Die HIV-Therapie führt heute zu einer fast normalen Lebenserwartung – Alterserscheinungen inklusive. Der Berliner Arzt Axel Baumgarten über neue Herausforderungen und Nebenwirkungen
Herr Dr. Baumgarten, 20 Jahre nach Einführung der Kombitherapie gibt es keine noch immer keine Heilung, aber man kann den Eindruck bekommen, eine HIV-Therapie sei heute einfach und unproblematisch. Können Sie das bestätigen?
Die Kombitherapie selbst verläuft tatsächlich meist unproblematisch. Die verlängerte Lebenserwartung führt aber natürlich dazu, dass Menschen mit HIV älter werden wie andere Menschen auch – und das bringt neue Herausforderungen und Krankheitsbilder mit sich. Da ergeht es unseren Patienten heutzutage genauso wie dem Rest der Bevölkerung.
Die Aidshilfen erreichen allerdings immer wieder Anfragen von Menschen, die Probleme mit Nebenwirkungen haben. Sollten die den Arzt wechseln?
Vor allem ist es wichtig, die schlechte Verträglichkeit beim Arztbesuch zu thematisieren. Das passiert leider oft nicht. Arzt und Patient brauchen dann den Mut zum Wechseln der Medikamente. Die Zeiten, wo man „Never change a running system“ geraten hat, sind lange vorbei. Es braucht offenbar Zeit, bis sich das in den Köpfen durchsetzt. Wenn dauerhaft Probleme mit Nebenwirkungen bestehen, kann es ein guter Schritt sein, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen.
„Nebenwirkungen sollte man beim Arztgespräch thematisieren.“
Welche altersabhängigen Erkrankungen erleben Sie in Ihrer Praxis bei Menschen mit HIV?
Bei männlichen HIV-Patienten über 50, die überdurchschnittlich viel rauchen, gibt es vermehrt Herz- und Gefäßprobleme, zum Beispiel Herzinfarkte. Wir sehen mehr Tumore, zum Beispiel Lungenkrebs und Prostatakrebs, aber auch mehr Diabetes und Stoffwechselerkrankungen. Da kann man dann immer trefflich diskutieren, ob das mit HIV oder eher mit dem steigenden Lebensalter, dem Lebenswandel oder der Therapie zu tun hat. Denn das sind Erkrankungen, die in dem Alter auch ohne HIV-Infektion auftreten können.
Kann man das denn überhaupt sauber trennen?
Nein, im Einzelfall lässt sich das nicht unbedingt klären. Man muss sich individuelle Risikoprofile anschauen. Wir kennen ja die Nebenwirkungen der verschiedenen Medikamente recht genau, ebenso die Auswirkungen bestimmter Krankheitsbilder im Alltag. Wir versuchen dann herauszufinden, wie groß der Einfluss auf bestimmte Beschwerden jeweils ist.
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Nehmen wir den Herzinfarkt. Sie können anhand verschiedener Einflüsse das individuelle Risiko berechnen. Da fließt zum Beispiel der Cholesterinwert mit ein. Wenn Sie nun eine klassische HIV-Therapie mit Protease-Hemmern haben, die das Cholesterin erhöhen können, dann nimmt das Einfluss auf das Herzinfarktrisiko. Aber natürlich müssen Sie auch andere Faktoren berücksichtigen: Diabetes, Nikotin und so weiter.
Von den schwulen HIV-Patienten rauchen sehr viel mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Richtig. Es ist eine Mixtur von verschiedenen Faktoren. Und es geht nicht mehr darum, den Anteil der HIV-Infektion alleine herauszurechnen, sondern um die Frage, an welchen Stellschrauben man das Risiko beeinflussen kann – wie bei anderen Patienten auch. HIV ist nur ein Faktor. Das ist eine Chance!
„HIV ist nur ein Faktor. Das ist eine Chance!“
Die zusätzlichen Faktoren werden also immer wichtiger, während die Bedeutung von HIV sich reduziert?
Absolut. Aber auch die Kombinationstherapie ist ein wichtiger Einflussfaktor. In den letzten Jahren haben wir mit der Einführung der so genannten Integrasehemmer noch einmal einen Meilenstein erlebt. Sie reduzieren nach heutigem Stand das Risiko von Folgeschäden wie Stoffwechselerkrankungen erheblich.
Warum haben eigentlich Menschen mit einer gut wirksamen HIV-Therapie überhaupt noch erhöhte Risiken für andere Erkrankungen?
Weil HIV weiterhin eine Belastung für den Organismus darstellt. Es bleibt ja eine gewisse Menge an Viren im Körper, auch wenn HIV mit den gängigen Methoden im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Das hat durchaus Folgen. Wir wissen heute, dass die Infektion zu einer chronischen Entzündungsreaktion im Körper führt, eine dauerhafte Aktivierung des Immunsystems – und das bedeutet Stress für den Organismus. Permanent sind Reparaturvorgänge in den Gefäßen und anderen Gewebebestandteilen erforderlich. Und auch das Nervensystem kann HIV trotz einer Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze im Blut weiter schädigen.
Wie wichtig ist es, dass die Infektion früh entdeckt und behandelt wird, so dass der Schaden, den HIV anrichtet, möglichst begrenzt werden kann?
Das ist sehr wichtig. Wie viel man vom Immunsystem durch eine frühe Therapie retten kann, ist zwar noch nicht ausreichend erforscht. Aus der kürzlich veröffentlichten START-Studie wissen wir aber, dass ein früher Beginn das Risiko schwerer Folgeerkrankungen verringern kann, die zum Krankheitsbild Aids gehören, und damit zu einer höheren Lebenserwartung führt. Hinzu kommt: Mittlerweile stehen viele Medikamente zur Verfügung, die lange Zeit gut wirken, leicht einzunehmen und gut verträglich sind. Früher war das alles nicht so einfach, heute spricht vieles für einen frühen Therapiebeginn.
Früher musste man oft auch eine Vielzahl von Pillen zu verschiedenen Tageszeiten schlucken und dabei auch noch Ernährungsvorschriften beachten. Heute reicht oft eine einzige Pille pro Tag. Trotzdem ist es gar nicht so leicht, regelmäßig Medikamente einzunehmen. Wie kommen HIV-Patienten heute damit zurecht?
„Ein früher Therapiebeginn führt zu einer höheren Lebenserwartung.“
HIV-positive Menschen hatten schon immer eine überaus hohe Einnahmedisziplin. Das Schwierige war nur immer, dass HIV so wenig Einnahmefehler vergibt. Jeder Kardiologe wäre stolz darauf, wenn seine Bluthochdruckpatienten an sieben von zehn Tagen ihren Betablocker einnehmen würden. Bei HIV war eine Quote von 70 bis 90 Prozent aufgrund der schnellen Resistenzentwicklung anfangs nahezu tödlich. Auch heute ist die Einnahmetreue noch sehr wichtig, trotz massiv verbesserter Medikamente. Der regelmäßige Arztbesuch alle drei Monate ist dabei hilfreich. Die meisten Patienten bekommen das gut hin und der Therapieerfolg ist dementsprechend gut. Dieser Erfolg – das zeigen auch Erfahrungen in anderen europäischen Ländern – ist keine Selbstverständlichkeit.
Herr Baumgarten, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Axel Baumgarten ist HIV-Schwerpunktarzt in Berlin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ).