde nichts sagen. Meine Maman würde das ganze umkommentiert lassen, aber sie würde sich ihren Teil denken.‘ Patrick nickt etwas verschämt, ’nicht seriös genug? Ok. Kommt nicht wieder vor.‘ Irgendwie hat er Glück, dass der Kommentar nicht von einem der älteren Chefs kam. Denn Etienne ist zwar nicht minder ernst zu nehmen und genau wie die anderen einer unserer Chefs, aber dadurch, dass er uns nicht schon mehrere Jahrzehnte voraus ist, sondern vermutlich noch nicht einmal eins, ist das Verhältnis etwas lockerer. Seine Art, uns anzulernen, ist entspannter als die der anderen Ärzte: Der alten Hasen 45+ und der beiden Frauen Anfang 30, die äußerst streng sind mit den Studenten. Weil sie überarbeitet sind oder weil sie zeigen wollen, dass sie ernst zu nehmen sind, ich weiß es nicht.

Wie gut, dass das Team so bunt durchmischt ist. Und dass es zwischendurch etwas zu lachen gibt!

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