Portugal: 15 Jahre humane Drogenpolitik

2001 wurde Drogenkonsum in Portugal entkriminalisiert. Statt auf Strafe setzt das Land auf Aufklärung und Unterstützung – mit Erfolg.

Der Beitrag von Ralf Streck erschien zuerst im Magazin Telepolis. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Am 1. Juli begeht Portugal den 15. Jahrestag, an dem das Gesetz 30/2000 in Kraft getreten ist. Der Konsum von Drogen wurde damals völlig entkriminalisiert, es wird auch nicht zwischen sogenannten „harten“ Drogen wie Heroin und „weichen“ Drogen wie Cannabis unterschieden. Der Besitz von Drogen zum Eigenverbrauch steht seitdem auch nicht mehr unter Strafe. Im Rückblick ist die Politik, die auf Prävention und Aufklärung setzt, sehr erfolgreich. Seit der Entkriminalisierung ist der Drogenkonsum stark gesunken – besonders bei jungen Menschen.

Keine der Befürchtungen wurde wahr

Portugal hat mit seinem mutigen Experiment gegenüber den Alarmisten im In- und Ausland Recht behalten, als es zu einem der liberalsten Länder in Sachen Drogenpolitik wurde. Kritiker befürchteten damals einen massiven Anstieg des Drogenkonsums sowie der Zahl von Drogentouristen, die das Land überschwemmen und es in ein Drogenparadies verwandeln würden. Davon kann in der Rückschau wahrlich keine Rede sein. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall.

Das kleine Land am westlichen Rand Europas war ein Pionier und hat auf einen anderen Weg gesetzt als auf den „Krieg gegen die Drogen“, der weltweit gescheitert ist. Portugal hat dagegen mit der Entkriminalisierung den Drogenkonsum zurückgedrängt und auch die Folgen für die Konsumenten und die Gesellschaft deutlich vermindert.

Anders als bisweilen fälschlich angenommen wird, sind Drogen in Portugal bis heute nicht legal. Das gilt nicht einmal für den Besitz kleiner Mengen. Doch der Besitz geringer Mengen zum Eigenverbrauch wird nicht mehr als eine Straftat angesehen. Es ist eine schlichte Ordnungswidrigkeit wie etwa Falschparken. Als begrenzter Konsum gelten zehn Tagesrationen. Die jeweilige Menge wurde im Gesetz genau festgelegt. Wer bis zu 25 Gramm Marihuana, bis zu zwei Gramm Kokain, bis zu einem Gramm Heroin oder Crystal, bis zu zehn LSD- und Ecstasy-Pillen besitzt, dem droht keine Strafe. Wer mit größeren Mengen erwischt wird, gilt als Dealer und wird nach dem Strafrecht entsprechend bestraft.

Statt einer Straftat nur noch eine Ordnungswidrigkeit

Allerdings lässt es die Polizei auch bei der Entdeckung kleiner Mengen nicht mit der Beschlagnahmung bewenden. Doch statt Strafe kommt ein zentraler Aspekt der neuen Drogenpolitik zur Anwendung. Wer mit Eigenverbrauchsmengen erwischt wird, muss wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung vor einer der „Comissões para a Dissuasão da Toxicodependência“ (CDT) antreten. Diese Ausschüsse zur Bekämpfung der Drogensucht werden von einem Juristen, einem Sozialarbeiter und einem Psychologen gebildet. Mit dem Konsumenten wird dann über dessen Suchtverhalten und die möglichen Folgen gesprochen.

Die CDT können, wenn jemand zum zweiten Mal vorstellig werden musste, auch Bußgelder verhängen oder die Betroffenen zu einer Sozialarbeit verpflichten. Sie können Platzverbote aussprechen, geben aber auch Unterstützung und bieten Therapien an. Nur etwa 1.500 Personen erscheinen derzeit pro Jahr in der Hauptstadt Lissabon vor einem CDT – eine niedrige Zahl. In mehr als zwei Drittel der Fälle geht es dabei um den sogenannten weichen Konsum von Cannabis.

Dreh- und Angelpunkt der Maßnahmen dieser liberalen Drogenpolitik ist nicht die Entkriminalisierung, die allein nicht zielführend wäre. Allerdings ist sie für João Goulão eine Voraussetzung für eine wirksame Politik: „Wer Drogen nimmt, ist nicht kriminell, sondern krank“, sagt der frühere Hausarzt aus Faro. Goulão hatte federführend am liberalen Gesetz mitgestrickt und ist seit 1997 Chef des nationalen Anti-Drogen-Programms (Sicad) in der Hauptstadt Lissabon. Schon 1987 spezialisierte sich der Arzt auf die Behandlung von Drogensüchtigen und arbeitet später in der Hauptstadt in einem Zentrum zur Behandlung und Reintegration von Abhängigen, bevor er zum Direktor der Sicad ernannt wurde.

Prävention und Hilfe

Er erklärt, dass die Entkriminalisierung vor allem den Zugang zu den Konsumenten deutlich erleichtert habe. Es sei viel einfacher geworden, weil deren Angst vor der Polizei weggefallen sei. „Heute kommen sie von alleine und haben auch keinerlei Probleme damit, ihre Namen anzugeben“, sagt Goulão. Das Drogenproblem wurde in Portugal nach der Nelkenrevolution 1974 sehr ernst. Vermutet wird, dass der Drang nach Freiheit nach der jahrzehntelangen Diktatur hierbei eine wichtige Rolle spielte. Plötzlich waren alle Drogen in großer Menge zu haben, die auch Portugal damals überschwemmten.

Eine Reaktion darauf gab es kaum, auch staatliche Programme zur Aufklärung und Prävention fehlten. Bald wurde das Problem von der Gesellschaft als Hauptproblem wahrgenommen. Da praktisch „jede Familie ein Mitglied oder einen Freund mit einem Suchtproblem“ hatte, war es ein zentrales Thema. Deshalb habe es bald eine breite Zustimmung für eine Entkriminalisierung gegeben, „die aus der Gesellschaft kam“, erklärt Goulão. Zwar war der Gesamtkonsum von Drogen auch damals in Europa unterdurchschnittlich, aber es waren vor allem „harte“ Drogen, die in Portugal konsumiert wurden.

So berichtet Carlos Poiares, der sich als Professor für Rechtspsychologie an der Universität in Lissabon seit Jahrzehnten mit den Ursachen für Drogenkonsum beschäftigt, es sei vor 15 Jahren „ganz normal“ gewesen, „Leute auf der Straße zu sehen, die sich Spritzen setzen“. Das hätte man auch in anderen Städten oder auf dem Land beobachten können. Und er berichtet auch, wie vor der Entkriminalisierung mit dem Problem umgegangen wurde: „Meistens kamen diese Leute ins Gefängnis.“

Dass man diese Bilder heute praktisch nicht mehr sieht und auch die Knäste nicht mit Drogenabhängigen überfüllt sind, dafür sind die staatlichen Programme seit 2001 verantwortlich, die mit der Entkriminalisierung einhergingen. Es wurden Aufklärungskampagnen in Schulen, Hochschulen und im Fernsehen gestartet, während Sozialarbeit in Problemvierteln verstärkt wurde. Therapieangebote wurden verbessert und Substitutionsprogramme für Abhängige eingeführt.

Drastischer Rückgang bei den Todesfällen und HIV-Infektionen

Der Effekt lässt sich auch leicht an Zahlen verdeutlichen. Ein Faktor ist, dass die Beschaffungskriminalität von Drogensüchtigen stark abgenommen hat. Dazu kommt, dass sich die Polizei bei der Drogenfahndung nun auf den organisierten Drogenhandel konzentrieren kann. Nach dem Europäischen Drogenbericht 2015 der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) wurden unter Berücksichtigung des Größenverhältnisses in Portugal mehr Heroin und Kokain als in Deutschland sichergestellt. Ganz besonders sticht dabei Kokain heraus: Das kleine Land zog mit 2,4 Tonnen sogar eine höhere Gesamtmenge als Deutschland aus dem Verkehr. Und das geschah in nur 792 Vorgängen. In Deutschland wurden nur 1,3 Tonnen in 2.622 Vorgängen sichergestellt. Es trifft also in Portugal stärker die großen Fische.

Etwa 100.000 Heroinabhängige soll es zum Höhepunkt der „Heroin-Pest“ im Land gegeben haben, sie machten etwa 1 % der gesamten Bevölkerung aus. Heute hat man ihre Zahl auf weniger als ein Drittel senken können. Und die Mehrheit dieser Abhängigen befindet sich in staatlichen Programmen. Auch die Zahl der Drogentoten ist seit 2001 in Portugal um mehr als 75 % gesunken. Das Land wies bis 1999 die höchste Zahl an drogenbedingten Aids-Todesfällen in der gesamten EU auf. Wurden 2007 noch etwa 20 Prozent der HIV-Neudiagnosen im Zusammenhang mit Drogen registriert, waren es 2014 nur noch 4 %.

Weniger Konsument_innen und Hepatitis C

Ähnlich sieht es bei anderen schweren, durch Spritzentausch übertragbaren Krankheiten wie Hepatitis aus, da saubere Spritzen verteilt werden und gebrauchte nicht wie früher mehrfach benutzt werden müssen. Im Europäischen Drogenbericht 2015 ist deshalb auch zu lesen, dass in Portugal, „wo in der Vergangenheit Phasen mit hohen Infektionsraten aufgetreten waren, die Tendenz bei gemeldeten Neudiagnosen weiterhin rückläufig“ ist.

Wie die „Transform Drug Policy Foundation“ aufzeigt, ist in Portugal auf allen Ebenen eine rückläufige Tendenz beim Drogenkonsum zu beobachten. Die Zahl der Menschen, die mindestens einmal in ihrem Leben, einmal innerhalb des letzten Jahres oder einmal innerhalb des letzten Monats Drogen konsumiert haben, ist deutlich zurückgegangen. In der Gruppe der 15–24-Jährigen, die beim Drogeneinstieg als besonders gefährdet gilt, ist die Zahl seit 2001 noch deutlicher gesunken. Der Anteil derer, die Drogen nehmen und sie dauernd konsumieren, ist seit 2001 von 45 % auf 28 % gesunken.

Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik

Auffällig war, dass mit der schweren Wirtschaftskrise im Land auch das Drogenproblem wieder stärker geworden ist: Die Zahl von rückfälligen Heroinsüchtigen hat sich zeitweise deutlich erhöht, und auch die Zahl der Drogentoten nahm ab 2007 wieder zu. Viele Rückfälle hätten ihre Wurzel in der andauernden Finanzmisere gehabt, meint der Sicad-Chef Goulão. Er geht aber auch davon aus, dass ein Teil des Anstiegs auf eine verbesserte statistische Erfassung zurückgeht. Letztlich sei die Drogensucht aber ein Ventil für das Leiden. Wer angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und massiven Schwierigkeiten im Land frustriert ist, sei anfällig, in alte Muster zurückzufallen. Der Anstieg hatte aber vermutlich auch damit zu tun, dass die von 2011 bis 2015 regierenden Konservativen mit ihrer Austeritätspolitik die Schere auch an Präventions- und Aufklärungsprogrammen angesetzt hatten.

Die Kritiker von einst sind inzwischen praktisch vollständig verstummt. Die Kritik kommt nun eher aus der anderen Richtung. Denn die Gesetzgebung hat sich in den vergangenen 15 Jahren nicht weiterentwickelt. Ein Grund dafür ist auch die Wirtschafts- und Finanzkrise, weshalb es zum Beispiel bis heute keine geschützten Räume für Konsumenten gibt und auch ein begleiteter Drogenkonsum nicht möglich ist. Hier würden sich neue Chancen zur Sucht- und Folgenbekämpfung auftun. Die Linksregierung, die unter den Sozialisten seit vergangenem Herbst wieder das Land anführt und der Austeritätspolitik der Vorgänger eine Absage erteilt hat, könnte nun nachsetzen. Sie könnte die Politik, die sie 2001 erfolgreich begonnen hat, auf eine neue Stufe heben.

Von Ralf Streck