Ein Sturm der Entrüstung hat sich gerade unter germanistischen Sprachwissenschaftlern erhoben. Was ist passiert? Anfang Juli war eine neue Ausgabe der Zeitschrift „Forschung & Lehre“ (F&L) erschienen, die vom Deutschen Hochschulverband (DHV) in einer Auflage von mehr als 30.000 Exemplaren herausgegeben wird. Der DHV ist der Berufsverband der deutschen Uni-Professorinnen und -Professoren. In den letzten Jahren hat er sich zunehmend auch anderen wissenschaftlichen Berufsgruppen gegenüber geöffnet, heute ist er bei weitem nicht mehr diese teilweise verschnarchte, gelegentlich ins Sektiererische abgleitende Standesorganisation, die sie noch war, als ich ihr selbst vor 20 Jahren aus völlig eigennützigen Motiven beigetreten bin. Einen ähnlichen Wandel hat auch die F&L vollzogen, die sich mittlerweile als ein recht gediegen aufgemachtes, seriöses und vor allem informatives Fachorgan zu allen möglichen Fragen von Wissenschaft, Forschung, Lehre, Politik und Recht präsentiert.
Beim Aufschlagen der Juli-Ausgabe von F&L fiel den knapp 30.000 Mitgliedern des DHV, die diese Zeitschrift automatisch erhalten, eine Werbebeilage des „Vereins Deutsche Sprache“ (VDS) in die Hände. Es handelte sich um die aktuelle Ausgabe der „VDS-Sprachnachrichten Nr. 70„, in der dieser Verein, 1997 ursprünglich als „Verein zur Wahrung der deutschen Sprache“ vom Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer gegründet, seit bald 15 Jahren seine Sicht auf die sprachliche Welt erklärt. Seine Identität bezieht der VDS durch die Kritik an der angeblichen Anglizismenflut im Deutschen, der er mit der Verleihung des „Sprachpanschers des Jahres“ Nachdruck verleiht. Dem Verein gelingt es immer wieder, große mediale Aufmerksamkeit zu erringen, und unter seinen 36.000 Mitgliedern gibt es eine ganze Reihe von Prominenten, die meinen, sich wegen des drohenden Untergangs der deutschen Sprache öffentlich bekennen zu müssen.
Das alles legitimiert natürlich noch lange nicht die Kritik der Sprachwissenschaftler. Schon nachdenklicher hätten die Herausgeber von „Forschung & Lehre“ allerdings werden können, wenn sie sich die Leserbriefe der beigelegten Ausgabe der „Sprachnachrichten“ (S. 24/25) zu den häufig hochpolitischen Artikeln früherer Ausgaben angesehen hätten. Da kritisieren die eigenen Mitglieder des Vereins die Verwendung von Wörtern wie „Wahrheitsverschleierungsrhetorik“, „Völkerwanderung“, „Genderwahn“, „Sprachimperialismus“ und „Lügenmedien“ in der vorletzten Ausgabe der Mitteilungsblatts und fordern, dass der VDS nicht „zu einer nationalkonservativen und AfD-nahen ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ […] mutieren“ darf. Deutschland brauche keinen „Verein, der im Kampf für die deutsche Sprache […] den Rechtspopulisten und Nationalisten […] in die Hände spielt.“ Ein anderer Leserbriefschreiber kritisiert die Verwendung des Begriffs „Obrigkeitsstaat“ und stellt fest: „[… R]aunend eine Verschwörungsvermutung anklingen zu lassen, stößt ins Horn eines populistischen Deutungsschemas, wie es die AfD gerade propagiert“. Eine Leserin beklagt im Zusammenhang mit einem früheren Artikel zur „Gendersprache“ das Fehlen eines „sachlichen Diskurses“, „in dem kompetente Fachleute, sowohl Frauen als auch Männer zu Wort kommen, in dem tatsächlich die linguistischen und sozialen Hintergründe beleuchtet werden.“ Weitere Leserbriefschreiber kritisieren einzelne Artikel als „allgemeine Angstmache vor TTIP“ oder als geschrieben in einem „[e]xtrem schlechte[n] manipulative[n] Stil“ in der „Rhetorik der Pegida“. Diese hier vereinsintern vorgebrachte Kritik an einem zunehmenden sprachlich befeuerten Nationalismus und einem Abdriften in rechte politische Positionen weist der Verein seit langem gegenüber externen Kritiken mit Vehemenz von sich. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der VDS ausgehend von relativ harmlosen, durchaus breite Zustimmung aufweisenden Positionen in ähnlicher Weise radikalisiert, wie es in den letzten Jahren auf der politischen Bühne die AfD vorgemacht hat.
Ein offener Brief
Der Grund allerdings, warum Thomas Niehr, Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der RWTH Aachen, einen offenen Brief verfasst hat, den neben 35 weiteren Linguistinnen und Linguisten auch ich selbst unterzeichnet habe, ist die Wissenschaftsfeindlichkeit, die dem gesamten Verein zugrunde liegt und auch die „Sprachnachrichten Nr. 70“ durchzieht. An verschiedenen Stellen wird beklagt, dass die Linguistik nicht normativ und sprachplanerisch arbeiten würde. So heißt es etwa in den „Acht Thesen zum Stand der deutschen Sprache“ (S. 5) in These 6, dass „[e]mpirische und deskriptive Objektivität […] nicht als Ausrede für szientifischen oder sprachpolitischen Nihilismus dienen [dürfen]. Die deutsche Sprache ist nicht nur Gegenstand der germanistischen Linguistik, sondern muss auch Gegenstand ihrer sprachpolitischen Sorge und ihres kulturpolitischen Interesses sein.“ Anders formuliert besagt dieser Passus, dass ein empirisch arbeitender Wissenschaftler grundsätzlich dem „szientifischen oder sprachpolitischen“ Nihilismus anheim gefallen ist, wenn er sich nicht aktiv sprachpflegerisch betätigt. Kommt Ihnen diese Argumentationsfigur – reine Wissenschaft = schlecht, politisch bewusste Wissenschaft (einer bestimmten Couleur) = gut – nicht auch irgendwie bekannt vor?
Den antiwissenschaftlichen Vogel schießt allerdings der bekannte Publizist Wolf Schneider in seinem Beitrag auf Seite 15 ab. Er knöpft sich in seiner Kolumne „Schneiders Ecke“ in dieser Ausgabe der „Sprachnachrichten“ den Grammatik-Duden vor, der seit Jahrzehnten von renommierten germanistischen Linguisten in immer neuen, an den aktuellen Forschungsstand angepassten Auflagen verfasst wird. Er regt sich darüber auf, dass in diesem Duden für einen Satz, der mit „der die das“ beginnt, eine grammatisch korrekte Deutung angegeben wird, womit der Grammatik von den „hochnäsigen Verfassern“ ein „Hochaltar“ errichtet werde, anstatt diesen Satz einfach als sprachlichen Sondermüll zu klassifizieren und so umzuformulieren, wie es Wolf Schneider auf der Henri-Nannen-Schule seinen journalistischen Adepten beigebogen hätte. Der „Urzweck der Sprache“ werde dadurch „auf den Müll geworfen: die Kommunikation.“ Schuld daran ist die akademische Linguistik, die nicht präskriptiv sein will, sondern deskriptiv. In Schneiders Kolumne ist soviel Unfug versammelt, dass man gar nicht hinterherkommt, diesen ganzen Unrat wegzuräumen. Festhalten will ich vor allem, dass diese Kolumne nur so vor Wissenschaftsfeindlichkeit trieft – was sich leider auch in der Logik Schneiders eigener Argumentation bemerkbar macht.
Der VDS hält offenbar große Stücke darauf, seine wissenschaftlich kaum haltbaren Positionen durch namhafte Mitglieder und einen „wissenschaftlichen Beirat“ mit Geltungsanspruch aufzuladen. Dieser wissenschaftliche Beirat entpuppt sich bei näherem Hinsehen allerdings als eine Gruppe von Honoratioren, von deren zwölf Mitgliedern kein einziges im Kernbereich des Vereinsinteresses, nämlich Grammatik, Lexik und Soziolinguistik der deutschen Sprache, schwerpunktmäßig ausgewiesen ist. Die Berücksichtigung aktueller sprachwissenschaftlicher Expertise würde dem Verein jedoch wirklich gut tun, denn vor diesem Hintergrund ließen sich viele seiner Positionen kaum noch ernsthaft vertreten. Ein positives Beispiel findet sich in den Sprachnachrichten insofern, als mit der Übernahme eines FAZ-Artikel von Peter Eisenberg tatsächlich ein renommierter Grammatiker der deutschen Sprache zu Wort kommt – allerdings zu einem wiederum sprachpuristisch angehauchten und gegen die political correctness gerichteten Thema.
Fassen wir zusammen: Der DHV legt seiner Verbandszeitschrift das Mitteilungsblatt eines Vereins bei – schon das ist kurios -, der nach Auffassung mancher seiner eigenen Mitglieder derzeit in eine zu große Radikalität seiner Auffassungen abzudriften droht und durchgängig eine sprachwissenschaftsfeindliche Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Von so einem Verein etwas in der DHV-Zeitschrift beigelegt zu bekommen läuft ungefähr auf das gleiche heraus, wie wenn die Zeitschrift „Das Parlament“ einer ihrer Ausgaben einen Pegida-Flyer beifügen würde oder der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger seinem Mitgliederblatt eine Info-Broschüre der AfD.
Die Antwort des DHV
Wie regiert nun der Deutsche Hochschulverband auf unseren offenen Brief? Eine Antwort kam in Gestalt eines Schreibens, nicht vom Vorsitzenden des DHV und Herausgeber der F&L, sondern vom Geschäftsführer des Verbandes, Herrn Dr. Hartmer. Dass Dumme ist nun, dass der Geschäftsführer des DHV diese komplexen Zusammenhänge nicht kennt, nicht begreift oder selbst nicht recherchieren wollte – stattdessen geht er geradewegs zum Gegenangriff über. Er empfinde es als bedenklich, dass wir eine andere, nicht-wissenschaftliche Meinung nicht ertragen könnten, niemand sei doch im alleinigen Besitz der Wahrheit. Bevor ich bei der Lektüre ernsthaft darüber nachdenken konnte, ob sich das gleiche wohl Evolutionsbiologen anhören müssen, die zur Toleranz gegenüber dem Kreationismus aufgefordert werden, kommt Hartmers nächste Volte: Es ginge ja schließlich auch und vor allem um die Einnahmen aus dem Anzeigengeschäft. Obwohl ich die Sprache des Geld auch verstehe, erschloss sich mir nicht, wie eine Zeitschrift mit wissenschaftlichem Ethos meint, die gerade zuvor angemahnte sachliche Auseinandersetzung zu wissenschaftlichen Positionen über eine Anzeigenbeilage bewerkstelligen zu können. Dann eine erneute Pirouette: Man werde sich in Zukunft dreimal überlegen, ob man ein weiteres Mal diesen Anzeigenauftrag annehmen würde, wehre sich aber zugleich dagegen, zukünftig jede Anzeige wegen möglichen Widerstandes oder „negativer Befindlichkeiten“ ablehnen zu müssen. Aus diesen Gründen und weil die Zeitschrift F&L nicht sich selbst kritisieren will, komme auch der Abdruck des offenen Briefs nicht in Betracht.
Postskriptum
Der Initiator des offenen Briefs, Thomas Niehr, bekräftigt in einem kurzen Anwortschreiben auf Michael Hartmers Schreiben nochmals die Position der Verfasser: „Dass die Postille des VDS aber ausgerechnet mit F&L verteilt wird, erscheint mir – entschuldigen Sie bitte den Vergleich -, als ob mit der Kirchenzeitung die Werbung eines Sexshops verteilt würde. […] Zahlreiche Vertreter des VdS polemisieren ständig gegen die akademische Sprachwissenschaft und werten deren Vertreter auch in öffentlichen Veranstaltungen ab. Dies (und noch einiges mehr) spiegelt sich auch ständig in den ‚Sprachnachrichten‘ deutlich wieder. Vor diesem Hintergrund scheint es mir tatsächlich ein Affront gegen zahlreiche Mitglieder des DHV zu sein, die ‚Sprachnachrichten‘ als Beilage von F&L zu verteilen.“
Damit hätte die Angelegenheit beendet sein können, Thomas Niehrs Mail endet danach versöhnlich. Hätte – wenn DHV-Geschäftsführer Hartmer in einer zweiten Mail an die Verfasser des offenen Briefs nicht mit Schwung erneut an der gleichen Kerbe hätte vorbeihauen wollen. Er schreibt: „Meiner Meinung hat der Vorgang schon etwas mit Political Correctness zu tun. Wikipedia definiert ‚political correct‘ als die Zustimmung zur Idee, dass Ausdrücke und Handlungen vermieden werden sollten, die Gruppen von Menschen kränken oder beleidigen können. Ich interpretiere den Offenen Brief mit 36 Unterzeichnern als Kundgabe, dass die Unterzeichner sich durch die Beifügung einer Beilage des VDS gekränkt fühlen und vom DHV und von ‚Forschung & Lehre‘ zumindest einfordern, diese Kränkung zukünftig zu unterlassen. Damit fordern die Unterzeichner aus meiner Sicht beim DHV Political Correctness ein. Damit kein Missverständnis entsteht: Selbstverständlich ist das legitim. Aber dass der Vorgang nun gar nichts mit Political Correctness zu tun haben soll, vermag ich nicht zu erkennen.“
Zeichnet sich hier eine neue Strategie im Umgang mit wissenschaftlichen Konflikten ab? Dass man deren Vertretern „Befindlichkeiten“ und einen Hang zur Political Correctness zuspricht? Dass eine solche Argumentation im Zusammenhang mit einem Verein, der offensichtlich eine erhebliche populistische Anfälligkeit aufweist, ausgerechnet vom Deutschen Hochschulverband unter Verweis auf einen Wikipedia-Artikel geltend gemacht wird, lässt uns alle verblüfft und irritiert zurück…